Die aktuelle Bilanz von Sonntag, dem 8. Oktober 2023, 15 Uhr: über 3500 Raketen, mehr als 600 Tote und 2000 Verletzte auf der israelischen Seite, zahlreiche Geiseln (ca. 100). Am 7. Oktober waren noch über 20 Ortschaften in Südisrael von Terroristen belagert, heute früh noch 8, und laut gestrigen Angaben der israelischen Armee seien noch „hunderte bewaffnete Eindringlinge“ aus dem Gazastreifen in Israel.
Mit der Ankündigung des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu „we are at war“, wurde das Land in Kriegsbereitschaft versetzt und allumfassende Vergeltungsmaßnahmen unter der Operation „swords of iron“ angekündigt. Seitdem fliegt die israelische Luftwaffe Angriffe auf den Gazastreifen, mit dem Ziel, die Hamas nicht nur militärisch, sondern auch politisch auszuschalten; die israelische Regierung hat inzwischen die Strom- und Versorgungszufuhr nach Gaza gekappt.
Seit Samstagabend gilt in Israel der „Nationale Notstand“ (civil emergency) landesweit für mindestens 48 Stunden, d.h. die Polizei kann Ausgangsperren anordnen, sog. „off limits areas“ ohne Vorwarnung anordnen und auch die Bürger auffordern, bspw. ihre Fahrzeuge oder Waffen zur Verfügung zu stellen. Die Polizei darf im Falle des nationalen Notstands auch „reasonable force“ gegen Zivilisten anwenden. Am Sonntag, dem 8. Oktober wurde vom Sicherheitskabinett in Israel offiziell der Kriegszustand erklärt.
Natürlich werden Fragen laut, wie es passieren konnte, dass diese Angriffe den israelischen Sicherheitsapparat so unvorhergesehen trafen – Israel, ein Land, das eine der am besten ausgebildeten Streitkräfte der Welt hat, das über die sensibelsten Überwachungssysteme und weltbesten Sicherheitsdienste verfügt? Wo waren Militär und Polizei? Und wieso hat die Hamas gerade jetzt zugeschlagen? Warum konnte die Hamas nicht nur so überraschend, sondern auch so gut vorbereitet zuschlagen – es handelte sich um einen gezielten Angriff an multiplen Fronten gleichzeitig, der jegliche aktuelle Schwäche der Israelis ausnutzte.
Eine dezidierte innenpolitische Aufarbeitung der Gründe, warum die israelische Seite so unvorbereitet war, ist Sache der Israelis und wird man erst nach Beendigung der Kampfhandlungen vornehmen können, aber Analysten spekulieren über eine unzureichende Abwehr an der Grenze zu Gaza und ein Versagen der Nachrichtendienste. Eine Rolle hat sicherlich auch gespielt, dass viele Truppen in den letzten Monaten aus dem Gazastreifen abgezogen worden waren - vor dem Hintergrund der dramatischen Eskalation der Gewalt im Westjordanland.
Israel hatte in den letzten Monaten einiges an innenpolitischen Krisen zu bewältigen, die Hamas hat sich die volatile innenpolitische Gemengelage zu Nutze gemacht. Meldungen der vergangenen Monate aus Israel, dass auch Reservisten sich den Protesten gegen die Regierung anschließen und den Dienst verweigern sowie fortwährende Provokationen gewaltbereiter israelischer Siedler und rechtsextremer Politiker wie dem Minister für nationale Sicherheit, Ben Gvir, auf dem Tempelberg haben die Angriffe der Hamas sicherlich „befeuert“. Hinzu kamen die sich intensivierenden Normalisierungsbemühungen zwischen Israel und Saudi-Arabien, die der Hamas ein Dorn im Auge waren.
Der Angriff fast auf den Tag genau am 50. Jahrestag des Yom Kippur Krieges, zudem an einem hohen Jüdischen Feiertag, der noch dazu auf einen Shabbat fiel, ist neben der militärischen Komponente auch ein symbolischer Akt des Angriffes auf die Seele des jüdischen Staates, eine Demütigung sondergleichen. Und Raketenangriffe auch gezielt auch Tel Aviv und Jerusalem zu richten, treffen das Land im Mark.
Wie geht es weiter?
Die Tragödie sind die Geiselnahmen; die Hamas hat angekündigt, die Geiseln als menschliche Schutzschilde zu benutzten, Israel ist damit erpressbar.
Die Hamas hat alle muslimischen Verbündeten zur Unterstützung aufgerufen. Für die israelischen Streit- und Sicherheitskräfte steht jetzt - neben der Tatsache, die Angriffe weiter einzudämmen und vor allem die Kontrolle über alle israelischen Ortschaften und insbesondere die Geiseln zurückzubekommen - die Beobachtung der Grenze zum Norden im Vordergrund. Das „worst case scenario“ wäre, wenn sich die Hisbollah aus dem Libanon beteiligen würden, dort geht man von einem Bestand von 100.000-150.000 Raketen aus. Es gab heute früh Meldungen über Beschuss aus dem Libanon, den die israelische Artillerie sogleich beantwortet hat, es wurden keine Todesopfer gemeldet.
Israel könnte – aber nur temporär - geeinter aus den Angriffen hervorgehen, die Samstagabendproteste gegen die Regierung und gegen die Justizreform wurden ausgesetzt. Die Sicherheit der Bevölkerung und die Verteidigung des Landes steht nun im Vordergrund; die Reservisten wurden vom Verteidigungsminister aktiviert und beteiligen sich an der Landesverteidigung. Netanjahu ist einen Schritt auf die Anführer der beiden größten Oppositionsparteien zugegangen und hat ihnen die Beteiligung an der Regierungskoalition angeboten - eine Art Notstandsregierung. Yair Lapid hat die Forderung gestellt, dass die extrem rechten Koalitionspartner, die Partei „Jüdische Stärke“ von Ben Gvir und die Partei „Religiöser Zionismus“ von Bezalel Smotrich dazu die Koalition verlassen müssten, Benny Gantz würde die Notstands-Regierungskoalition bedingungslos eingehen. Beide Oppositionspolitiker sind sich einig, dass „for the moment Israel sees no division between opposition and coalition“, aber eine endgültige Entscheidung, ob es tatsächlich zu dieser parteiübergreifenden Notstandsregierung kommt, steht zum Zeitpunkt der Berichterstattung noch aus.
Doch selbst wenn eine solche geeinte Notstandskoalition aus Regierung und Opposition zustande käme, wird sie nur für die Dauer der kriegerischen Auseinandersetzungen Bestand haben. Die Opposition wird die Regierung, insbesondere Benjamin Netanjahu, zur Rechenschaft ziehen. Im Mittelpunkt der innenpolitischen Aufarbeitung des Angriffs und der sich daraus resultierenden Schulddebatte werden neben dem Regierungschef auch die Streitkräfte und die Nachrichtendienste stehen.
Gleichzeitig besteht die Gefahr einer weiteren Spaltung der Gesellschaft. Der Aufruf der Hamas, alle Muslime sollten den Angriff unterstützen, hat zu Befürchtungen geführt, dass - ähnlich der Gaza-Eskalation vom Mai 2021, die zu Auseinandersetzungen zwischen arabischen und jüdischen Israelis in einigen sog. „mixed cities“ in Israel geführt hatte - es wiederum zu Aufständen in diesen Städten kommen könnte. Das scheint im Moment nicht der Fall, dennoch erfährt die Vision der sog. „shared spaces“ und „mixed societies“ weitere Rückschläge. Hier sei angemerkt, dass die Gewalt auch unter den arabischen Israelis in den letzten Monaten stark zugenommen hat.
Erste Reaktionen aus der Region beinhalteten Jubel und Unterstützung für die Hamas aus dem Iran, das katarische Außenministerium bezichtigte Israel der alleinigen Verantwortung an der Eskalation, Saudi-Arabien hat zum sofortigen Ende der Gewalt und zur Mäßigung beider Parteien aufgerufen, ähnliche Aufrufe gab es aus den VAE, Kuwait, Oman, Marokko und Ägypten. Die libanesische Hisbollah hat der Hamas zu ihrem „heroischen Akt“ gratuliert, so auch die Stellungnahme aus dem syrischen Außenministerium. Es gibt erste Meldungen darüber, dass die israelische Regierung Ägypten um Vermittlungsbemühungen gebeten hat.
Es liegt auf der Hand, dass der Erzfeind Iran im Hintergrund die Fäden gezogen hat und weiter ziehen wird. Der 7. Oktober ist ein „game changer“ für Israel, für den israelisch-palästinensischen Konflikt aber auch für die Region. Die Bilder der „barbarischen Grausamkeiten“ der Hamas, wie der israelische Botschafter in Berlin, Ron Prosor, sie in einigen Interviews bezeichnet hat, sind nicht zu vergessen. Der Angriff hat aber auch offenbart, dass Israel bei aller Schlagkraft sehr verwundbar ist, und das wird sich ebenfalls auf Israels zukünftige Rolle in der Region auswirken.