Einleitung
Soziale Bewegungen und Israelkritik
Mit ihrer Reaktion auf das Massaker der Hamas an israelischen Z ivilisten hat Greta Thunberg manche Beobachterinnen in Deutschland erschreckt und überrascht. Vom „Fall der Klima-Ikone“ war die Rede. Tatsächlich sind die Äußerungen Thunbergs und vieler ihrer Mitstreitenden in der globalen Klimaschutz-Bewegung erschreckend – überraschend sind sie nicht. Bereits seit Jahren positionieren sich Vorkämpfer gegen den Klimawandel auch auf Seiten pro-palästinensischer Aktivisten. Sie stehen damit in einer langen Reihe progressiver, linker, aktivistischer und anderer Bewegungen, die propalästinensische, israelkritische[1] und antisemitische Positionen und Narrative in ihren Kampf für eine tatsächlich oder vermeintlich bessere Welt integrieren. Anti-Rassismus-Gruppen, Aktivismen aus dem Spektrum des Queerfeminismus, postkoloniale Theoretikerinnen, identitäre Verschwörungsdenker und Islamistinnen verfolgen sehr unterschiedliche und zum Teil diametral entgegengesetzt Ziele. Viele von ihnen eint aber die Kritik an Israel und manche der Hass auf Juden.
Antisemitismus wandelt seine Erscheinungsform
Für den weltweiten Kampf gegen den Antisemitismus ist dies eine enorme Herausforderung. Im Fahrwasser postmoderner Theorieansätze, Argumentationsketten und Aktivismusformen dringen antisemitische Erzählungen und Mythen in scheinbar unverdächtige gesellschaftliche und politische Kontexte ein. Oft geschieht das unbemerkt und unreflektiert. Der Antisemitismus bleibt zwar im Kern die als Hass ausgedrückte Wahrnehmung von Jüdinnen, er wandelt aber seine Erscheinungsform und seinen Erscheinungskontext. Die über Jahrzehnte in Deutschland etablierten und vielfach bewährten Instrumente zur Bekämpfung des Antisemitismus – wie etwa Zeitzeugengespräche, Gedenkstättenfahrten oder Erinnerungsarbeit – müssen daher um weitere Methoden und Instrumente ergänzt werden. Der vorliegende Text bietet eine Einordnung antisemitischer Formen und Denkansätze im Kontext postmoderner Formen von Theoriebildung und Aktivismus, zeigt die einzelnen antisemitischen Brückennarrative dieser Aktivismen auf und formuliert Überlegungen zum Umgang mit diesen neuen Antisemitismus-Formen und -Kontexten.
Der Antisemitismus als Strukturphänomen postmoderner Bewegungen
Die Idee der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit
Nachdem der Antisemitismus über Jahrzehnte primär als rechtes bzw. rechtsradikales Phänomen verortet wurde, beschäftigt sich die Antisemitismusforschung bereits seit einigen Dekaden mit dem Zusammenhang von (linker) Weltanschauung und Judenhass [2]. In den Blick geraten sind hierbei vor allem Ansätze, die sich seit Beginn der 1960er Jahre gegen Universalismus, Fortschrittsglauben und objektives Wissen wenden und hier unter dem verkürzenden Sammelbegriff „Postmoderne“ subsumiert werden. Kennzeichen dieser vor allem von den französischen Poststrukturalisten (Michel Foucault, Jacques Derrida, Roland Barthes, Jean-Francois Lyotard und andere) vorbereitete Postmoderne sind vor allem die Idee der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit durch Sprache, die Relativierung von Werten und Moral und die Ablehnung der Vorstellung des Universalen [3]. Der die Postmoderne ausmachende radikale Skeptizismus gegenüber der Möglichkeit objektiver Wissensproduktion ist spätestens seit den 1990er Jahren zur intellektuellen Grundlage vieler aktueller Wissenschaftsdisziplinen und Aktivismen geworden.
Weder postmoderne Theorien noch die aus ihnen hervorgegangenen sozialen Bewegungen sind per se antisemitisch. Aber viele ihrer Grundannahmen begünstigen israelkritische und judenfeindliche Narrative und ermöglichen argumentative Querverbindungen zu anderen, weitaus radikaleren und eindeutiger antisemitischen Akteuren und Bewegungen. Zu den Grundannahmen postmoderner Aktivismusformen gehören unter anderem die Fokussierung auf Gruppen, von denen angenommen wird, dass sie „strukturell“ benachteiligt sind, die generelle Kritik an „den Mächtigen“ und die Infragestellung etablierter Strukturen – verbunden mit einem Wahrheitsanspruch und der Vermengung von Wissenschaft, Aktivismus und Widerstand. Dieser Zusammenhang kann anhand zweier Beispiele verdeutlicht werden.
Westlich-imperiale Wahrnehmungen des Orients?
Der Mitbegründer der postkolonialen Theorie, der palästinensischstämmige Literaturtheoretiker Edward Said, bezog sich in seinem erstmals 1978 erschienen Standardwerk Orientalism stark auf Michel Foucaults Annahme, dass narrative Praktiken Wirklichkeit prägen [4]. Dementsprechend ist für Said auch der wissenschaftlichanalytische Blick auf den Nahen Osten (und damit auf Israel und Palästina) von westlich-imperialen Wahrnehmungen und Konstruktionen geprägt. Dieser Blick, so Said, müsse revidiert werden. In der Konsequenz war Said bemüht, den Zionismus als „weltliche“ Idee und „übermächtiges, westliches Narrativ“ eines imperialen beziehungsweise kolonialen Westens zu dekonstruieren. Den 1993 begonnenen Oslo-Friedensprozess lehnte er dementsprechend als Niederlage der Palästinenser ab.
Das Narrativ von Israel als „weißer Kolonialstaat“
Als zweites Beispiel sei auf die Mitbegründerin der Queer-Theorie, die jüdischstämmige Philosophin Judith Butler, verwiesen. Wie Said geht Butler in ihren Arbeiten seit den frühen 1990er Jahren davon aus, dass bisherige Geschlechtervorstellungen performative Inszenierungen seien, die auf sozialen Kontextualisierungen und Machtstrukturen beruhten und daher überwunden werden könnten. Westliche Kritik an tatsächlich oder vermeintlich islamischen (oder nahöstlichen)Praktiken und Etiketten – wie dem Kopftuch – lehnt sie daher ab . In diesem Weltbild kann auch der Staat Israel als Ausdruck (westlicher) Kontextualisierungen und Machtstrukturen begriffen werden. Mit ihrem „antikolonialen Kampf“, der unter anderem eine Unterstützung der israelfeindlichen und in weiten Teilen antisemitischen BDS-Kampagne (BDS steht für boycott, disinvestment und sanctions) einschließt, hat sich Butler als Galionsfigur eines postkolonialen intellektuellen Milieus etabliert, das den antikolonialistischen Israel-Diskurs weltweit vorantreibt [5].
Die akademische und aktivistische Verbreitung antisemitischer Narrative
Die beiden Beispiele verdeutlichen die Bedeutung postmoderner Ansätze bei der Begründung und Verbreitung aktueller israelkritischer und damit antisemitischer Erzählungen. Auch in der Klimabewegung, bei Queer-Feministen und der linken internationale, in vielen antirassitischen und antifaschistischen Bewegungen ist die Vorstellung von Israel als kolonialem Aggressor gegen die „indigenen“ und „nicht-weißen“ Palästinenserinnen weit verbreitet und wird kaum noch kritisch hinterfragt [6] Mit dem aktivistischen Anspruch der postkolonialen Theorie ging deren weite Verbreitung in Geisteswissenschaften und Nichtregierungsorganisationen einher. Postnationale, postmigrantische, postkapitalistische und andere „Post“-Wissenschaften und „Post“- Aktivismusformen tragen diese Ideen weiter und verbreiten antisemitische Narrative aktiv oder unbewusst in Universitäten, Behörden, Kulturinstitutionen und emanzipatorischen Subkulturen [7].
Lesen Sie den gesamten Text: „Antisemitische Allianzen“ hier als PDF.