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Erlernbar ja, kopierbar nein

von Norbert Eschborn

Kanadas Modell der Arbeitsimmigration

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„Die Deutschen haben uns auf den Kurzwahltasten ihrer Telefone“, so lautet ein Running Gag unter Beamten des kanadischen Immigrationsministeriums. Tatsächlich sind die unternommenen Anstrengungen deutscher Legislativ- und Exekutivorgane zum Verständnis des kanadischen Einwanderungssystems beachtlich, wenngleich dabei oft nur das vielzitierte Punktesystem im Zentrum des Interesses steht. Übersehen werden hingegen zahlreiche andere wichtige Faktoren, die Kanada im Laufe der letzten fünf Jahrzehnte zu einem weltweiten Modell für Arbeitsimmigration haben werden lassen. Allerdings haben deutsche Fachleute wie Oliver Schmidtke, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Victoria (British Columbia), in ihren Forschungen zu Recht darauf hingewiesen, dass Kanadas Geschichte als nordamerikanische Einwanderungsgesellschaft Zweifel an der direkten Übertragbarkeit des Einwanderungssystems rechtfertige.

Aus deutscher Perspektive verleitet die Distanz über den Atlantik hinweg oftmals zu einer allzu vereinfachenden Idealisierung des Landes als Einwanderernation. Das kanadische Migrationsregime beschreibt jedoch weniger ein einmal festgelegtes Modell, sondern eine Praxis, die sich über die vergangenen Jahrzehnte fortlaufend verändert hat. Es besteht ein parteiübergreifender Konsens, dass Immigration wirtschaftlich und gesellschaftlich sinnvoll und ein grundlegender Bestandteil des modernen Kanadas geworden ist. Die Unterstützung für Immigration liegt in Umfragen relativ stabil über sechzig Prozent und verändert sich auch in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, negativer Berichterstattung über Migranten oder terroristischer Anschläge kaum.

Kanada ist das Land mit der weltweit höchsten Pro-Kopf-Zuwanderung. Während der letzten Dekade hat es pro Jahr etwa ein Prozent seiner Gesamtbevölkerung an Migranten aufgenommen (ungefähr 300.000). Bis in die 1960er-Jahre war die Migrationspolitik Kanadas – ganz in europäischer Tradition – von der Idee des Schutzes einer nationalen Gemeinschaft und ihrer ethnisch-kulturellen Grundlage geprägt. Mit der Einwanderungspolitik sollte die (post)koloniale Identität Kanadas als weiße Siedlergesellschaft gestärkt werden. Eine zum Teil offen rassistisch begründete Zurückweisung nicht-europäischer Migranten war üblich. Mitte der 1960er-Jahre brach Kanada radikal mit dieser Tradition. Die Auswahl und Integration von Migranten wurde grundlegend an pragmatischen, volkswirtschaftlich begründeten Kriterien neu ausgerichtet. Hintergründe dieses Paradigmenwechsels waren unter anderem Arbeitskräftemangel durch Abwanderung der einheimischen Bevölkerung in die USA und mangelnde Emigrationsbereitschaft von Westeuropäern, jedoch auch zivilgesellschaftlicher Veränderungsdruck.

Bewertungskriterien des seit 1967 angewendeten Punktesystems bei der Einwandererauswahl sind zum Beispiel Ausbildung, sprachliche Fähigkeiten (Beherrschung des Englischen oder Französischen), Arbeitserfahrung, Alter, bestehendes Arbeitsangebot und allgemeine „Anpassungsfähigkeit“ an das tägliche Leben in Kanada. Seit 2002 gilt der Immigration and Refugee Protection Act („Einwanderungs- und Flüchtlingsschutzgesetz“, IRPA), der alle Formen von Einwanderung in einem einzigen Gesetz zusammenfasst. Ziel ist es unter anderem, flexible, übertragbare Fertigkeiten und Qualifikationen, Bildungstitel und Arbeitserfahrung angemessener zu bewerten. Als Gründe zur Erlangung einer Aufenthaltsbewilligung gelten ökonomische Einwanderung, Familienzusammenführung und Flucht, wobei die „economic immigrants“ heute etwa sechzig Prozent der gesamten Einwanderung Kanadas ausmachen.

Signifikant ist die Verschiebung bei den wichtigsten Herkunftsländern von Einwanderern: 1871 waren 84 Prozent der Einwanderer in Großbritannien geborene Menschen. 2016 hatten 48 Prozent Migrationsbiografien aus Asien und dem Nahen Osten. Indien, Pakistan und China sind die drei häufigsten Herkunftsländer. Dessen ungeachtet liegt das Bildungsniveau von Migranten in ausgewählten Altersgruppen mittlerweile höher als dasjenige der in Kanada geborenen Bevölkerung. Durch das qualitativ hochwertige und eingleisig organisierte öffentliche Schulsystem erzielen Menschen mit Migrationshintergrund in Kanada tendenziell bessere Schulergebnisse und ähnlich gute Resultate auf dem Arbeitsmarkt als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund – im Gegensatz zu denjenigen aus den meisten anderen OECD-Ländern und Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

Die Einwanderung war seit jeher die treibende Kraft hinter Kanadas Arbeitskräfteangebot. Da jedoch Ende 2021 achtzig Prozent mehr freie Stellen zu besetzen waren als vor der COVID-19-Pandemie und die erwerbsfähige Bevölkerung altert, wird ein hohes Maß an Zuwanderung für den Arbeitsmarkt noch wichtiger werden. In den 2010er-Jahren entfielen 84 Prozent des Wachstums der gesamten Erwerbsbevölkerung und 55 Prozent des Wachstums bei den hoch- und mittelqualifizierten Arbeitsplätzen auf Einwanderer, während der Rückgang bei den geringer qualifizierten Arbeitsplätzen durch die in Kanada geborenen Arbeitnehmer ausgeglichen wurde. 2021 machten Neuzuwanderer (die sich seit höchstens zehn Jahren in Kanada aufhalten) acht Prozent der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung aus.

Die Arbeitsmarktergebnisse von Neuzuwanderern haben sich in den Jahren vor der Pandemie erheblich verbessert: Seit Anfang der 2010er-Jahre ist ihre Beschäftigungsquote in der Kernaltersgruppe (25 bis 54 Jahre) schneller gestiegen als die ihrer in Kanada geborenen Altersgenossen, und zwar um acht Prozent von 2010 bis 2021, verglichen mit einem Anstieg um zwei Prozent bei in Kanada geborenen Arbeitnehmern. Die Beschäftigungsquote lag 2021 bei den jüngsten Zuwanderern bei 77 Prozent, bei den längerfristigen Zuwanderern bei 81 Prozent und bei den in Kanada Geborenen bei 84 Prozent. Auch das anfängliche Einkommen der neuen Wirtschaftsmigranten ist stetig angewachsen: Ihr Verdienst im ersten vollen Beschäftigungsjahr stieg zwischen den Eintrittskohorten 2010 und 2018 um 39 Prozent und trieb damit den Gesamtanstieg von 35 Prozent für alle Neuzuwanderer voran. Dennoch haben neue Kohorten von Einwanderern zunehmend Probleme, zum kanadischen Durchschnittsgehalt aufzuschließen.

Während sich die wirtschaftlichen Ergebnisse von Neuzuwanderern verbessert haben, gibt es nach wie vor erhebliche Probleme bei der Nutzung ihrer Qualifikationen. Von 2001 bis 2016 sank der Anteil der Hochschulabsolventen unter den Neuzuwanderern, die in Berufen arbeiten, die einen Hochschulabschluss erfordern, von 46 Prozent auf 38 Prozent. Im Vergleich dazu lag der Prozentsatz der Arbeitnehmer, die in Berufen arbeiten, die einen Hochschulabschluss erfordern, bei jungen (25 bis 34 Jahre) in Kanada geborenen Arbeitnehmern mit mindestens einem Bachelor-Abschluss bei fast sechzig Prozent. Integration wird als gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe verstanden. Wichtige Instrumente der settlement programs sind die Unterstützung am Arbeitsmarkt, bei Sprachvermittlung und Diskriminierungsbekämpfung. Ziel des Systems ist auch der schnelle Erwerb der Staatsangehörigkeit. Sie ermöglicht die rechtliche Gleichstellung von Einwanderern auf dem Arbeitsmarkt sowie die Inklusion in das politische System und ist nach weniger als zehn Jahren möglich. Daher gibt es sehr hohe Einbürgerungsraten – regelmäßig optieren achtzig bis neunzig Prozent aller Einwanderer, die hierfür qualifiziert sind, für die kanadische Staatsangehörigkeit.

Ist Kanada deswegen ein Erfolgsmodell für Arbeitsimmigration? Nur bedingt. Die Websites von auf Einwandererberatung spezialisierten Anwaltskanzleien und nicht-staatlichen Beratungsunternehmen benennen die Immigrationshindernisse sehr offen: Fehlende Anerkennung ausländischer Ausbildungsabschlüsse steht ganz oben auf der Liste und betrifft vor allem Mediziner, obwohl diese händeringend gesucht werden. Mangelnde, in Kanada erworbene Berufserfahrung ist ein weiteres Problem für viele Arbeitgeber, und über manch gescheitertem „Dream Canada“ steht unausgesprochen der Vorwurf der rassistischen Diskriminierung der abgelehnten Person. Betroffene berichten manchmal vorwurfsvoll darüber in den Medien; einige kehren auch zurück in ihre Herkunftsländer.

Ein vergleichbares Modell wie das kanadische in Deutschland aufzubauen, erscheint wenig aussichtsreich. Von dem, was Kanada in fünf Jahrzehnten erreicht hat, ist sicherlich vieles erlernbar, aber nicht kopierbar.

 

Norbert Eschborn, geboren 1963 in Wiesbaden, promovierter Politikwissenschaftler, Leiter des Auslandsbüros Kanada der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Ottawa.

 

Ein ergänzender Beitrag zu den Erfahrungen mit der Fachkräfteentsendung in Kasachstan, verfasst von Johannes Rey, Leiter des Auslandsbüros Kasachstan der Konrad-Adenauer-Stiftung, und Eva Lennartz, Doktorandin an der School of Sciences and Humanities, Nazarbayev University (Astana), ist ebenfalls auf unserer Website www.politische-meinung.de abrufbar.

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