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Holocaust und Erinnerungskultur in der Ukraine

von Prof. Gelinada Grinchenko

Entwicklungen und Initiativen seit der Unabhängigkeit

Etwa 1,5 Millionen Juden wurden während des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet der Ukraine von den Nationalsozialisten ermordet. Seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 bildete sich eine neue Form des Gedenkens an die Opfer heraus. Zahlreiche staatliche und zivilgesellschaftliche Initiativen widmen sich mittlerweile der Erinnerung und der historischen Aufarbeitung des Holocausts. Der von Russland entfesselte Krieg in der Ukraine, in dem Menschen sterben aber auch historische Orte und Zeugnisse zerstört werden, stellt die Erinnerungsarbeit seit 2022 vor neue Herausforderungen.

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Der Holocaust in der Ukraine: ein historischer Abriss

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in der Ukraine innerhalb der heutigen Grenzen mehr als 40 Millionen Menschen, wobei die große Mehrheit ukrainischer Volkszugehörigkeit war. Aber auch große Gruppen von Russen, Polen, Juden und andere Volksgruppen waren hier ansässig. Nach der Annexion des westlichen Teils Polens durch die Sowjetunion in den ersten Kriegswochen erreichte die geschätzte Zahl der Juden in der erweiterten Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik 2,35 Millionen. Somit hatte sich in der Ukraine in dieser kurzen Zeitspanne die größte jüdische Bevölkerung in Europa und die zweitgrößte in der Weltentwickelt.

Geographisch konzentrierte sich die jüdische Bevölkerung stärker in den westlichen Landesteilen der Ukraine. Sie stellte dort etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung, anders als in den östlichen Regionen. In zahlreichen westukrainischen Städten machte die jüdische Bevölkerung einen erheblichen Anteil aus, nämlich zwischen einem Drittel und der Hälfte der Gesamtbevölkerung; auch in den Dörfern der westlichen Landesteile lebten Juden. Hingegen konzentrierten sich die Juden im östlichen Teil der Ukraine eher in den großen Städten.

 

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Schätzungen auf der Grundlage sowjetischer Statistiken zeigen, dass es weniger als einer Million ukrainischer Juden 1941 gelang zu fliehen. Die Fluchtquoten unterschieden sich dabei von Region zu Region erheblich. Die mangelnde Unterstützung seitens der sowjetischen Behörden einerseits und die schnelle Einnahme der Ukraine durch die Deutschen andererseits verhinderten die Flucht der meisten Juden aus der Rechtsufrigen Ukraine, also aus dem westlich des Dnepr gelegenen historischen Zentrums sowie Podoliens. Das traf vor allem diejenigen, die in den am weitesten westlich gelegenen Oblasten lebten. In den vor dem Krieg polnischen Gebieten (Westukraine) blieben den Juden kaum Zeit und wenig Ressourcen, wodurch ihre Flucht oft unmöglich wurde. Etwa 40 000 bis 50 000 Juden gelang die Flucht in den ersten Wochen der deutschen Invasion, aber viele von ihnen wurden später von den Deutschen wieder gefangengenommen. In der Zentralukraine konnte etwas mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung fliehen, während in der Linksufrigen Ukraine die Fluchtquoten zwischen 75 und 90 Prozent lagen.

 

Opferzahlen

Zwischen 1941 und 1945 wurden etwa 1,5 Millionen ukrainischer Juden ermordet. Die schwersten Verluste waren in den westlichen Gebieten der Ukraine zu beklagen: in Galizien, Wolhynien und Podolien kamen mehr als 80 Prozent der jüdischen Bevölkerung ums Leben. Nach Kruglov wurde die Mehrheit der ukrainischen Juden auf ukrainischem Boden getötet, in der Nähe der Orte, wo sie ansässig waren.  Etwa 22 Prozent (im Wesentlichen galizische Juden) das heißt ungefähr 345 000 Menschen, wurden nach Polen deportiert und dort in den Gaskammern getötet.  „Der große Teil der restlichen jüdischen Bevölkerung, das heißt 70 Prozent, wurde erschossen oder musste sich zu Tode arbeiten, während ungefähr fünf Prozent, hauptsächlich in Transnistrien, an Hunger und Krankheit starben. Nur in Galizien, Wolhynien, Podolien, Transkarpatien und in einem Teil der Rechtsufrigen Ukraine wurden Juden in Ghettos gesammelt. In der Zentral- und Ostukraine wurden die Juden, die hinter deutschen Linien gefangen waren, von den Deutschen praktisch sofort nach der Besetzung ihrer Heimatstädte oder wenige Monate später ermordet.“ Letztlich gelang es nur etwa fünf Prozent der ukrainischen Juden unter der deutschen und rumänischen Besatzung den Krieg zu überleben.

Die höchste Zahl ukrainischer Juden fiel dem Holocaust in der zweiten Hälfte des Jahres 1941 und im Jahr 1942 zum Opfer. Die anfänglichen „Judenaktionen“ in der Ukraine zielten auf jüdische Männer ab, zu denen auch Vertreter der jüdischen Intellektuellen, mit der Kommunistischen Partei verbundene Amtsträger und jüdische Beamte gehörten. Von Ende August 1941 an gingen die Erschießungskommandos der Nazis von selektiven Exekutionen jüdischer Männer zu großangelegten Massakern an der gesamten jüdischen Bevölkerung – auch an Frauen, Kindern und älteren Menschen - über.

Diese Operationen wurden von Einsatzgruppen und Polizeikräften durchgeführt, oft mit logistischer und organisatorischer Unterstützung der Wehrmacht. Sie konnten zwischen einigen Stunden und mehreren Tagen dauern und hatten zehntausende von Toten unter den Juden zur Folge.

 

Das Massaker von Babyn Jar

Eine der schrecklichsten Gräueltaten geschah in Babyn Jar am 29. und 30. September 1941. Dieser Ort gelangte nach dem Krieg als ein Symbol des Holocaust zu trauriger Berühmtheit. Nach Hrynevych und Magocsi, „Während des zweiten Weltkriegs wurde Babyn Jar zu einem herausragenden Symbol der Vernichtung der europäischen Juden durch den Holocaust, wie auch Auschwitz im heutigen Polen. Der tödliche Prozess begann im September 1941 mit der Ermordung von fast 34 000 Juden; er setzte sich während der folgenden Jahre fort mit der Erschießung zehntausender weiterer Juden und Roma, psychisch Kranker, sowjetischer Kriegsgefangener, ukrainischer Nationalaktivisten, Mitgliedern der Kommunistischen Partei und normaler Einwohner von Kiew, die als Geiseln genommen worden waren. Diesen Menschen nahm man ihre Würde als Individuum, unterwarf sie unmenschlicher Brutalität und ermordete sie. Babyn Jar wurde zu einem der traumatischsten Orte in der ukrainischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg“.

Doch es gab zahlreiche weitere Babyn Jars – Orte überall in der Ukraine, an denen Massenerschießungen stattfanden. Heute gehen Historiker davon aus, dass es etwa
5 000 solcher Orte in der gesamten Ukraine gab, einschließlich der großen Städte wie Odessa, Dnipro, Riwne, Charkiw und weiterer größerer oder kleinerer städtischer Zentren. In der zweiten Hälfte des Jahres 1941 wurden mehr als 500 000 ukrainische Juden Opfer solch brutaler Massaker. Anfang 1942 hatten die Nazis ungefähr ein Drittel der jüdischen Bevölkerung, die in von ihnen kontrollierten Gebieten lebte, ermordet.

Darüber hinaus schätzt man die Gesamtzahl der Roma, die in den besetzten Gebieten der Ukraine zwischen 1941 und 1944 zu Tode kamen, auf 19 000 bis 20 000 Menschen. Außerdem wurden zwischen 7 000 und 9 000 Patienten psychiatrischer Kliniken getötet.

 

 

Die Entstehung des offiziellen Diskurses über den Holocaust in der unabhängigen Ukraine

 

Der Holocaust kam im offiziellen sowjetischen Narrativ des Zweiten Weltkriegs und der Erinnerung daran nicht vor und die Ermordung der Juden wurde nicht als besonderes und einzigartiges Phänomen anerkannt. Während der Sowjetzeit war die Erinnerung an Kriegsopfer und Kriegsverbrechen von einem gemeinsamen Merkmal geprägt: es waren Verbrechen gegen das sowjetische Volk, ohne ethnische Differenzierung. Demnach wurden alle Juden als sowjetische Bürger betrachtet, und der Holocaust wurde als eines von vielen Naziverbrechen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung gewertet. John-Paul Himka betont, dass „die Sowjets […] nicht gewillt waren, an die Öffentlichkeit zu bringen, in welchem Ausmaß die sowjetische Bevölkerung sich zur Kollaboration mit den deutschen Besatzern hatte verleiten lassen. Es waren nur wenige ortsansässige Juden übrig, insbesondere in der westlichen Ukraine, die ihre Klagen hätten vorbringen können. Jegliche Äußerung von Besorgnis ob des Schicksals der Juden während des Krieges konnte als Zionismus interpretiert werden und unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Viele kommunistische Amtsträger nach dem Krieg entstammten der breiten Masse und teilten deren antijüdische Vorurteile. Ethnische Russen und Ukrainer besetzten die städtischen Räume und Berufe, die zuvor von Juden ausgefüllt waren. Sie waren nicht erpicht darauf, das Problem anzusprechen, das letztendlich der Holocaust – wie auch die Ermordung und Umsiedlung der Polen – zu ihrem eigenen sozialen Aufstieg geführt hatte. Und so verschmolz der Holocaust mit der allgemeinen Erinnerung an Krieg, Aufstand, Gegenaufstand und die damit einhergehenden Gräueltaten.”

Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 ging es bei der Formulierung des offiziellen Diskurses über den Holocaust und der Etablierung einer Erinnerungskultur auf staatlicher Ebene darum, die Tragödie der Juden möglichst in die nationale Geschichte zu integrieren. Staatliche Initiativen entwickelten sich langsamer als private und waren bis zum Jahr 2016 nicht klar bestimmt. Diese Zögerlichkeit und die Suche nach einem angemessenen Sprachgebrauch spiegeln sich in Gedenkinitiativen und den Reden ukrainischer Präsidenten anlässlich der Jahrestage der Massaker von Babyn Jar, das seit 1991 die offizielle Holocaust-Gedenkstätte war, wider.

 

Neue Narrative und Initiativen

Im September 1991 verabschiedete die ukrainische Regierung eine Entschließung zum Gedenken an den fünfzigsten Jahrestag der Massaker von Babyn Jar, in der die „Massenvernichtung von Sowjetbürgern, einschließlich Juden, durch deutsche Faschisten” verurteilt wurde. Im gleichen Monat fand die erste bedeutende Gedenkfeier mit der Unterstützung der ukrainischen Regierung statt. Leonid Krawtschuk, Präsident des ukrainischen Parlaments und künftiger erster Präsident der unabhängigen Ukraine, erklärte: „Es war ein Genozid, und die Schuld daran tragen nicht nur die Faschisten, sondern auch die, die den Mördern nicht Einhalt geboten haben. Einen Teil der Verantwortung müssen wir selbst übernehmen […]. Es ist nie einfach, Worte der Reue auszusprechen, doch wir tun es, weil es vor allem für die Ukrainer selbst wichtig ist, unsere Fehler anzuerkennen”. Von diesem Augenblick an und bis 2015 versuchte die ukrainische Regierung, bei offiziellen Feierlichkeiten einen Mittelweg zu finden zwischen der westlichen Perspektive vom Holocaust als einzigartigem Genozid und der pro-sowjetischen Rhetorik, die von “Massenexekutionen der Zivilbevölkerung” sprach.

Auf Ebene der staatlichen Initiativen konnte man eine definitive Verlagerung hin zur westlichen Auffassung vom angemessenen Gedenken an den Holocaust feststellen, als die ukrainische Geschichte mit der Revolution der Würde 2014, also den Maidan-Protesten von 2013 und 2014, in eine neue Phase eintrat. Seit 2015 werden staatlich geförderte Gedenkveranstaltungen abgehalten, um das Andenken der in Babyn Jar Ermordeten zu ehren. Das Nationale Museum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg hat eine ständige Ausstellung zum Holocaust eingerichtet. Die ersten Initiativen zum Gedenken an die Tragödie der ukrainischen Roma entstanden 2016, am 75. Jahrestag der Vernichtung von fünf Roma-Lager in Babyn Jar, wo ein Denkmal in Form eines Wagens errichtet wurde.

Präsident Petro Poroschenko hielt während seines Besuchs in Israel im Dezember 2015 eine Rede vor der Knesset, in der er für die „Verbrechen einiger Ukrainer, die beim Holocaust kollaborierten” um Verzeihung bat und feststellte, dass „man in der Ukraine die Bildung einer politischen Nation auf der Grundlage von Patriotismus, gemeinsamer Vergangenheit, schwierigen gegenwärtigen Herausforderungen und Vertrauen in unsere gemeinsame europäische Zukunft” beobachten könne.

Zum 80. Jahrestag der Tragödie von Babyn Jar fanden am 6. Oktober 2021 in Kiew staatliche Veranstaltungen statt. An den Trauerzeremonien am Ort der staatlichen historischen Babyn Jar-Gedenkstätte nahmen der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der israelische Präsident Issac Herzog und der deutsche Bundespräsident Frank Walter Steinmeier teil. In seiner Rede sprach Selenskyj von der Tragödie von Babyn Jar als einer gemeinsamen Erfahrung des jüdischen und des ukrainischen Volkes. Er erwähnte auch die Gerechten unter den Völkern, die Opfer vor den Erschießungen retten konnten. „Unter denen, deren Geschichte bekannt ist und die diesen Ehrentitel tragen, sind 2 659 Ukrainer. Wir sind auf jeden von ihnen stolz.”

 

Zivile Nichtregierungsinitiativen und die Rekonstruktion der Holocaust-Erinnerung in der Ukraine

Fast alle Wissenschaftler sind sich einig, dass die Rekonstruktion der historischen Erinnerung an den Holocaust in der Ukraine im Wesentlichen von Nichtregierungsorganisationen – sowohl ukrainischen als auch internationalen - getragen wurde, von denen es in der Ukraine eine recht große Zahl gibt Zu den bekanntesten gehören das Ukrainische Institut für Holocaust-Studien „Tkuma” (Erneuerung) in Dnipro und das Ukrainische Zentrum für Holocaust-Studien in Kiew. Sie wurden um das Jahr 2000 herum gegründet und zentrieren ihre Aktivitäten auf die Erforschung und Lehre der Geschichte der ukrainischen Juden und des Holocaust sowie des Völkermords an den ukrainischen Roma. Sie organisieren Bildungsseminare und Führungen, bieten Lehrern und Schulen Unterstützung an und veröffentlichen ihre eigenen Zeitschriften. Wie Portnov es ausdrückt: diese Aktivitäten und „Veröffentlichungen versuchen, die Lücken und Begrenztheiten ukrainischer Schulbücher wettzumachen. Sie setzen die Shoah in den breiteren Kontext von ethnischer Diskriminierung, Genozid und der Notwendigkeit der Toleranz. Sie beschreiben die menschliche Dimension der Tragödie der ukrainischen Juden, indem sie Geschichten realer Personen erzählen. Und sie beleuchten die unterschiedlichen Verhaltensweisen der nicht-jüdischen Bevölkerung unter der Besatzung, die von Beteiligung an den Naziverbrechen bis hin zur Rettung der jüdischen Nachbarn reichte.”

Mit Beginn der 2000er Jahre nahm das Ministerium für Bildung und Wissenschaft einen Fachkurs zur Geschichte des Holocaust in die Lehrpläne zahlreicher Fachbereiche für Geschichte an ukrainischen Universitäten auf. Der Holocaust ist mittlerweile Teil der schulischen Lehrpläne, und die Ausbildung von Lehrkräften sowie die Erweiterung ihres Wissens zum Thema wird stark gefördert. Seit Mitte der 2000er Jahre haben ukrainische Lehrkräfte mit Hilfe und Unterstützung von ukrainischen und internationalen Nichtregierungsorganisationen aktiv an verschiedenen internationalen Bildungsveranstaltungen teilgenommen.

Nichtregierungsinitiativen, die regionale Gedenkstätten und Museen errichten, bilden eine Schnittstelle zwischen internationaler Unterstützung und öffentlicher Nachfrage. Das erste Holocaust-Museum der Ukraine entstand nicht in Kiew, sondern 1996 in Charkiw. Diese Institution dokumentiert das Massaker von Drobyzkyj Jar und das Sowjettribunal in Charkiw im Jahr 1943, wo die von deutschen Besatzern in der Region begangenen Kriegsverbrechen verhandelt wurden. 2012 wurde vom Ukrainischen Tkuma- Institut für Holocaust-Studien das Museum der Jüdischen Erinnerung und des Holocaust in Dnipropetrowsk eröffnet. Es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt die größte jüdische Gedenkstätte im postsowjetischen Raum. Zahlreiche weitere Beispiele der Errichtung von Gedenkstätten für ermordete Juden zeugen von der Initiative und Unterstützung durch Nichtregierungs-organisationen.

Das lebendigste Beispiel einer Zusammenarbeit zwischen Nichtregierungs-organisationen und staatlichen Institutionen (hauptsächlich Stadtverwaltungen) ist das bereits umgesetzte Projekt "Space of Synagogues” (Raum der Synagogen) in Lwiw (Lemberg), das am 4. September 2016 eröffnet wurde.  Das Projekt ist „ein Versuch, die Geschichte des Gebäudes, das während des Holocaust zerstört wurde, sowie die Geschichten der jüdischen Einwohner von Lwiw und der Region während der nazideutschen Besatzung herauszuheben und sichtbar zu machen.”

Die Initiative zur Errichtung des "Babyn Yar Holocaust Memorial Center" im Herbst 2016 wurde von Präsident Poroschenko und dem Bürgermeister von Kiew, Wladimir Klitschko, unterstützt. Das Hauptziel dieser Initiative bestand darin, den Gedächtnisraum Babyn Jar zu organisieren und ein Holocaust-Museum zu errichten. Zum Aufsichtsrat des Zentrums und zum Öffentlichkeitsrat gehörten mehrere internationale Persönlichkeiten, Menschenrechtsaktivisten, Philanthropen sowie Vertreter von Kulturorganisationen und Zivilgesellschaft. Im Wissenschaftlichen Rat saßen anerkannte Experten für die Geschichte des Holocaust aus der Ukraine und der ganzen Welt. Das Zentrum entwickelte das Museumskonzept, das grundlegende historische Narrativ und den Landschaftsplan für die Gedenkstätte Babyn Jar. Diese Initiative stieß jedoch auf Widerstand seitens zahlreicher ukrainischer Historiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Im Februar 2019 wurde dann ein staatliches Konzept für den Babyn Jar – Gedenkraum und das dazugehörige Museum vorgestellt, was die Pläne des Holocaust Memorial Center durchkreuzte. Nachdem Ilja Chrschanowski im Mai 2020 zum künstlerischen Leiter des Zentrums berufen wurde, veröffentlichte die ukrainische kulturelle und akademische Community ein Statement zum Gedenken an Babyn Jar, in dem die Unterzeichner ihr Missfallen über die Bindungen des Zentrums an Russland zum Ausdruck brachten und das Gesamtkonzept der Abbildung von Ereignissen in Babyn Jar ablehnten. Das staatliche Konzept für die Gedächtnisstätte Babyn Jar wurde nach mehreren Überarbeitungen und Diskussionen zwischen der Öffentlichkeit und ukrainischen und internationalen Experten im Frühjahr 2021 der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, und der Regierung vorgelegt.

Zeugen der Shoah: Selbsterzählungen in der Erinnerungskultur des Holocaust in der Ukraine

Ein gemeinsames Anliegen eint fast alle heutigen Initiativen zu Holocaust-Studien und zur Bewahrung der Erinnerung: den Überlebenden, den Rettern, den Helfern oder einfach den Zeugeneine Stimme zu verleihen. Diese Stimmen können sich in unterschiedlichen Formen manifestieren: in akademischen Monografien oder in der Entwicklung von Unterrichtsplänen, in Hochschulkursen, Bildungsprojekten und in Aufklärungsinitiativen.

Die intensive wissenschaftliche Erforschung des Holocaust entwickelte nach der Auflösung der Sowjetunion eine neue Dynamik. Im Vergleich zur europäischen und amerikanischen Geschichtsforschung jedoch fehlt in der ukrainischen Historiographie heute noch immer ein umfassender und nuancierter Forschungsansatz zum Holocaust. Derzeit gibt es zwei Hauptströmungen der Forschung. Die erste fokussiert sich auf Täterforschung und die Studie von Nazi-Institutionen, ihren Befehlsstrukturen, Regelwerken und Verbrechen in den verschiedenen besetzten Gebieten der Ukraine. Die zweite Strömung rekonstruiert die Schicksale jüdischer Gemeinden und Personen, wobei sie den Holocaust aus der Perspektive der Überlebenden und Zeugen untersucht und sich dabei oft auf aufgezeichnete Zeugenaussagen stützt. Beide Richtungen beschäftigen sich mit den lokalen und regionalen Dimensionen des Holocaust, wozu auch die Tragödie von Babyn Jar gehört.  

Besonderes Augenmerk gilt den Zeugenberichten über Babyn Jar, zum Beispiel in einem speziellen Artikel des Bandes „Babyn Jar: Geschichte und Gedächtnis”. Selbsterzählungen bieten die einzigartige Gelegenheit, die Tragödie von innen heraus zu begreifen und gewähren so Einblicke, die in anderen historischen Dokumenten oft nicht geboten werden. Genia Batashova, eine ikonische Persönlichkeit unter den Überlebenden von Babyn Jar, erinnert sich noch immer an den Weg zur Hinrichtungsstätte als ein Tor zur Hölle, einen Punkt ohne Wiederkehr, wo ein entsetzliches Schicksal die erwartete, die Babyn Jar entgegengingen:

„Da waren Deutsche. Sie standen dort mit Hunden, Maschinenpistolen und Schlagstöcken. Und sie waren nicht für eine Zeremonie aufmarschiert. Sie trieben uns wie Vieh voran. Ich benutze immer dieses Wort, weil kein anderes ausreicht. Sie trieben uns, die wir einfach gingen, mit Schlagstöcken an. Wenn Menschen stehen blieben, hetzten sie die Hunde (auf sie) … Mama weinte so sehr, dass ich ganz starr wurde. Ich erinnere mich daran, dass Mama und Lisa weinten, aber Grisha und ich weinten nicht. Ich war einfach erstarrt. Wenn ich euch sage, was ich damals dachte. (sic). Mir wurde klar, dass ich sterben würde. Und ich dachte, dass ich nie wieder Zahnweh haben würde. Damals litt ich sehr darunter, dass meine Zähne oft weh taten. Das war die einzige Möglichkeit, mir selbst zu helfen. Obwohl Mama die ganze Zeit weinte, versuchte sie … ich erinnere mich an ihre Hände, sie versuchte die ganze Zeit…, uns mit ihrem Körper zu schützen. Die ganze Zeit…. Sie weinte so sehr, den ganzen Weg, sie weinte so sehr. Der Weg war nicht sehr lang. Auf dem Weg rissen sich Menschen schon die Haare aus. Und überall war dieses Gebrüll!”

Batashova erzählt, dass diese Straße zu einem kleinen Platz führte, der ungefähr 250 auf 150 Meter maß. Dieser Platz gehörte schon zu Babyn Jar, wie sie betont. Am Ende des Platzes waren Rutschen mit künstlichen Planken, dahinter war “der Tod, sie schossen dort schon, Maschinenpistolen ratterten ununterbrochen.” Man hörte unaufhörliches Geschrei, Menschen hasteten umher und versuchten wimmernd, den Schlägen auszuweichen und von den Hunden wegzukommen.

Dieser und weitere mündliche Berichte sind auf der USHMM Website frei abrufbar. Andere Sammlungen mit Zeugenberichten über die Verfolgung während des Zweiten Weltkriegs sind nur über institutionellen Zugriff zugänglich. An dieser Stelle sei erwähnt, dass vor kurzem der institutionelle Zugang zu bedeutenden Sammlungen von Holocaust-Zeugenberichten in der Ukraine, wie dem Fortunoff-Archive und Sammlungen der USC Shoah Foundation zwei Nichtregierungsorganisationen gewährt wurde: dem Zentrum für Stadtgeschichte und dem Babyn Yar Holocaust Memorial Center. Das Letztgenannte führte von 2018 bis 2021 ein eigenes umfangreiches Projekt zur Aufzeichnung von Zeugenberichten über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg mit dem Titel „Voices” durch, in dem etwa 1 800 Interviews gesammelt und archiviert wurden. Mit Beginn der russischen Invasion wurden das Projekt und die Archivierung des mündlichen Geschichtsmaterials zunächst ausgesetzt.

Die Zeugenberichte von Holocaust-Überlebenden und Augenzeugen werden auch in Bildungsinitiativen zur Förderung von Empathie, Verstehen und Respekt eingesetzt.  Ukrainische Lehrkräfte nutzen Interviews, die sie entweder selbst zusammen mit ihren Schülern im Rahmen lokaler Projekte aufgezeichnet haben oder die, die von den oben erwähnten Organisationen zur Verfügung gestellt werden. Das IWitness USC Shoah Foundation Projekt beispielsweise bietet eine Reihe von Unterrichtsplänen in ukrainischer Sprache an, die auch Zeugenberichte von Menschen, die Holocaust und Verfolgung selbst erlebt haben, enthalten.

Ukrainische Nichtregierungsorganisationen, die sich auf Holocaust-Studien spezialisiert haben, stellen ebenfalls Unterrichtsmaterialien mit Leitlinien zur Arbeit mit Zeugenberichten zur Verfügung, wie z.B. den Unterrichtsband In First Person: History of the Holocaust in Testimonies (Selbsterzählungen: Die Geschichte des Holocaust in Zeugenberichten). Diese Sammlung von Texten wird in Bildungsmaßnahmen im Rahmen des Projekts „Protecting Memory” (Das Andenken schützen) eingesetzt, das darauf zentriert ist, die Holocaust-Massengräber und die Erinnerung in der Ukraine zu erhalten.

 

Dokumentarfilme

Eines der am weitesten verbreiteten Mittel, um der breiten Öffentlichkeit Wissen über den Holocaust in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs zu vermitteln, sind Dokumentarfilme, die hauptsächlich auf mündlich erzählten Geschichten basieren. Ein Film, der in besonderem Maß die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gewann, war  „Spell Your Name" (Buchstabiere deinen Namen), dessen Fokus auf dem Holocaust in der Ukraine liegt. Die Produktionsleiter des Films sind Steven Spielberg und Wiktor Pintschuk, Regie führt Sergey Bukovsky. Der Film basiert auf Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden und Menschen, die Juden vor den Nazi-Massakern retteten.

Die Premiere des Dokumentarfilms fand 2006 in Kiew in Anwesenheit von Spielberg und 2 000 Vertretern der Wirtschafts- Politik- und Kulturelite der Ukraine statt. Alle im Film verwendeten Interviews waren in den 1990er Jahren auf Steven Spielbergs Initiative nach der Fertigstellung von „Schindlers Liste” 1994 aufgenommen worden. Die Stiftung Visuelle Geschichte – Überlebende der Shoah, die in jenem Jahr gegründet worden war, um Video-Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden und Augenzeugen zu sammeln, ist heute bekannt als USC Shoah Foundation.

Im Oktober 1996 begann die Stiftung mit Interviews in der Ukraine und schloss etwa dreitausendfünfhundert davon ab. Diese Gespräche spiegelten eine Reihe unterschiedlicher Erfahrungen wider; dazu gehörten die Berichte von jüdischen Überlebenden, Rettern, Befreiern, Zeugen der Befreiung und politischen Gefangenen.

Ein weiterer Dokumentarfilm über den Holocaust in der Ukraine ist „Wordless" (Wortlos), der die Vernichtung der jüdischen Gemeinde in der kleinen Stadt Turka in der Nähe von Kiew schildert. Er wurde auf der Grundlage von Augenzeugenberichten gestaltet. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bildeten die Juden die größte ethnische Gruppe in Turka mit mehr als 40 Prozent der Gesamtbevölkerung. Von den 4 500 dort lebenden Juden überlebten nur ein paar Dutzend.  Die meisten Opfer wurden zum Vernichtungslager Belzec transportiert und dort in den Gaskammern ermordet; weitere tausend wurden in der Stadt selbst erschossen.  Der Film „Wordless” wurde 2021 von der Bürgerorganisation „After Silence” (Nach dem Schweigen) in Zusammenarbeit mit Wanna Production gedreht, als Teil des „Memory Network Project“ der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas”, gefördert vom deutschen Auswärtigen Amt.

 

Die Herausforderungen angesichts des aktuellen Russisch-Ukrainischen Krieges

Seit Beginn der großflächigen Invasion der Ukraine durch Russland steht die Bewahrung des Holocaust-Gedenkens in der Ukraine vor neuen Herausforderungen. Der russische Aggressor hat in der Ukraine Menschen getötet, Gebäude zerstört – auch Kulturdenkmäler und Gedenkstätten, einschließlich der Denkmäler und Gedenksymbole, die den ukrainischen Juden als Opfer des Holocaust gewidmet waren. Russische Bomben und Raketen trafen das Gebiet von Babyn Jar bei Kiew und beschädigten Teile der Gedenkstätte, und sie zerstörten die Gedenkstätte in Drobytskyj Jar in Charkiw.

Am 18. März 2022 endete das Leben von Boris Romanchenko, einem ehemaligen Häftling von Buchenwald, als eine russische Rakete seine Wohnung in Charkiw traf und der 96-jährige Mann sofort ums Leben kam. Vanda Obyedkova, die den Holocaust in Mariupol überlebte, indem sie sich im Keller versteckte, starb am 4. April 2022 im ähnlichen Keller, während sie sich vor den russischen Bombardierungen der Stadt versteckte.

Ukrainische Wissenschaftler und Lehrende haben damit begonnen, Vergleiche zwischen den Verbrechen der Hitlerdiktatur und der Putindiktatur herauszuarbeiten, wie Anatoliy Podolsky, Leiter des Ukrainischen Zentrums für Holocaust-Studien, in seiner Rede vor der Akademischen Arbeitsgruppe der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) während der Versammlung vom 28. November bis 1. Dezember 2022 darlegte.

Der fortdauernde Krieg hat nicht nur zahlreiche Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht, sondern auch zu Veränderungen im Geschichtsunterricht bezüglich des Holocaust geführt. Angesichts der Bedeutung des Themas fand am 26. September 2023 in München ein Round-Table-Gespräch mit dem Titel „Aufklärung über den Holocaust in Zeiten des russischen Überfalls auf die Ukraine” statt. Die Kommentierung des ukrainischen Protokolls dieser Diskussion betont, dass Lehrende, die sich mit dem Thema Holocaust befassen, feststellen, dass der Zweite Weltkrieg und der Holocaust von Putins Regime instrumentalisiert werden, um den brutalen Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen. Politische Führer und Kreml-Propagandisten ziehen unangemessene Parallelen zwischen der Situation der Juden während des Holocaust und den russischen Volksgruppen im russisch-ukrainischen Krieg; sie versuchen, auf diese Weise ein Opfer-Narrativ zu schaffen. Gleichzeitig nutzt die ukrainische Regierung angesichts der Bedrohung für die Existenz des Staates die Geschichte und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für die nationale Mobilisierung.

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine entstand nach und nach eine Schule von Geisteswissenschaftlern, die sich mit Holocaust-Studien beschäftigen. Das Thema wurde zum integralen Bestandteil der Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen und überall im Land. Internationaler Gedenktag für die Opfer des Holocaust wurde in der Ukraine erstmals am 27. Januar 2012 begangen. Darüber hinaus haben sich während der Jahre der Unabhängigkeit und Souveränität gesellschaftliche und staatliche Einrichtungen gebildet, deren Arbeit erheblich dazu beigetragen hat, die Politik und Kultur der Erinnerung an die Opfer des Holocaust zu formen und lebendig zu halten.

 

Gelinada Grinchenko ist Professorin für Geschichte am Institut der Ukrainistik der Nationalen Wassyl-Karasin-Universität in Charkiw.

 

Literatur:

  • Dieter Pohl: The Murder of Ukraine’s Jews under German Military Administration and in the Reich Commissariat Ukraine / The Shoah in Ukraine: history, testimony, memorialization / edited by Ray Brandon and Wendy Lower, 2008. – P. 23-76.
  • Alexander Kruglov: Jewish Losses in Ukraine, 1941–1944 / The Shoah in Ukraine: history, testimony, memorialization / edited by Ray Brandon and Wendy Lower, 2008. – P. 272-290.
  • John-Paul Himka.:The Reception of the Holocaust in Postcommunist Ukraine / Bringing the dark past to light: the reception of the Holocaust in postcommunist Europe / edited and with an introduction by John-Paul Himka and Joanna Beata Michlic, 2013. – P. 626-662.
  • Andrii Portnov: The Holocaust in the Public Discourse of Post-Soviet Ukraine / War and memory in Russia, Ukraine and Belarus / edited by Julie Fedor, Markku Kangaspuro, Jussi Lassila, Tatiana Zhurzhenko, 2017. – P. 347-370.
  • Vladyslav Hrynevych and Paul Robert Magocsi: Introduction // Babyn Yar: History and Memory / Edited by Vladyslav Hrynevych and Paul Robert Magocsi. – К.: DUKH I LITERA, 2016. – p. V-VIII.
  • Gelinada Grinchenko:  Babyn Yar as Oral History // Babyn Yar: History and Memory / Edited by Vladyslav Hrynevych and Paul Robert Magocsi. – К.: DUKH I LITERA, 2016. – p. 179-203.

 

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