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1923: Weg nach Pan-Europa (Teil II)

Richard Coudenhove-Kalergis Traum von einer demokratischen, Frieden stiftenden Weltmacht

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Systematischer als seine Zeitgenossen entwickelte Richard Coudenhove-Kalergi unter dem Titel Pan-Europa Pläne zur Einigung des Kontinents, die er immer wieder den neuen politischen Gegebenheiten anpasste (siehe Die Politische Meinung, Nr. 580, Mai/Juni 2023, S. 106 –111, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/weg-nach-pan-europa ).

Seine Kolonialismusideologie erwies sich allerdings als schwere Hypothek seines Paneuropa-Projekts. Er änderte auch in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nichts an seiner bereits 1923 überholten Einstellung, dass die paneuropäischen Länder (also vor allem Frankreich, Belgien und Portugal) den Kontinent Afrika nach ihrem Willen ausbeuten könnten. Hatte der Pan-Europäer, der so viel – durch Alfred Fried – über Pan-Amerika wusste, noch nie von der Pan-Afrikanischen Bewegung gehört? Diese hatte bereits 1900 in London, der größten Kolonialmetropole der Welt, ein aufsehenerregendes Treffen veranstaltet. Hauptthema war die rassistische Diskriminierung von Schwarzen durch weiße Kolonialherren. Hatte Coudenhove-Kalergi nichts von den drei durch den Historiker W. E. B. Du Bois organisierten Pan-Afrikanischen Kongressen in den Jahren 1919, 1921 und 1923 in Paris, Brüssel und London mitbekommen? 1919 fand die Zusammenkunft parallel zur Pariser Friedenskonferenz statt. Damals wurde Woodrow Wilsons Versprechen zur Selbstbestimmung der Völker für Afrika und andere kolonisierte Weltregionen angemahnt. Diese Forderungen wurden 1921 und 1923 immer nachdrücklicher gestellt. Carl von Ossietzky fragte 1930 in seinem Essay über Paneuropa: „Weiß Coudenhove nicht, daß es schon lange eine Bewegung gibt: ‚Afrika den Afrikanern‘?“

 

Der Chauvinismus als Gefahr

 

Der Dekolonisierungsprozess im Britischen Imperium setzte bereits im März 1922 ein. Damals endete Großbritanniens vierzigjährige Herrschaft über Ägypten, ein sogenanntes Protektorat, dem seine Souveränität zurückgegeben werden musste und das sich mit einer eigenen monarchischen Regierung neu etablierte. Coudenhove-Kalergi setzte den anderen Weltmächten auseinander, dass die Macht Europas nicht zu unterschätzen sei, weil es „sein afrikanisches Kolonialreich“ besitze. Durch dessen „Erschließung“ könne „Pan-Europa alle Rohstoffe und Nahrungsmittel, die es braucht, selbst erzeugen und so auch wirtschaftlich unabhängig werden“.

Der Paneuropa-Theoretiker redete jedoch keineswegs einem Rassismus das Wort, wie er Hitlers Ausrottungsphantasien zugrunde lag. Die Nationalsozialisten griffen Coudenhove-Kalergi sowohl aus rassistischen Gründen (seine Mutter war Japanerin) als auch vor allem wegen seiner pazifistischen und antichauvinistischen Pläne für ein vereintes Europa an. Ihre These von einer deutschen respektive germanischen oder „arischen“ Herrenrasse, ihre Absicht, das Christentum als Religion zurückzudrängen und das Judentum zu vernichten, wie auch ihr nationalistischer Hegemonialtraum samt ihren Plänen zur Versklavung und Eliminierung ganzer Völker in Osteuropa: All das stand in direktem Gegensatz zu den zentralen Ideen Coudenhove-Kalergis.

Er schrieb und publizierte Pan-Europa 1922/23, noch bevor Hitler den Marsch zur Feldherrnhalle in München unternommen hatte. Erst diese gescheiterte Aktion und der daraus resultierende Prozess machte Hitler als „Führer“ einer rechtsradikalen und antisemitischen Partei allgemein bekannt. Coudenhove-Kalergi erwähnte Hitler nicht in Pan-Europa. Erst in den späten 1920er-Jahren, als die Paneuropa-Bewegung Zulauf erhalten hatte, bezog Hitler aggressiv gegen Coudenhove-Kalergi Stellung. In Hitlers Mein Kampf sind innenpolitisch die bürgerlichen und marxistischen Parteien sowie als Minorität die Juden die erklärten Gegner. Außenpolitisch wird die Annullierung des Versailler Vertrags gefordert. Verlangt wird ebenfalls die volle Souveränität und Unabhängigkeit Deutschlands sowie die Eroberung von „Lebensraum“ in Osteuropa, vor allem in Russland, mit Mitteln militärischer Landnahme, wodurch Krieg zum primären Vehikel der Begründung Deutschlands als Weltmacht erklärt wurde. Es ist, als denke Coudenhove-Kalergi bereits an Adolf Hitler, wenn er damals vermutlich eher Georges Clemenceau und Erich Ludendorff meinte, als er 1923 über die Kriegstreiber in den Jahren nach 1918 schrieb: „Der Staatsmann, der die nächste intereuropäische Kriegserklärung unterzeichnet – unterschreibt damit das Todesurteil für Europa.“ Der „Zukunftskrieg“ mit seinen technisch weiterentwickelten

„Zerstörungsmitteln“ ziele mit Sicherheit auf die „Ausrottung der feindlichen Nation“ ab, und seine „Schrecken“ würden „alle europäische Phantasie übersteigen“. Ein solcher Politiker könnte nur einer Clique „herostratischer Verbrechernaturen“ entstammen, die „den Untergang des eigenen Volkes“ in Kauf nähme. Wer solchen „Brandstiftern Vorschub“ leiste, sei „ein Hochverräter an seinem Volke, an Europa“, ja „an der Menschheit“ allgemein.

Coudenhove-Kalergi war überzeugt, dass er mit dem Entwurf eines vereinten Europas ein tragfähiges politisches Konstrukt geschaffen hatte. Diese Sicherheit resultierte aus seiner Kenntnis unterschiedlicher nationaler Kulturen, die er vergleichend studiert und auf Reisen konkret erlebt hatte. Seine Grundthese lautete: „Alle moderne Kultur in Europa ist national.“ Er verstand die nationalen Kulturen als „Kristallisationspunkt[e] der Gesittung und des Fortschritts“. Was er favorisierte, waren transnationale Horizonterweiterungen durch das Studium der Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten, Unterschiede und Gegensätze der europäischen Kulturen. Coudenhove-Kalergi unterschied streng zwischen einer nationalen Identität, die sich im Dialog mit den Kulturen anderer Länder entwickle, und einem „Chauvinismus“, für den ein „perspektivischer Fehler“ bezeichnend sei.

 

Nationaler und europäischer Patriotismus

 

Dem Chauvinisten, so hielt er fest, fehlten „die Maßstäbe zur Einschätzung der eigenen Kultur“. Daraus resultiere oft „nationaler Größenwahn“. Coudenhove-Kalergi deduzierte die nationalen Kulturen nicht aus einer abstrakten Definition europäischer Identität. Was den Angehörigen einer nationalen Kultur zum Europäer mache, sei „die Vertiefung und Erweiterung der nationalen Kultur zu einer europäischen“. Diese „Erweiterung“ vermittle ein „Gemeinschaftsgefühl“, aus dem „europäischer Patriotismus“ resultiere, der „als Krönung und Ergänzung des Nationalgefühls“ zu verstehen sei. Es ist dieser induktive Weg von der nationalen zur transnationalen Kultur, die den Autor im Hinblick auf das Projekt der europäischen Unifikation optimistisch stimmte. Die individuelle Erfahrung europäischer Diversität und Pluralität lasse hoffen, dass die kollektive transnationale Praxis den kooperierenden Nationen zugutekomme. Im evolutionären Prozess der Zusammenarbeit sollte sich das Ziel des europäischen Bundesstaates erreichen lassen.

Der Philosophiehistoriker Dag Nikolaus Hasse hat in seiner Studie Was ist europäisch? gezeigt, dass man „koloniale“ und „romantische Denkformen“ hinter sich lassen solle, wenn es heute um die Bestimmung europäischer Identität gehe.

Nicht nur europäische Länder hätten Wertvorstellungen der griechischen und römischen Antike beerbt und Phasen einer Trennung religiöser und weltlicher Herrschaft durchlaufen oder demokratische Regierungsformen entwickelt; umgekehrt sei Europa selbst im Mittelalter kein ausschließlich christlicher und in der Neuzeit kein primär durch Aufklärung geprägter Kontinent gewesen. Das ist richtig, allerdings kann man sich dem Argument Coudenhove-Kalergis nicht verschließen, dass es eine besondere historische Folge und Ausprägung kultureller Konflikte gab, deren Resultate fast überall in Europa Spuren hinterlassen haben. Wenn er von einer „einheitlichen europäischen Kultur“ spricht, ist der Begriff der „Einheit“ nicht im romantischen Sinne des Novalis mit Harmonie gleichzusetzen. Die Geschichte Europas sei geprägt durch permanent sich ändernde Formen des Widerstreits auf allen Gebieten: der Politik, der Religion, der Philosophie, der Ökonomie, der akademischen Forschung und Lehre.

 

Taktische Änderungen bei gleicher Strategie

 

In weiteren Publikationen hat Coudenhove-Kalergi dargelegt, dass er in jedem Jahrzehnt zwischen den 1920erund den 1960er-Jahren sein Einigungskonzept Pan-Europas modifiziert hat, weil sich in jeder Dekade die historischen Machtkonstellationen veränderten. Als Hitler 1933 seinen chauvinistischen, ebenso gegen West- wie Ost-Europa, das heißt gegen Demokratie und Kommunismus gerichteten Kurs, einschlug, bemühte sich Coudenhove-Kalergi um eine Art Schadensbegrenzung. Er wollte dazu beitragen, Hitlers Pläne des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich zu verhindern. Daher kooperierte er mit dem Ständestaat unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und hoffte, das faschistische Italien – 1934 noch Schutzmacht des Alpenstaates – von einer Allianz mit Hitler abzuhalten. Ihm schwebte ein „Defensivblock Frankreich – Italien – Kleine Entente – Österreich“ vor. Das ließ sich nicht realisieren, da sich Benito Mussolini 1936 auf den Freundschaftsvertrag „Achse Berlin–Rom“ einließ.

Als Coudenhove-Kalergi in den frühen 1940er-Jahren im amerikanischen Exil an der New York University lehrte, suchte er seine Paneuropa-Ideen der Roosevelt-Regierung plausibel zu machen: ebenfalls ohne Erfolg. Der amerikanische Präsident, so meinte Coudenhove-Kalergi feststellen zu müssen, sei davon überzeugt gewesen, dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur zwei Weltmächte geben werde: die USA und die UdSSR. Mit der Sowjetunion glaubte er sich nach der Zusammenarbeit im Krieg auch im Frieden arrangieren zu können. Da Moskau die europäische Einheit verhindern wollte, um Teile Mitteleuropas in seinen Einflussbereich zu bringen, verlor man in der Roosevelt-Administration das Interesse an einem Paneuropa, das von Portugal bis Polen reichen würde.

Coudenhove-Kalergi rief bald nach Kriegsende die Europäische Parlamentarier-Union ins Leben, von der er hoffte, dass ihre Mitglieder das Thema der europäischen Einheit in ihren nationalen Parlamenten zur Sprache bringen würden. Eines ihrer Mitglieder war Konrad Adenauer. Coudenhove-Kalergi hatte früh auf Adenauer in der Parlamentariergruppe gesetzt. Er behielt recht und formulierte in seinem Buch Die Europäische Nation:

„Die große Wandlung, die sich seit dem Erscheinen Adenauers auf der politischen Bühne vollzog, war der Übergang der Initiative auf die Regierungen.“ Auch in seinen Lebenserinnerungen von 1958 spielte der bewunderte Adenauer eine große Rolle. Adenauer blieb in den Nachkriegsjahren mit dem Paneuropa-Theoretiker in Verbindung, und er gratulierte ihm anlässlich der Verleihung des Karlspreises im Mai 1950 mit den Worten: „Ich bin aufrichtig erfreut, daß Sie diesen Preis erhalten. Sie verdienen ihn an allererster Stelle.“ Coudenhove-Kalergi unterstützte alle sich ergebenden Integrationsbestrebungen von der Westeuropäischen Union als Verteidigungsgemeinschaft über die Montanunion, die er ja bereits 1923 vorgeschlagen hatte, bis zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der sechs westeuropäischen Länder. Frank Niess betont in seiner Studie Die europäische Idee, dass es im Jahrzehnt nach 1945 eine ganze Reihe neuer Europa-Strategen gab, und dass Coudenhove-Kalergi nicht mehr jene primäre Rolle spielte, die ihm in den 1920er-Jahren zugefallen war. Nichtsdestoweniger blieb er eine Autorität, und die Gründungsväter Europas konsultierten ihn.

Als Charles de Gaulle 1958 in Frankreich an die Macht kam, brachte dieser mit Nachdruck seine Vorstellung vom Europa der Vaterländer ohne Souveränitätseinschränkungen der Mitgliedstaaten zur Geltung. Weil Frankreich das politisch dominierende Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war, unterstützte ihn Coudenhove-Kalergi. Damit rückte sein eigentliches Ziel – Paneuropa als Bundesstaat – in weite Ferne. Man müsse sehen, meinte er, dass in der Ära nach de Gaulle die föderale Struktur erneut angestrebt werde. Zur Beruhigung Coudenhove-Kalergis retteten die übrigen fünf EWG-Mitgliedstaaten die Kommission als supranationale Institution. Sie war ein Dorn im Auge des französischen Präsidenten, der die volle Souveränität seines Landes für sakrosankt hielt.

 

Wahlverwandte Weltmächte

 

Heute bekommt man den Eindruck, dass es im Europäischen Rat mehr Anhänger de Gaulles als Unterstützer jenes von Coudenhove-Kalergi favorisierten europäischen Bundesstaates gibt. In Krisenzeiten wie jetzt sollten sich die Staatschefs der Mitgliedsländer der Europäischen Union auf die Warnung des Paneuropa-Strategen besinnen, dass kein europäischer Einzelstaat den Einfluss einer Weltmacht besitzt und nur eine Europäische Union als Bundesstaat Weltmachtstatus erreichen kann. Coudenhove-Kalergi sah im demokratischen Amerika einen strategischen Partner, dem das vereinte Europa – trotz aller Konkurrenz – in „Solidarität“ verbunden sein sollte. Er erhoffte sich von „der Industrialisierung Chinas und dem Wiederaufbau Rußlands“ lediglich ökonomische Chancen für Paneuropa. Dagegen sah er das vielleicht in der Zukunft einmal geeinte Europa und die schon seit Langem vereinigten USA als wahlverwandte Weltmächte an. Zum 100. Geburtstag der visionären Schrift Pan-Europa sollte man die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich die Alte Welt wirklich einmal vereinigen wird und die Neue vereinigt bleibt.

 

Paul Michael Lützeler, geboren 1943 in Doveren (damals Kreis Erkelenz), Dr. phil. und Dr. h. c., deutschamerikanischer Germanist und Vergleichender Literaturwissenschaftler, Rosa May Distinguished University Professor emeritus in the Humanities, Gründungsdirektor des Max Kade Center for Contemporary German Literature, Washington University, St. Louis.

 

Der erste Teil dieses Beitrags ist erschienen in: Die Politische Meinung, Nr. 580, Mai/Juni 2023, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/weg-nach-pan-europa.

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