Ausgabe: 4/2023
Neue Prioritäten, neue Partner?
Der russische Krieg gegen die Ukraine hat mit seinen massiven Auswirkungen auf die weltweite Energieversorgung die strategischen Prioritäten der Energiepolitik der Europäischen Union drastisch verändert. Beim Versuch, innerhalb kürzester Zeit notgedrungen einen Großteil der europäischen Energieimporte zu ersetzen – etwa 30 Prozent der Öl- und 45 Prozent der Gas-importe stammten zuvor aus Russland – beschritt die EU neue Wege. Ein Quantensprung in der eigenen Energiepolitik sollte den Übergang zu alternativen Energieträgern beschleunigen und Europa unabhängiger von fossilen Brennstoffen machen. Durch Energiepartnerschaften sollte ein Diversifizierungsschub erfolgen, der die EU aus ihrer einseitigen Abhängigkeit von Russland löst. Im Zuge dieser Doppelstrategie zum Ausbau der Energiesicherheit einerseits und Anschub der Energietransformation andererseits fand Brüssel plötzlich einen neuen, alten Partner in den öl- und gasreichen Staaten der arabischen Halbinsel.
Die Energieproduzenten am Golf gehören schon länger nicht mehr zu den wichtigen Lieferanten für Europa. Längst exportieren die Öl- und Gasproduzenten Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) den Großteil ihrer Mineralstoffprodukte nicht mehr in den Westen, sondern nach Asien – allen voran nach China und Indien, aber auch nach Japan und Südkorea sowie in südostasiatische Länder. So entfiel unmittelbar vor Kriegsausbruch in der Ukraine kaum noch ein Zehntel der Öl- und Gasexporte Katars oder Saudi-Arabiens auf EU-Mitgliedstaaten, bei den Exporten der VAE lag der EU-Anteil sogar bei weniger als drei Prozent.
Angesichts der sich verschärfenden Energiekrise verabschiedete die EU im Mai 2022 jedoch einen Kanon aus Strategiedokumenten, welcher den Golfstaaten wieder deutlich mehr Bedeutung für Brüssels Energiepolitik beimaß. Kurzfristig sollten insbesondere Katar und andere Golfstaaten einspringen, um mit Flüssiggaslieferungen (LNG) den ungedeckten Energiebedarf der EU zu bedienen. Darüber hinaus nahm die EU die Energietransformationspläne am Golf, vor allem zur Wasserstoffproduktion, in den Fokus und machte die Golfstaaten als wichtige künftige Exporteure von erneuerbaren Energieträgern für die europäische Energiewende aus.
Anderthalb Jahre später klaffen Anspruch und Wirklichkeit einer möglichen EU-Energiepartnerschaft mit dem Golf jedoch weit auseinander. Die Golfstaaten könnten zwar mit ihren exzellenten natürlichen Voraussetzungen – für fossile wie erneuerbare Energieproduktion – und ihrer langjährigen Erfahrung als Energieexporteure zu wichtigen Partnern für die angestrebte Importdiversifizierung der EU werden. Überschneidende Interessen beider Seiten im Energiebereich bieten im aktuellen Kontext auch eine willkommene Gelegenheit für eine Vertiefung der Beziehungen. Dennoch werden sich diese Potenziale nur verwirklichen lassen, wenn ein besseres Verständnis der gegenseitigen strategischen Prioritäten geschaffen wird und sich die Kooperationsansätze – insbesondere von Seiten der EU – nicht an Widersprüchen zwischen Anspruch und Wirklichkeit zerreiben.
Neue strategische Weichenstellungen
Angesichts der Verwerfungen auf den internationalen Energiemärkten hatte die EU mit ihrem RePowerEU-Plan im Mai 2022 zügig nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine einen ambitionierten strategischen Rahmen geschaffen, um bis 2027 unabhängig von russischen Energieimporten zu werden. Um dies zu erreichen, plant die EU, ihren Energieverbrauch durch Einsparungen und Effizienzsteigerungen zu senken, die Transition hin zu einer klimaneutralen Energieversorgung aus heimischen Quellen zu beschleunigen, sowie ihre Energieimporte durch neue Energiepartnerschaften zu diversifizieren, um Abhängigkeiten zu minimieren. Sowohl in dem Strategiedokument als auch in der öffentlichen Kommunikation der EU nimmt hierbei der Aspekt der internationalen Energiepartnerschaften eine wichtige Rolle ein.
Und so ist es sicherlich kein Zufall, dass die EU am Tag der Bekanntmachung des RePowerEU-Plans auch zwei weitere Strategiedokumente veröffentlichte, die sich auf externe Partnerschaften, insbesondere im Bereich Energiepolitik, beziehen: die aktualisierte Fassung der „EU External Energy Engagement Strategy“ (EEES) sowie die gemeinsame Mitteilung „A Strategic Partnership with the Gulf“.
Die EEES zielt darauf ab, neue Energiepartnerschaften voranzutreiben, die sowohl den kurz- bis mittelfristigen Erdgasbedarf als auch den mittel- bis langfristigen Bedarf an erneuerbaren Energiequellen für die Energiewende decken und die Abhängigkeit von einzelnen Energielieferanten verringern. Kurzfristig soll dafür der Einkauf von Gas erleichtert werden, insbesondere durch eine schnelle Operationalisierung der „EU Energy Platform“, die dazu dienen soll, die Nachfrage zu bündeln und mit internationalen Partnern zu verhandeln, um den gemeinsamen Einkauf von Gas und Wasserstoff zu erleichtern. Für die mittelfristige Energietransition betont die EEES insbesondere die Notwendigkeit eines Ausbaus des internationalen Wasserstoffhandels, um die Hälfte des für 2030 geplanten jährlichen Bedarfs von 20 Millionen Tonnen Wasserstoff durch Importe zu decken.
Auch in der Mitteilung zur strategischen Partnerschaft mit der Golfregion ist der Wunsch der EU erkennbar, angesichts gestiegener Herausforderungen zur Sicherung energiepolitischer Interessen die Zusammenarbeit mit den Ländern des Golfkooperationsrates (GCC) auszubauen. Bis dato waren die Beziehungen zwischen Europa und der Golfregion vorrangig durch bilaterale Partnerschaften auf Ebene der Mitgliedstaaten gekennzeichnet – was verdeutlicht, dass weder die EU noch der Golfkooperationsrat jeweils Blöcke mit homogenen Interessen sind. Die neue Strategie soll nun die interregionale Dimension der Zusammenarbeit stärken und einen Fahrplan für vertiefte Beziehungen in zentralen Themenbereichen bieten. Dabei bildet neben anderen Themen der Bereich „Grüner Wandel und nachhaltige Energiesicherheit“ ein zentrales Kooperationsfeld im Strategiepapier. Darin werden die Golfstaaten als verlässliche Lieferanten von LNG, aber auch als potenzielle neue Partner für den Import von grünem Wasserstoff herausgestellt.
Mit dem Dreiklang aus RePowerEU, EEES und strategischer Partnerschaft mit dem Golf hat sich die EU ein ambitioniertes Paket aus energiepolitischen Zielen gesetzt, um im Zuge der Umwälzungen der europäischen Energiepolitik die Kooperation mit den Golfstaaten auszubauen. Zwar bewies die EU damit, dass sie – entgegen verbreiteten Vorbehalten – auch innerhalb kürzester Zeit auf neue geopolitische Realitäten mit weitreichenden politischen Anpassungen reagieren kann. Der Erfolg der neuen energiepolitischen EU-Außenstrategie misst sich jedoch an Ergebnissen. Gerade mit Blick auf den Golf offenbart sich hier deutlicher Verbesserungsbedarf.
Potenziale und Realitäten der EU-GCC-Energiekooperation
Die EU betrachtet insbesondere LNG und grünen Wasserstoff als Schlüsselbereiche für eine vertiefte und strategische Energiekooperation mit den GCC-Staaten. Während Erdgas als Übergangsenergie fungieren soll, bildet Wasserstoff nach EU-Vorstellungen den Kern einer langfristigen Energiekooperation mit den GCC-Mitgliedern zur Unterstützung der europäischen Wende hin zu erneuerbaren Energien. Schon diese Zeitlinie offenbart jedoch erste Differenzen zwischen Europa und dem Golf, der aus ökonomischem Eigeninteresse möglichst lange Lieferverträge für Gas und andere fossile Brennstoffe vereinbaren möchte. Zudem bleibt die EU hinter ihrem Anspruch, als zentrale Schaltstelle für künftige Energiepartnerschaften zu fungieren, deutlich zurück. Im Gegenteil: Im Widerspruch zu den hehren Vorsätzen der genannten EU-Strategiedokumente waren es doch wieder europäische Nationalstaaten, die während der Energiekrise 2022/2023 im Alleingang bilaterale Energiekooperationen mit Golfstaaten aufbauten – während die EU nur eine untergeordnete Rolle spielte.
Der Wettlauf um Gas: Strukturelle Verwerfungen und nationale Alleingänge
Als unmittelbare Folge des Krieges in der Ukraine hat sich die Importstruktur der EU erheblich verändert. Nachdem Russland traditionell einen großen Teil des europäischen Gasimports lieferte (45 Prozent beziehungsweise 115 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2021), ist der Verkauf von russischem Pipelinegas nach Europa im Winter 2022/2023, der ersten Heizperiode nach Kriegsausbruch, im Vergleich zum Vorjahr um rund 80 Prozent zurückgegangen. Insgesamt deckt russisches Gas heute nur noch 10 Prozent des gesamten Bedarfs der EU – ein beachtlicher Rückgang.
Der Wegfall russischer Gasimporte wurde zum Teil durch Käufe von verflüssigtem Erdgas ausgeglichen, die im Vergleich zu 2022 um 60 Prozent auf 130 Milliarden Kubikmeter anstiegen. Die EU wurde 2022 damit zum größten LNG-Importeur der Welt. Der Löwenanteil davon wiederum wird durch LNG-Einfuhren aus den Vereinigten Staaten abgedeckt, die gegenwärtig etwa 15 Prozent der gesamten europäischen Gasnachfrage auffangen. Die verbleibende Versorgungslücke beim Import von LNG wird heute von den großen GCC-Gasexporteuren, vor allem Katar, aber auch vom Oman und von den VAE geschlossen. Allein Katar hat seine Gaslieferungen in die EU in der vergangenen Heizperiode um circa 15 Prozent erhöht und damit hauptsächlich Belgien, Frankreich, Italien und Polen beliefert.
Dennoch bleibt das Angebot auf dem internationalen LNG-Markt knapp. Da ein Großteil der LNG-Kapazitäten der Golfstaaten in langfristigen Verträgen – vor allem mit ostasiatischen Importeuren – gebunden ist, konnten sie ihr Angebot für Europa nicht entsprechend ausweiten. Katar etwa lieferte seit Kriegsausbruch nur insgesamt fünf Milliarden Kubikmeter an zusätzlichem LNG nach Europa. Vor dem Hintergrund gestiegener Nachfrage kündigte Doha zwar an, seine Produktion bis 2027 um 44 Milliarden Kubikmeter pro Jahr zu erhöhen, um zusätzliche Exportkapazitäten zu schaffen, von denen ein Teil auf den europäischen Markt entfallen könnte. Auch die VAE hatten bereits zuvor geplant, die Gasproduktionskapazität bis 2030 auf jährlich 13 Milliarden Kubikmeter anzuheben. Dennoch gehen Prognosen davon aus, dass das internationale LNG-Angebot knapp bleiben wird.
Um sich Anteile an diesen künftigen zusätzlichen Exportkapazitäten zu sichern, sollte die EU laut ihrer Strategiepapiere als einheitlicher Verhandlungsblock auftreten und gemeinsam neue Energiepartnerschaften aufbauen. Die Wirklichkeit steht jedoch in starkem Kontrast dazu. Nur 11 von 122 zwischen Januar 2022 und August 2023 von EU-Staaten unterzeichneten Energieabkommen mit insgesamt 32 Ländern weltweit – darunter 13 Erdgasverträge mit Bahrain, Katar, Oman und den VAE – wurden auf EU-Ebene geschlossen; beim Rest handelt es sich um rein bilaterale Abkommen. Dazu zählen auch die wegweisenden LNG-Abkommen Deutschlands: ein 15-Jahres-Vertrag mit dem katarischen staatlichen Energiekonzern Qatar Energy über 2,8 Milliarden Kubikmeter LNG pro Jahr, der ab 2025 3,7 Prozent des prognostizierten deutschen Gesamtgasbedarfs decken soll, und ein kleinerer deutscher Liefervertrag mit dem emiratischen Staatsunternehmen Abu Dhabi National Oil Company (ADNOC), der bereits 2023 begann.
Dies zeigt, dass trotz gegenteiliger Absichtserklärungen die meisten europäischen Staaten in nationale Alleingänge zurückfielen, um ihre Erdgasversorgung nach Kriegsausbruch zu sichern. Dem Anspruch, sich angesichts eines weltweiten Unterangebots zu koordinieren, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken, steht eine vollkommen konträre Wirklichkeit entgegen, in der sich EU-Staaten gegenseitig ausstachen, um bilaterale Deals unter anderem mit den Golfstaaten abzuschließen. In den Partnerländern der EU bleibt dieses Auseinanderklaffen zwischen Rhetorik und Realität nicht unbemerkt – und trägt nicht gerade zum Bild der EU als kohärenter und durchsetzungskräftiger Akteur bei. Dass eine Bündelung der EU-Nachfrage in der Praxis kaum funktioniert, liegt vor allem am mangelnden politischen Willen der Mitgliedstaaten. Für große EU-Mitglieder mit gutem Marktzugang besteht wenig Anreiz, das gemeinsame Auftreten der EU nach außen zu stärken, wenn dafür nationale Souveränität abgegeben und ein längerer und aufwendigerer Vergabeprozess in Kauf genommen werden muss – zumal dies vor der heimischen Wählerschaft in Zeiten hoher Energiepreise schwer zu rechtfertigen scheint.
Die EU-Energieplattform, die im Rahmen des RePowerEU-Plans geschaffen wurde, könnte hier Abhilfe schaffen und die Nachfrage bündeln, die Nutzung der Infrastruktur koordinieren sowie gemeinsame Verhandlungen mit internationalen Partnern ermöglichen, um den gemeinsamen Einkauf von Gas zu erleichtern. Der Koordinierungsmechanismus ist jedoch ein freiwilliges Instrument, was dessen Nutzung bisher hemmt. Bislang müssen EU-Mitglieder nur 15 Prozent ihrer Gasspeicherkapazitäten über die Energieplattform ausschreiben, auch wenn einzelne europäische Staaten schon darüber hinausgehen – wie beispielsweise Bulgarien, das 100 Prozent seines Gasbedarfs über die Plattform abwickelt. Zwar hat die EU-Energieplattform nach einer langen Anlaufzeit ab Mai 2023 endlich begonnen, Gaskäufe auszuschreiben, und in einer ersten Runde auch ungefähr zwei Milliarden Kubikmeter LNG vermittelt. Damit der Mechanismus aber echte Marktmacht entwickelt, müsste ein bedeutend größerer Teil der EU-Gaseinkäufe darüber abgewickelt werden.
Aussichten für den Gasimport: Divergierende Zeithorizonte
Neben Schwächen bei der Koordinierung des europäischen Auftretens gegenüber internationalen Energiepartnern stehen einer LNG-Partnerschaft zwischen der Golfregion und Europa auch strukturelle Hindernisse aufgrund widersprüchlicher Planungshorizonte der EU und der Golfstaaten entgegen.
Europäische Entscheidungsträger betrachten Erdgas lediglich als Brückenlösung, der LNG-Import vom Golf ist aus EU-Sicht daher nicht mehr als eine temporäre Stütze, die sukzessive ersetzt werden soll. Bis Mitte des Jahrhunderts will die EU ihr „Net-Zero-Ziel“ umsetzen und hat sich dafür eine beschleunigte Emissionsreduktion von 55 Prozent bis 2030 vorgenommen. Prognosen gehen daher davon aus, dass in einem Szenario, in dem die EU ihre Ziele zur CO2-Neutralität erreichen würde, die Gasnachfrage bereits 2030 um 50 Prozent unter dem Niveau von 2019 liegen würde. Selbst wenn die EU ihre Ziele nicht gänzlich erreicht, könnte ein beschleunigter Vorstoß zur Dekarbonisierung die Gasnachfrage immer noch um 30 Prozent unter das Niveau von 2019 drücken. Eine wirklich strategische Energiepartnerschaft zwischen EU und GCC verortet Europa eher im Bereich der erneuerbaren Energien.
Die Golfstaaten sehen den Sachverhalt genau umgekehrt: Eine verlässliche, langfristige Partnerschaft, auch bei Gasexporten, ist für die Entscheidungsträger am Golf die Wirtschafts- und Vertrauensbasis, auf der die künftige Energiekooperation mit Europa aufbauen kann. Trotz der fortschreitenden Energiewende und des mittelfristigen Rückgangs der Gasnachfrage glaubt man am Golf nicht an eine schnelle Abkehr vom Gas. Zudem setzen die GCC-Mitglieder stark darauf, dass über technische Lösungen, wie CO2-Abscheidung und -Speicherung, Öl und Gas künftig klimaneutral produziert werden könnten.
Energiekooperation mit den Golfstaaten stehen.
Die Prognose ist nicht ganz unbegründet: Da der Wegfall der Importe aus Russland die insgesamt sinkende Nachfrage in Europa teilweise ausgleicht, bleiben die Grundlagen für den Ausbau von LNG-Partnerschaften zwischen EU und GCC in den kommenden Jahren grundsätzlich attraktiv. Insbesondere in einem Szenario, in dem die EU ihre Dekarbonisierung zwar beschleunigt, aber bis 2030 noch nicht auf Kurs zum „Net-Zero-Ziel“ ist, würden im Vergleich zu 2019 immer noch zusätzliche 40 Milliarden Kubikmeter an LNG-Importen benötigt, um weggefallene russische Gaslieferungen zu ersetzen.
Nicht zuletzt darauf setzen die Gasproduzenten vom Golf, wenn sie LNG nicht nur als bloße Zwischenlösung, sondern als Komponente einer längerfristigen Energiepartnerschaft zwischen der EU und der Golfregion bewerten und möglichst lange Lieferverträge mit der EU anstreben. Die EU täte gut daran, hier mehr Flexibilität an den Tag zu legen, wenn ihr der Aufbau von Energiepartnerschaften mit dem Golf – nicht nur beim LNG, sondern darauf aufbauend auch beim Wasserstoff – ein Anliegen ist.
Grüner Wasserstoff: Zukünftiges Standbein der
EU-GCC-Energiekooperation?
Neben LNG will die EU vor allem Wasserstoff ins Zentrum ihrer künftigen Energiekooperation mit den Golfstaaten stellen. Nachdem die EU grünen, also durch die Elektrolyse von Wasser mit Strom aus erneuerbaren Quellen hergestellten, Wasserstoff als eine Schlüsselkomponente ihrer Energiewende identifiziert hat, hat sie ihre Prognose für den künftigen Wasserstoffbedarf im RePowerEU-Plan um fast ein Vierfaches, auf 20 Millionen Tonnen pro Jahr bis 2030, erhöht. Aufgrund ihrer natürlichen Gegebenheiten werden europäische Staaten jedoch nicht in der Lage sein, ausreichende Mengen an grünem Wasserstoff für den eigenen Bedarf zu produzieren. Die EU beabsichtigt daher, bis 2030 jährlich zehn Millionen Tonnen grünen Wasserstoff zu importieren und damit die Hälfte ihres geplanten Wasserstoffbedarfs zu decken – der derzeit größte angekündigte Importbedarf für grünen Wasserstoff weltweit.
Um den Zeitplan für ihre Energiewende einzuhalten, muss sich die EU dabei auf Länder konzentrieren, die in der Lage sind, relativ zeitnah relevante Mengen grünen Wasserstoffs zu wettbewerbsfähigen Preisen zu liefern. Neben drei Wasserstoffkorridoren – in der Nordseeregion (Norwegen und Großbritannien), mit der Ukraine und im südlichen Mittelmeerraum – sollen dafür auch Partnerschaften mit weiteren Ländern abgeschlossen werden. Analysen weisen innerhalb der Golfregion auf Saudi-Arabien, die VAE und Oman als besonders vielversprechende Kandidaten für Wasserstoffexporte in den kommenden Jahren hin und auch die EEES identifiziert den Golf in dieser Hinsicht als vielversprechende Region.
Die Attraktivität der Golfstaaten als Wasserstoffpartner für die EU ergibt sich aus einer Kombination von Faktoren, darunter hervorragende natürliche Bedingungen für die Erzeugungerneuerbarer Energien, insbesondere Solarenergie, gut ausgebildete Arbeitskräfte im Energiesektor, beträchtliche finanzielle Kapazitäten und nicht zuletzt bereits angelaufene, ambitionierte Projekte zum Aufbau der Wasserstoffproduktion. Der Golf kann auf Wissen und Infrastruktur zurückgreifen, allen voran hinsichtlich der Produktion von Ammoniak – einem Wasserstoffderivat – und blauem Wasserstoff, die beide aus Erdgas unter Einsatz von Technologien zur Abscheidung der entstehenden Emissionen hergestellt werden. Die GCC-Staaten haben zudem eine Exportinfrastruktur wie LNG-Terminals. Aufgrund dieser Faktoren ist ein Skalieren der Wasserstoffwirtschaft am Golf mit vergleichsweise kurzen Vorlaufzeiten und geringen Investitionen möglich. Ebenfalls positiv für die Exportperspektive ist laut Prognosen, dass das Produktionspotenzial für kohlenstoffarmen Wasserstoff die Inlandsnachfrage der Golfstaaten bei Weitem übersteigen dürfte, wodurch eine Konkurrenz zwischen Wasserstoff für die heimische Versorgung und dem Export unwahrscheinlicher ist als in anderen Produktionsländern.
Zwar bestehen auch Hürden für den Wasserstoffhandel zwischen Europa und der Golfregion. Eine dieser Herausforderungen betrifft die hohen Energieverluste beim Transport von Wasserstoffderivaten per Schiff: Da es bisher keine Pipeline-Verbindungen vom Golf nach Europa gibt, ist dies im Vergleich zu Importen aus näher gelegenen Regionen, wie Nordafrika, die über bestehende, umrüstbare Pipelines verfügen, ein möglicher Wettbewerbsnachteil.
Im Vergleich zu anderen vielversprechenden Wasserstoffproduzenten, die Exportabsichten geäußert haben, wie Australien und Chile, würde die geografische Nähe zum europäischen Markt angesichts hoher Kosten und der technischen Komplexität des Wasserstofftransports allerdings einen Wettbewerbsvorteil für die GCC-Staaten darstellen. Mit der Ankündigung der G20 im September 2023 zur Schaffung eines Wirtschaftskorridors, der Indien, den Mittleren Osten und Europa verbinden soll – und der unter anderem Pläne zur Errichtung einer Pipeline für grünen Wasserstoff beinhaltet – verbessert sich die langfristige Perspektive für den Export grünen Wasserstoffs aus dem Golf nach Europa weiter.
Auch die recht weit vorangeschrittenen Planungen und konkreten Projekte für die Wasserstoffproduktion machen die Golfstaaten als Partner attraktiv: Saudi-Arabien und die VAE haben als Vorreiter bereits große Projekte zur Produktion von grünem und blauem Wasserstoff sowie von Wasserstoffderivaten angekündigt und gestartet. Im Rahmen des saudischen Megaprojekts NEOM entsteht beispielsweise eine Produktionsanlage für grünen Ammoniak, die bis 2026 jährlich 1,2 Millionen Tonnen des Wasserstoffderivats für den Export produzieren soll. Saudi-Arabien plant, zum weltweit größten Wasserstoffproduzenten aufzusteigen, während die VAE bis 2030 einen Anteil von 25 Prozent am globalen Markt für kohlenstoffarme Wasserstoffe erreichen wollen. Auch das vergleichsweise kleine Sultanat Oman treibt zur Erreichung seiner ambitionierten Wasserstoffziele mit Nachdruck den Aufbau entsprechender Produktionskapazitäten voran. Dabei setzt das Land, das im Vergleich zu seinen Nachbarn nur über geringe Kohlenwasserstoffreserven verfügt, dezidiert auf die Produktion von grünem Wasserstoff.
Doch auch in diesem Bereich klaffen Lücken zwischen den Potenzialen und der Umsetzung der EU-Pläne zum Aufbau von Energiepartnerschaften mit dem Golf. Trotz der Komplementaritäten und des kommunizierten Interesses an Energiepartnerschaften mit dem Golf wurde bis dato keine einzige EU-Wasserstoffpartnerschaft mit einem GCC-Staat abgeschlossen. Stattdessen wurden EU-Abkommen mit Ägypten, Kasachstan oder Namibia bereits unterzeichnet – obwohl diese teils weniger fortgeschrittene Projekte zur Wasserstoffproduktion vorweisen können und der Import von schlechteren Rahmenbedingungen, wie der geografischen Entfernung, gekennzeichnet ist.
Hier drängt sich der Eindruck auf, dass manche politischen Kräfte in Europa grundsätzliche Berührungsängste mit den Golfstaaten haben, während aber mehrere Wertepartner Europas, wie Japan oder Südkorea, in Hochgeschwindigkeit ihre eigenen Energiekooperationen mit den Golfstaaten ausbauen. Hier sollte die EU erkennen, dass eine Energiepartnerschaft mit dem Golf nicht als Notlösung behandelt werden und kein falscher Gegensatz zwischen Werten und Interessen konstruiert werden sollte, der Potenziale für Wasserstoffpartnerschaften mit dem Golf letztlich ungenutzt lässt.
Definitionen als Gretchenfrage der Energiekooperation
Darüber hinaus stellt die Definition von erneuerbarem Wasserstoff, die für den von der EU geplanten Wasserstoffbedarf verwendet wird, einen potenziellen Knackpunkt in den Energiebeziehungen mit den GCC-Staaten dar. Während die EU aktuell eine strenge Definition anwendet, die nur grünen – also aus erneuerbaren Quellen hergestellten – Wasserstoff zulässt, beziehen sich die meisten Wasserstoffpläne der GCC-Staaten auf kohlenstoffarmen und damit sowohl grünen als auch blauen Wasserstoff. So hat beispielsweise die ADNOC angekündigt, bis 2030 jährlich eine Million Tonnen blauen Wasserstoff produzieren zu wollen, während Katar sich im Einklang mit seiner starken Ausrichtung auf Erdgas bisher vollkommen auf blauen Wasserstoff fokussiert, unter anderem auch durch den Export seiner LNG-Reserven für die Produktion von blauem Wasserstoff in anderen Ländern. Denn der Aufbau der Wasserstoffwirtschaft steht in den GCC-Staaten klar im Kontext der übergreifenden Wirtschaftsvisionen: Erneuerbare Energien und Energieträger werden als Mittel zur Diversifizierung der bisher stark fossil geprägten Energiesektoren und Volkswirtschaften sowie als zusätzliche Einnahmequelle – nicht als Ersatz für den Einsatz fossiler Energieressourcen – gesehen.
Zwar nimmt die EU mit ihren angekündigten Importbedarfen für grünen Wasserstoff weltweit aktuell die Spitzenposition ein und stellt entsprechend einen einflussreichen Absatzmarkt dar. Nichtsdestotrotz sollte die regulatorische Macht der EU, Definitionen und die entsprechende Ausrichtung der Produktion in Partnerstaaten zu prägen, nicht überschätzt werden.
Dies gilt insbesondere für die GCC-Mitglieder mit ihren beträchtlichen eigenen finanziellen Kapazitäten, ihrem starken wirtschaftlichen Interesse an der Produktion von blauem Wasserstoff auf Basis fossiler Reserven – und nicht zuletzt mit ihrem wachsenden politischen Selbstbewusstsein, durch das sich die Golfstaaten nicht länger als „Befehlsempfänger des Westens“, sondern als eigenständige Gestaltungsakteure verstehen. Bestehende Wirtschaftsbeziehungen zu asiatischen Energieimporteuren und der erwartete Anstieg der Nachfrage in Asien für grünen und auch blauen Wasserstoff bieten den GCC-Staaten zahlreiche alternative Exportmöglichkeiten. Das schließt nicht aus, dass ein wirtschaftliches Interesse besteht, sich an der EU-Definition für grünen Wasserstoff zu orientieren, um relevante Anteile an dem am schnellsten heranwachsenden Absatzmarkt für grünen Wasserstoff zu gewinnen. Beispielsweise für den Oman, der seine Ambitionen auf grünen Wasserstoff konzentriert, scheint eine solche Ausrichtung wahrscheinlich.
Um diese „First-Mover“-Chancen für den europäischen Absatzmarkt für grünen Wasserstoff zu realisieren, müssen die Golfstaaten als potenzielle Exporteure grünen Wasserstoffs jedoch klare Signale von europäischer Seite erhalten, dass sich die Investitionen für den Aufbau von Produktionsanlagen, Wertschöpfungsketten und Transportwegen lohnen. Aktuell scheint die Bereitschaft der GCC-Staaten für weitere Investitionen in die grüne Wasserstoffproduktion angesichts fehlender konkreter Abnahmeverträge von europäischer Seite begrenzt. Aus Sicht der GCC-Staaten ist der Ausbau der Produktionskapazitäten für blauen Wasserstoff und dessen Lieferung nach Asien wahrscheinlicher. Dies kann weder hinsichtlich ihrer Versorgungssicherheit noch des zügigen Aufbaus der europäischen Wasserstoffwirtschaft im Sinne der EU sein.
Ganz im Gegenteil: Es werden vermehrt Stimmen laut, die angesichts der langen Zeithorizonte für die Entwicklung und den Export relevanter Mengen grünen Wasserstoffs eine pragmatischere Sichtweise auf blauen Wasserstoff als Übergangsenergieträger fordern. Entsprechende Signale sind auch auf EU-Ebene erkennbar, allen voran in den Beratungen über das Paket zu Wasserstoff und dekarbonisierten Gasmärkten („Hydrogen and Decarbonised Gas Market Package“), das die Verwendung kohlenstoffarmen Wasserstoffs regeln und damit einen Schritt in Richtung einer breiteren möglichen Verwendung darstellen würde. Für potenzielle Wasserstoffpartnerschaften mit den Golfstaaten wäre dies ein vielversprechender Ansatzpunkt.
Von Potenzialen zu konkreter Zusammenarbeit
Trotz der Synergiepotenziale zeigen sich weiterhin deutliche Lücken zwischen den Ambitionen der EU, Energiepartnerschaften mit dem Golf aufzubauen, und der Realität der vergangenen anderthalb Jahre. Das Auftreten der Europäischen Union bleibt ausbaufähig, noch viel zu oft wird die europäische Energiepolitik am Golf von nationalen Alleingängen geprägt. Widersprüchliche Perspektiven von EU und GCC zum Zeithorizont von Gaslieferungen und den Definitionen von erneuerbarem Wasserstoff verhindern zudem, dass Potenziale einer engeren Energiekooperation ausgeschöpft werden. Außerdem ist die EU längst nicht mehr der einzige mögliche Wirtschaftspartner für den Golf – sollten die Widersprüche zwischen den jeweiligen Prioritäten nicht aufgelöst werden, werden die Golfstaaten stattdessen ihre Energiekooperationen mit anderen Partnern ausbauen. Auch Europa hat sicherlich alternative Energiepartner – etwa in Nordafrika. Doch wenn die EU die richtigen Konsequenzen aus der Energiekrise 2022/2023 ziehen will, dann bedeutet das, Energieimportstrukturen künftig möglichst breit zu diversifizieren. Die Golfstaaten sollten daher in Ergänzung zu anderen Energiepartnern eine wichtige Rolle spielen.
Um die Hindernisse zu überwinden und Potenziale für eine engere Partnerschaft zwischen der EU und den Golfstaaten zu verwirklichen, werden folgende Schritte entscheidend sein:
Abschluss von Wasserstoffpartnerschaften mit konkreten Rahmenbedingungen
Die EU sollte schnellstmöglich Wasserstoffpartnerschaften mit Exporteuren aus der Golfregion schließen. Besonders vielversprechende Kandidaten hierfür sind Saudi-Arabien, die VAE und der Oman. Im Rahmen der Wasserstoffpartnerschaften sollten konkrete Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit festgelegt und Abnahmemengen definiert werden, um Anreize zu schaffen, damit Golfstaaten in den Ausbau der Produktion grünen Wasserstoffs investieren, sowie um die Planungssicherheit für europäische Abnehmerunternehmen zu erhöhen. Eine pragmatischere Sichtweise auf blauen Wasserstoff als Übergangsenergieträger sollte forciert werden, um eine schnelle Skalierung zu ermöglichen und damit langfristig auch dem Einsatz grünen Wasserstoffs den Weg zu bereiten.
Erhöhung der Kohärenz der EU-Energiepartnerschaften
Um als geeinter und verhandlungsstärkerer Akteur nach außen aufzutreten, müssen Maßnahmen zur Erhöhung der Kohärenz in den Beziehungen mit Energiepartnern, allen voran die EU-Energieplattform, entschlossen vorangetrieben werden. Die Entwicklung der Plattform hängt vom politischen Willen und der Bereitschaft der Mitgliedstaaten ab, einen größeren Teil des EU-Gasbedarfs zu bündeln, um die Wirksamkeit des Mechanismus zu garantieren. Ähnliches gilt für die neu geschaffene Europäische Wasserstoffbank, die den Aufbau eines europäischen Wasserstoffmarktes durch gemeinsame Auktionen unterstützen soll.
Stärkung der Koordinierungsgremien zwischen EU und GCC
Zudem ist die Koordinierung zwischen der EU und dem Golfkooperationsrat mit Blick auf Energie zu verbessern. Vorgeschlagene Dialogformate wie das EU-GCC-Ministertreffen zur nachhaltigen Transition, ein Wirtschaftsforum für den Privatsektor zum Thema Energiewende und die EU-GCC-Gruppe für Energie und Klima müssen operationalisiert und zur verbesserten kontinuierlichen Koordinierung genutzt werden, um die Energiepartnerschaften auf politischer, wirtschaftlicher und technischer Ebene zu unterstützen.
Philipp Dienstbier ist Leiter des Regionalprogramms Golf-Staaten der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Jordanien.
Veronika Ertl ist Leiterin des Regionalprogramms Energiesicherheit und Klimawandel Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Marokko.
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