Der Marshallplan und die atlantische Gemeinschaft: Blaupause für den Wiederaufbau in der Ukraine?
Über die historische Bedeutung und die aktuelle Relevanz des Marshallplans spricht Prof. Dr. Jessica Gienow-Hecht im Video. Vor dem Hintergrund der massiven Zerstörungen durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine erläutert die Professorin für Geschichte am John F. Kennedy Institut der FU Berlin und Project Investigator des Exzellenzclusters „Herausforderungen des liberalen Skriptes“ zudem die Frage, ob ein „Marshallplan“ für die Ukraine beim Wiederaufbau helfen könnte – und welche Voraussetzungen es dafür bräuchte.
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Der Namensgeber
Der bald allgemein gebräuchliche Name des Programms geht auf den früheren General George C. Marshall (1880–1959) zurück. Als Stabschef der US-Armee hatte er während des Zweiten Weltkrieges die alliierten Aktionen in Europa und im pazifischen Raum koordiniert. Winston Churchill bezeichnete ihn deshalb als den „Organisator des alliierten Sieges“. Von 1947 bis 1949 amtierte Marshall als Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika und verkündete als solcher am 5. Juni 1947 in einer Rede vor Absolventen der Universität Harvard erstmals öffentlich die Absicht der US-Regierung, den europäischen Staaten massive wirtschaftliche Hilfe zum Wiederaufbau zukommen zu lassen. Für seine Verdienste um Verständigung und den Wiederaufbau nach 1945 erhielt er 1953 den Friedensnobelpreis und wurde 1959 mit dem Karlspreis der Stadt Aachen geehrt.
Motive
Dem Marshall-Plan lagen mehrere Motive zugrunde. So hatte der harte Winter 1946/47 die Versorgungslage in Europa drastisch verschlechtert. Die Europäer waren infolge der Kriegszerstörungen nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse aus eigener Kraft zu decken. Besonders im besetzten Deutschland war, ebenso wie in Österreich, die Versorgungslage katastrophal. Hohe Kosten für die britische und amerikanische Besatzungsmacht waren die Folge. Neben dem Ziel der Linderung der humanitären Not lag es daher auch im Eigeninteresse der Sieger, die europäische Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Vor allem die USA waren an zuverlässigen Handelspartnern und dem Aufbau eines aufnahmefähigen und nachfragestarken europäischen Marktes interessiert, um den eigenen Übergang zu einer Friedenwirtschaft zu erleichtern. Ein weiteres Motiv war der eskalierende Ost-West-Konflikt: Eine rasche wirtschaftliche Erholung sollte die politischen Verhältnisse in Westeuropa stabilisieren und so zur Eindämmung des Kommunismus beitragen. Am 12. März 1947 erklärte der amerikanische Präsident Harry S. Truman, es müsse von nun an „die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen“. Konkret ging es darum, das weitere Erstarken des Kommunismus in Italien und Frankreich, aber auch in Griechenland und der Türkei zu verhindern. Diese „Truman-Doktrin“ stand am Anfang der sog. „Eindämmungspolitik“ (containment policy) der Vereinigten Staaten gegenüber den expansionistischen Bestrebungen der UdSSR. Auch die Förderung des wirtschaftlichen Aufbaus nach demokratisch-liberalen Prinzipien war insofern Teil einer ideologischen Offensive am Beginn des Kalten Krieges.
In Trumans eigenen Worten waren Truman-Doktrin und Marshall-Plan „zwei Hälften derselben Walnuss“. Letztlich stellte sich die Motivlage der USA „als eine Mischung aus strategischen, utilitaristischen und humanitären Aspekten“ (Paul Thomas/Rebecca Belvederesi-Kochs) dar.
Vorgeschichte und Entstehung
Zum Zeitpunkt der Rede in Harvard am 5. Juni 1947 hatte es bereits eine Reihe von Vorarbeiten gegeben, auf die Marshall zurückgreifen konnte. Seit Ende April wurde im US-Außenministerium an der Konzeption eines Hilfsprogramms für die europäischen Staaten gearbeitet. Federführend war der Leiter des Planungsstabs, George F. Kennan, der schon bei der Formulierung der Eindämmungspolitik eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Ebenfalls an der Vorbereitung des Plans beteiligt war der Unter-Staatssekretär für wirtschaftliche Angelegenheiten, William Clayton. Beide präferierten eine gesamteuropäische Vorgehensweise unter Einbeziehung Deutschlands und Österreichs, die dem Prinzip folgte, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Sie waren der Auffassung, dass ein Ausschluss Deutschlands der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Europas erheblich schaden würde. Angesichts des gravierenden Energiemangels war man für den Wiederaufbau beispielsweise dringend auf die Ressourcen der deutschen Kohlenbergwerke angewiesen.
Als Marshall seine Rede hielt, standen die konkreten Bedingungen der Wirtschaftshilfe noch nicht fest. Dies galt sowohl für den finanziellen Umfang wie für die Bereiche, die einbezogen werden sollten. Er betonte vor allem, dass eigenes Engagement und eine enge Kooperationsbereitschaft der Europäer erwartet würden und dass es in erster Linie um Hilfe zur Selbsthilfe gehe. Der amerikanische Außenminister forderte die europäischen Staaten auf, selbst die Initiative für ein Programm zur wirtschaftlichen Wiederaufrichtung Europas zu ergreifen. Die Rolle der USA solle „in freundschaftlicher Hilfe bei dem Aufstellen eines europäischen Programms und in der späteren Unterstützung eines solchen bestehen, sofern es uns ausführbar zu sein scheint“. Angesichts der „Desorganisation des ganzen Gefüges der europäischen Wirtschaft“ als Folge des Zweiten Weltkrieges sei „Europas Bedarf an ausländischen Nahrungsmitteln und sonstigen lebenswichtigen Gütern – hauptsächlich aus Amerika – so viel größer als seine gegenwärtige Zahlungsfähigkeit“, dass es entweder wesentliche zusätzliche Hilfe benötige oder aber sich einem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Niedergang sehr ernsten Charakters gegenübersehen werde. Diesen „bösartigen Kreislauf“ gelte es zu durchbrechen. Dazu müssten „die europäischen Länder in Bezug auf die Erfordernisse der Lage und des Anteils, den sie selbst übernehmen werden, zu einer Verständigung kommen (...), um jede etwa von der Regierung der Vereinigten Staaten unternommene Aktion mit dem nötigen Nachdruck durchzuführen“.
Stationen der Umsetzung
Bereits am 12. Juli 1947 trafen sich in Paris 16 europäische Staaten, um einen gemeinsamen Aufbauplan für Europa zu entwickeln – ein deutliches Zeichen dafür, wie dringend die Europäer auf amerikanische Hilfe angewiesen waren. Auch die osteuropäischen Staaten waren eingeladen, nahmen aber unter dem Druck der Sowjetunion nicht teil. Es ist allerdings fraglich, ob die USA mit der Beteiligung von Staaten aus dem sowjetischen Machtbereich als realistische Möglichkeit gerechnet hatten. Auch die westlichen deutschen Besatzungszonen waren in Paris noch nicht vertreten, bildeten aber ein zentrales Thema der Diskussionen. Parallel zu den Überlegungen der Europäer entwickelte eine Gruppe im State Department bis Ende August 1947 Grundzüge des European Recovery Program (ERP).
Am 22. September 1947 unterzeichneten 15 Staaten (Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, die Türkei) sowie die westlichen Besatzungszonen Deutschlands den Marshall-Plan-Vertrag. Ende 1947 übermittelte Präsident Truman einen Programmentwurf an den amerikanischen Kongress, der nach langwierigen Verhandlungen schließlich Mittel im Umfang von 12,4 Milliarden Dollar genehmigte. Am 3. April 1948 unterzeichnete Truman den "Economic Cooperation Act of 1948". Die Durchführung des ERP übernahm auf amerikanischer Seite die Economic Cooperation Administration, auf europäischer Seite lag die Koordination bei der auch als „Marshallplan-Organisation“ bezeichneten Organization for European Economic Cooperation (OEEC). Aus ihr ging 1961 die bis heute bestehende Organization for Economic Cooperation and Development (OECD) hervor. Aufgabe der in Paris angesiedelten OEEC ist es, die Verteilung der Mittel zu diskutieren, die Wirtschaftspolitik der beteiligten Länder zu koordinieren und die ökonomische Integration in Europa zu fördern. Insofern stellte der Marshallplan auch ein Element des europäischen Integrationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde ein Bundesministerium für den Marshall-Plan unter Leitung des FDP-Politikers Franz Blücher gegründet.
Umfang und Verteilung der Hilfen
Zwischen April 1948 und dem Auslaufen des Programms Ende 1952 flossen Hilfen im Wert von insgesamt rd. 14 Milliarden Dollar nach Europa. Die größten Empfänger waren Großbritannien mit ca. 25%, Frankreich mit 20% und Italien mit 11%. An vierter Stelle folgten die deutschen Westzonen bzw. die Bundesrepublik mit 10%. Legt man den Pro-Kopf-Anteil zugrunde, so profitierten die Niederlande, Österreich und Frankreich am stärksten.
Der Großteil der Transfers bestand aus Sachleistungen wie Nahrungsmitteln, Medikamenten, Treibstoff und Maschinen. Ab 1949 verlagerte sich der Schwerpunkt von der Überlebenshilfe auf Maßnahmen zur Unterstützung der Produktivität. In Deutschland wurde ein Großteil der Hilfen in den Wiederaufbau der Industrie sowie der Verkehrsinfrastruktur investiert. Die Hilfsgüter wurden auf dem jeweiligen inländischen Markt in der Landeswährung verkauft oder als entsprechende Darlehen zur Verfügung gestellt. Dadurch konnten die europäischen Staaten eigene Finanzmittelt generieren, die wiederum der Wirtschaft als Wiederaufbaukredite zur Verfügung gestellt wurden. Nach diesem Prinzip arbeitet bis heute die in Frankfurt ansässige Kreditanstalt für Wiederaufbau, die seit 1948 diese Mittel verwaltet.
Der Marshall-Plan beinhaltete zusätzlich ein technisches Unterstützungsprogramm, das den Austausch von Ingenieuren und Unternehmern zwischen den USA und Europa und somit den Transfer von Know-How organisierte.
Begleitet wurden die Maßnahmen von einer intensiven Werbe- und Propagandakampagne, inklusive eines umfangreichen Filmprogramms.
Auswirkungen
In der wirtschaftshistorischen Forschung besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass der Marshall-Plan als ein wichtiger Bestandteil des europäischen Rekonstruktionsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg anzusehen ist. Mit Blick auf das viel zitierte westdeutsche „Wirtschaftswunder“ ist festzustellen, dass die Hilfslieferungen im Rahmen des European Recovery Programs es zwar nicht ausgelöst, wohl aber entscheidend gefördert haben. Ein weiterer Aspekt lag in der Wiederingangsetzung der wirtschaftlichen Kooperation zwischen den europäischen Staaten und der Reaktivierung der europäischen Handelsbeziehungen.
Über die konkreten ökonomischen Auswirkungen hinaus sind die psychologischen und politischen Effekte zu veranschlagen. So vermittelte die Bereitschaft der USA zu umfassender Hilfe den europäischen Ländern „inmitten der desolaten Nachkriegsjahre Hoffnung auf eine baldige Konsolidierung“ (Paul Thomas/Rebecca Belvederesi-Kochs). Ferner war das ERP eine wichtige Grundlage für die europäische Integration, für die Vereinfachung von Handelsbeziehungen und den Aufbau von Institutionen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa. Der Marshall-Plan markierte damit eine frühe Etappe auf dem Weg zur Entstehung des heutigen vereinten Europas.
Für die Westzonen und die Bundesrepublik Deutschland schließlich stellte die gleichberechtigte Teilnahme am Marshall-Plan einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Einbindung in die westliche Bündnis- und Wertegemeinschaft dar.
Nachwirkungen
Auch Jahrzehnte nach seinem Inkrafttreten wurde der Marshall-Plan häufig als Vorbild und Beispiel herangezogen, so nach dem weltpolitischen Umbruch 1990/91, als die Notwendigkeit eines neuen Marshall-Plans für die ehemaligen Ostblockstaaten diskutiert wurde. Eine von dem ehemaligen amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore im Jahr 2003 mitbegründete „Global Marshall Plan Initiative“ hat es sich zum Ziel gesetzt, sich „für ein verbessertes und verbindliches globales Rahmenwerk für die Weltwirtschaft“ einzusetzen. Und auch während der Corona-Krise seit 2020 wurden vielfach Forderungen nach einem neuen Marshall-Plan zur Überwindung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie laut.
Die zahlreichen Bezugnahmen und Reminiszenzen zeigen deutlich, wie sehr das am 3. April 1948 in Kraft getretene und unter der Bezeichnung „Marshall-Plan“ berühmt gewordene European Recovery Program als erfolgreiches Konzept zum Wiederaufbau und zur Stabilisierung demokratischer Strukturen im kollektiven Gedächtnis nicht nur der Deutschen und Europäer verankert ist.
Literatur:
- Gerd Hardach: Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948–1952, München 1994.
- Michael J. Hogan: The Marshall Plan. America, Britain, and the reconstruction of Western Europe 1947–1952, Cambridge 2002.
- Elke Kimmel: Dossier: Der Marshall-Plan – Selling Democracy. In: Bundeszentrale für Politische Bildung (2005).
- Paul Thomes/Rebecca Belvederesi-Kochs: Der Marshall-Plan. In: Themenportal Europäische Geschichte (2010).