Übersicht
☛ Die Anfänge von Auschwitz als Quarantäne- und Durchgangslager
☛ 1940 bis 1942: Die polnische Phase der Lagergeschichte
☛ Ausbau zum Vernichtungslager: von ersten Tötungsexperimenten zur massenhaften Ermordung
☛ Die SS in Auschwitz: Rudolf Höß und das sogenannte SS-Interessengebiet
☛ SS-Familienleben: Warum der häusliche Frieden das Töten befördert hat
Konzentrationslager (KZ) gab es im Deutschen Reich schon seit 1933. Zuständig dafür war die Schutzstaffel (SS), deren Aufgabe es war, Gegner des NS-Regimes zu verfolgen. Im Lagersystem nahm das 1940 errichtete Auschwitz zunächst keine hervorgehobene Rolle ein. Es war nach Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Mauthausen und dem Frauenlager Ravensbrück das mittlerweile siebte Konzentrationslager. Stadt und Region Auschwitz gehörten nach dem deutschen Überfall auf Polen zum Gebiet des Deutschen Reiches. Nicht weit entfernt davon lag die Grenze zum Generalgouvernement, dem von Deutschland besetzten Teil Polens, der nicht direkt dem Reichsgebiet einverleibt worden war. Überall in den Grenzgebieten des Deutschen Reiches ließ Reichsführer SS Heinrich Himmler zu dieser Zeit Konzentrationslager bauen. Schon im September 1939 entstand das Zivilgefangenenlager Stutthof bei Danzig, im Juni 1940 folgten das Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg und das Konzentrationslager Natzweiler im Elsass, im August 1940 das Konzentrationslager Groß-Rosen im schlesischen Altreichsgebiet.
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Die Anfänge von Auschwitz als Quarantäne- und Durchgangslager
Das Gelände in Auschwitz, das SS-Kommissionen inspiziert hatten, war das ehemalige Sachsengängerlager etwa drei Kilometer von der Altstadt entfernt. Im Ersten Weltkrieg, als die Stadt zum Habsburgerreich gehörte, war es für Saison- und Wanderarbeiter gebaut worden. „Sachsengänger“ nannte man Leute, die im nahegelegenen Preußen („Sachsen“) Arbeit und Auskommen suchten. Das Sachsengängerlager mit seinen 22 gemauerten Häusern und den 90 Holzbaracken funktionierten die Nationalsozialisten zum Konzentrationslager um. Dabei hatte es zunächst keineswegs ihren Idealvorstellungen entsprochen, denn die Bauten waren verfallen, das Gelände lag in einem von der Malaria befallenen Hochwassergebiet und das Grundwasser war miserabel. Aus Sicht der SS überwogen jedoch die Vorzüge: Das Gebiet war bereits infrastrukturell erschlossen und nach außen leicht abzuschotten, zudem lag Auschwitz an einem Eisenbahnknotenpunkt und der Bahnhof war vom Lager nicht weit entfernt. Auschwitz fungierte zunächst als Quarantäne- beziehungsweise Durchgangslager, das heißt, dass hier Häftlingsströme „umsortiert“, Gruppen neu zusammengesetzt und nach einer gewissen Quarantänezeit in andere Lager transportiert wurden. Im Mai 1940 kamen die ersten 30 deutschen Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen im Stammlager an; sie wurden als Funktionshäftlinge eingesetzt, rangierten in der Häftlingshierarchie also ganz oben. Am 14. Juni 1940 traf der erste Transport mit 728 Polen aus dem Gefängnis Tarnów bei Krakau ein, vor allem Gymnasiasten, Studenten und Militärangehörige. Knapp 8.000 Häftlinge wurden bis Jahresende in Auschwitz registriert. Nahezu alle wurden zum Aufbau des Lagers eingesetzt, der sich wegen des Mangels an Baumaterial länger hinzog als geplant.
1940 bis 1942: Die polnische Phase der Lagergeschichte
Das Lager Auschwitz war nicht von Anfang an das Zentrum des Massenmordes an den europäischen Juden. Vielmehr diente es zunächst als Haftstätte für polnische politische Gefangene, geschaffen zu deren Isolierung, Bestrafung und ökonomischen Ausbeutung. Ungewöhnlich hoch fiel im Vergleich mit den anderen Konzentrationslagern seine Aufnahmekapazität aus. Das Lager war auf bis zu 10.000 Häftlinge ausgelegt; in allen anderen Konzentrationslagern zusammen waren bei Kriegsbeginn im September 1939 nicht mehr als 25.000 Personen inhaftiert. Offensichtlich rechneten die deutschen Besatzer im eroberten Polen mit besonders vielen Gegnern.
Nicht Juden, die anfangs zumeist aus politischen Gründen inhaftiert wurden, stellten zu dieser Zeit die Mehrzahl der Insassen; betroffen von Verfolgung, Gewalt und Willkür waren vielmehr Mitglieder ehemaliger polnischer Parteien und Organisationen, Angehörige der Intelligenz sowie alle potenziellen Träger nationalpolnischen Widerstands, vor allem Lehrer, Wissenschaftler, Geistliche und Ärzte. Die Zahl der Juden blieb bis etwa Mitte 1942, in der sogenannten polnischen Phase der Lagergeschichte, vergleichsweise gering. Die Häftlinge wurden noch nicht systematisch ermordet, aber sie starben an Hunger, Schikanen und unerträglichen Arbeitsbedingungen, sie wurden von der SS zu Tode geprügelt, erhängt und erschossen.
Ausbau zum Vernichtungslager: von ersten Tötungsexperimenten zur massenhaften Ermordung
Der systematische Massenmord an den europäischen Juden begann mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941. Zuerst in Litauen, bald auch in Weißrussland, in der westlichen Ukraine, in Serbien und im Distrikt Galizien des Generalgouvernements fanden Massenerschießungen durch die Einsatzgruppen der SS statt. Unterschiedslos wurden jüdische Männer, Frauen und Kinder erschossen. Große Teile der Wehrmacht unterstützten das Vorgehen. Schon bald suchte die SS nach effizienteren Mordmethoden. In den annektierten und besetzten Gebieten Polens entstanden daraufhin zwischen Spätherbst 1941 und Frühjahr 1942 die sechs Vernichtungslager Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka, Majdanek und Auschwitz-Birkenau. Sie hatten nur einen einzigen Zweck: die ankommenden Personen umgehend zu ermorden. Sonderformen bildeten Auschwitz-Birkenau und Majdanek, die sowohl Vernichtungs- als auch Konzentrationslager waren.
Im Stammlager Auschwitz hatten Tötungsexperimente schon Ende August oder Anfang September 1941 begonnen. Dafür wurde zunächst versuchsweise, bald regelmäßig das Blausäuregas Zyklon B angewendet, gedacht zur Schädlingsbekämpfung, um Unterkünfte und Kleidung zu desinfizieren. Die ersten Opfer waren noch nicht Juden aus ganz Europa, sondern Kriegsgefangene aus der Sowjetunion, außerdem kranke und schwache Häftlinge anderer Haftkategorien. Gemordet wurde in den Zellen im Untergeschoss von Block elf, dem Strafblock. Häftlinge mussten die Toten aus dem Keller in den Hof schleppen, sie ausziehen, auf Rollwagen hieven und zu ausgehobenen Massengräbern bringen. Um das Geschehen besser vor den anderen Häftlingen geheim zu halten und um den Aufwand zu verringern, wurde noch 1941 das Krematorium des Stammlagers zum Schauplatz der Morde. Die Leichenhalle des Krematoriums ließ sich kurzerhand zur Gaskammer umfunktionieren, Türen wurden abgedichtet und Öffnungen zum Einschütten des Zyklon B in die Decke geschlagen. Bis Ende 1942 diente das Krematorium als Vernichtungsstätte und bis Sommer 1943 wurden die Ermordeten hier eingeäschert. Über das Lager verhängte die SS jedesmal die Blocksperre, wenn eine Tötungsaktion im Gang war; laute Motoren liefen und Hupen schrillten, um die Schreie der Sterbenden zu übertönen.
Das Lager Birkenau, auch Auschwitz II genannt, lag etwa zwei Kilometer vom Stammlager entfernt. Es war ein Areal von gigantischen Ausmaßen, errichtet im Herbst 1941 ursprünglich dafür, um sowjetische Kriegsgefangene einzusperren und in Zwangsarbeit auszubeuten. 50.000 Insassen hatten Platz, den Plänen zufolge sollten es bis zu 200.000 werden. In Birkenau waren die Lebensbedingungen noch katastrophaler als im Stammlager. Auf dem sumpfigen Gelände standen Baracken aus Ziegelsteinen, ohne Estrich, Heizöfen und elektrisches Licht. Die Schlafplätze waren dreistöckige enge Kojen. Das Gros der Häftlinge wurde in Pferdeställen aus Holz untergebracht, fensterlosen, aus dünnen Brettern gezimmerten Verschlägen mit zwei kleinen Luken. Sanitäre Anlagen gab es zunächst weder in den gemauerten noch in den hölzernen Unterkünften. Es wimmelte von Ungeziefer; anhaltender Wassermangel verschlimmerte die Situation, Epidemien wie Typhus und Fleckfieber waren die Folge.
Angesichts der verheerenden Lebensumstände und der gezielten Aushungerungspolitik, die das Deutsche Reich gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen betrieb, war von den rund 10.000 Soldaten der Roten Armee, die im Oktober 1941 in Birkenau eingeliefert wurden, schon nach einem Monat nicht einmal mehr die Hälfte am Leben. Als sich abzeichnete, dass sie nicht das gewünschte Massenheer an Arbeitskräften stellen würden, wandelte sich im Frühjahr 1942 der Zweck des Lagers Birkenau, das nun zum Vernichtungslager wurde. Administrativ blieb es zunächst ein Nebenlager des weitaus kleineren Stammlagers, später wurde es im Zuge einer administrativen Umstrukturierung zum selbständigen Hauptlager. Zum Lagerkomplex von Auschwitz zählte auch Monowitz, genannt Auschwitz III, wo der IG Farben-Konzern ein firmeneigenes Konzentrationslager unterhielt und vornehmlich jüdische Häftlinge – unter mörderischen Bedingungen und bewacht von der SS – Zwangsarbeit leisten mussten.
Die systematische Tötung in Auschwitz-Birkenau begann vermutlich Anfang 1942, als Massentransporte mit Juden aus ganz Europa dort ankamen. Ausgemustert wurden sie nach Kriterien ökonomischer Verwertbarkeit, das heißt: Wer nicht für den Zwangsarbeitseinsatz taugte, wurde sofort ermordet. Das Zentrum der Massenvernichtung war Auschwitz-Birkenau schließlich 1943, nachdem die anderen Vernichtungslager geschlossen und auf dem Gelände vier neue Krematorien errichtet worden waren. Weitere große Opfergruppen im Lagerkomplex Auschwitz waren neben Juden auch Sinti und Roma, die vor allem aus dem Altreich und Österreich stammten, ferner sowjetische Kriegsgefangene, nichtjüdische Polen und weitere nichtjüdische Häftlinge aus mehreren Ländern.
Die SS in Auschwitz: Rudolf Höß und das sogenannte SS-Interessengebiet
Rudolf Höß, von Himmler Anfang Mai 1940 zum Kommandanten des neuen Lagers ernannt, stand an der Spitze der SS-Hierarchie von Auschwitz. Als Blockführer in Dachau und Schutzhaftlagerführer in Sachsenhausen brachte er reichlich KZ-Erfahrung mit: in der Verwaltung, aber auch in der brutalen Behandlung der Häftlinge. Höß konzentrierte sich ganz auf die Baustelle, die schon Ende 1940 so groß war, dass unterschieden werden musste zwischen Schutzhaftlager, Industriehof, Werkstätten, Kasernenbereich, Truppenwirtschaftslager, Landwirtschaft und SS-Siedlung. Er trieb die Arbeit unverdrossen voran. Ganze Dörfer um Auschwitz mussten weichen, damit sich die SS ihr Hoheitsareal schaffen konnte: das von der Außenwelt abgeschirmte, im Frühjahr 1941 eingerichtete sogenannte SS-Interessengebiet, das bald auf 40 Quadratkilometer anwuchs und auch Wälder, Teiche und landwirtschaftliche Flächen einschloss. Hier entstanden Pflanzenzuchtstationen, Gärtnereien, Geflügel- und Fischzuchten. Von SS-Wachen in der sogenannten kleinen und großen Postenkette umstellt – die kleine verlief rund um das Gelände des Stammlagers und des Lagers Birkenau, die große um den Sperrgürtel des SS-Interessengebiets – war das gesamte Areal von Warnschildern, Betonmauern, Wachtürmen und doppelreihigen, stromgeladenen Stacheldrahtzäunen umgeben, die nachts beleuchtet waren. Der Kommandant des Stammlagers, der zudem Standortältester der SS war, fungierte im SS-Interessengebiet, das ab 1943 ein eigener Amtsbezirk war, auch als Amtskommissar. Nach Höß hatten diese Funktion seine Nachfolger Arthur Liebehenschel und Richard Baer inne.
Die ersten Wachleute kamen aus einer in Krakau stationierten SS-Einheit, bald folgten geschulte Truppen aus Buchenwald und anderen Konzentrationslagern. Untergebracht waren die SS-Männer in Kasernen und Schulen, auch in Unterkünften nahe des Stammlagers und des Lagers Birkenau, aber nach und nach nahm die SS Wohnhäuser und ganze Straßenzüge in der Stadt Auschwitz in Beschlag. Die Zahl der SS-Leute stieg stetig: Im Frühjahr 1941 waren es rund 700 Männer, im Sommer 1942 schon knapp dreimal so viele. Die Personalfluktuation war aufgrund von Versetzungen groß; im Durchschnitt arbeiteten im Lagerkomplex zwischen 3.000 und 4.000 Aufseher. Insgesamt waren bis Kriegsende etwa 7.000 SS‑Angehörige in Auschwitz tätig, darunter – als Aufseherinnen, SS-Nachrichtenmaiden und medizinisch geschulte SS‑Schwestern – auch rund 200 Frauen.
SS-Familienleben: Warum der häusliche Frieden das Töten befördert hat
Die sogenannte SS-Siedlung in Auschwitz dehnte sich bald zu einem eigenen Stadtteil aus. Das Leben in dem modern ausgebauten Viertel war mit vielerlei Annehmlichkeiten verbunden. Es gab für die SS und ihre Familienangehörigen ein Kaffeehaus, ein Schwimmbad, eine Bibliothek, Kindergärten, Schulen, Arzt- und Zahnarztpraxen. Die medizinische Betreuung durch die Abteilung Standortarzt des Konzentrationslagers stand bei der SS-Klientel und ihren Familien in hohem Ansehen. SS-Ärzte leiteten ein stationäres Lazarett, „Familienärzte“ hielten „Familiensprechstunden“ ab. Viele Bräute und Ehefrauen mit Kindern folgten ihren Männern nach Auschwitz. Familien von SS-Offizieren hielten sich in Haus und Garten Konzentrationslagerhäftlinge als Dienstboten, oftmals aus der Gruppe der Zeugen Jehovas. Die Familienzuzüge stiegen stetig.
Rudolf Höß wohnte mit seiner Frau Hedwig und den zunächst vier Kindern (ein fünftes kam 1943 in Auschwitz zur Welt) in einem Haus mit großem Garten nur gut hundert Meter außerhalb des Lagergeländes. In der Hierarchie der SS-Siedlung die „erste Familie“ am Ort, lebten die Höß’ in überaus angenehmen Verhältnissen. Dies auch, als der Kommandant im November 1943 nach Berlin versetzt wurde, um im Wirtschaftsverwaltungshauptamt die Abteilung zu leiten, die Aufsicht über sämtliche Konzentrationslager im Deutschen Reich führte. Seine Familie blieb einstweilen in Auschwitz wohnen, und im Frühjahr 1944 kehrte Höß bereits wieder zurück. Jetzt, um zwischen Mai und Juli in Birkenau die größte Massenvernichtung in der Geschichte des Lagers zu leiten: die Ermordung der Jüdinnen und Juden aus Ungarn, von der SS „Aktion Höß“ genannt.
Der häusliche Frieden stand zum beruflichen Alltag der SS-Leute nicht im Widerspruch. Vielmehr dürfte das beharrlich gepflegte Familienidyll das Töten im Lager befördert haben, denn es gab den SS-Männern die nötige psychische Stabilität. Dass SS-Leute Massenmörder und liebende Familienväter gleichermaßen waren, muss nicht verwundern. Die Fassade des Familienglücks sagte über die humanitäre Gesinnung der Männer im Ergebnis nichts aus. Die Vernichtung der „Minderwertigen“ ließ sich im Dienste der Existenzsicherung der „arischen Rasse“ vielmehr moralisch legitimieren und vor dem Hintergrund der biologisch-genetischen Werteordnung des nationalsozialistischen Staates ohne weiteres für notwendig erklären. Massenmord und Wohlanständigkeit bildeten daher nicht die Pole eines Gegensatzpaares, sondern waren vielmehr eng miteinander verwoben. Verbrechen und sogenannte Normalität flossen ineinander. Die Massenverbrechen als Resultat pathologischer Strukturen zu bewerten, erscheint deshalb ebenso wenig plausibel wie anzunehmen, die Täter seien von kollektiver Bewusstseinsspaltung befallen gewesen. Das SS-Familienleben in Auschwitz diente – ebenso wie die Massenvernichtung – dem Aufbau der „rassereinen“ Volksgemeinschaft. Vor Gewissensbissen schützte die nationalsozialistische Auffassung von Ethik als Frage rassenideologischer Homogenität. Aus dem unerschütterlichen Gefühl der Rechtschaffenheit ließ sich der Massenmord bedenkenlos begehen.
Prof. Dr. Sybille Steinbacher ist Zeithistorikerin und Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls zur Erforschung der Geschichte und Wirkung des Holocaust an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Literaturempfehlung
Sybille Steinbacher, Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte, München: C.H. Beck, (5., durchgesehene Auflage), 2020