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Wer nach oben schaut, weiß, dass er unten ist...

von Joachim Kügler

Biblische Randbemerkungen zur Frage nach einem christlichen Menschenbild

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Die „kleinen Leute“ haben immer schon davon gesprochen, dass „die da oben“, die Großen und Mächtigen, sie weder wahrnehmen noch verstehen noch irgendetwas für sie tun. In feudalen oder autoritären Systemen ist dies erwartbare Kritik und in der Regel berechtigt. In einem demokratischen Sozialstaat ist diese Kritik ein echtes Problem, weil „die da oben“ eigentlich von allen gewählt und für alle da sein sollten. Wo das Volk als Souverän definiert ist, sollte sich niemand „unten“ fühlen, sondern als Staatsbürgerin respektive Staatsbürger mit dem Recht auf Mitwirkung. Dass wir weltweit von diesem Ideal (auch in Musterdemokratien) angesichts extremer Status-, Vermögens- und Machtunterschiede weit entfernt sind, ermöglicht die politische Ausbeutung des „Unten“-Gefühls durch rechte Demagogen, die in der Regel mit den „kleinen Leuten“ nichts zu tun haben, allerdings die lukrative Rolle des „Volkstribuns“ kapern, weil sie ihnen politische Vorteile verspricht. Selbst von „oben“ kommend – Donald Trump reist gern mit einer Boeing 757 an, niederbayrische Nachahmer sind auf vergleichsweise bescheidene Dienstlimousinen angewiesen –, entziehen sie sich der Kritik an real existierender Ungleichheit durch ein tarnendes Solidarisierungsspiel. So lässt sich das Oben angreifen, ohne die Oben-Unten-Ordnung zu gefährden. Populismus will selbst nach oben, aber nicht das Oben abschaffen oder auch nur Unterschiede reduzieren. Vor diesem politisch heiklen, durchaus demokratiegefährdenden Hintergrund wirkt die Wahrnehmung der Wirklichkeit in räumlichen Kategorien beklemmend aktuell. Der spatial turn – die topologische Wende – der Kulturwissenschaften hat dazu geführt, auch die biblischen Texte verstärkt unter Raumaspekten zu analysieren. Die politischen und privaten Räume der antiken Welt, in der die biblischen Texte entstanden sind, sollen als gesellschaftliche Bedeutungsträger für die Textinterpretation erschlossen werden. Räume werden in der Lebenswirklichkeit individuell und kollektiv „bespielt“ und erhalten dadurch Sinn und Bedeutung. Die Bedeutungsaspekte von Räumen werden in Texten funktionalisiert und zur Konstruktion der Textaussage benutzt. Da sich biblische Texte in der Regel in autokratischen oder aristokratischen Kontexten bewegen, ist der Unterschied des Oben und Unten erwartungsgemäß besonders wichtig.

 

Raum und Weltordnung

In antiken Welten ist das Oben für Gott (Himmel) beziehungsweise die Götter (Olymp) reserviert, während die Menschen zum Unten gehören. Es gibt nur wenige, besondere Menschen, die Zugang zu dem göttlichen Oben haben. In der Regel sind dies mächtige Menschen, weil das Oben eben der Raum der Macht ist. Und diese Mächtigen sind in der Regel Männer, weil Macht eben in vielen Kulturen als männlich definiert wird. Die Macht ist die entscheidende Verbindung zwischen Religion und Politik. Weil Gott beziehungsweise die Götter Machtwesen sind, vertreten die Herrscher, die auf Erden Macht haben, diese göttliche Macht. Nicht nur das alte Ägypten ist überzeugt, dass königliche Macht letztlich göttliche Macht ist. Auch die anderen Kulturen des Alten Orients und später der hellenistisch-römischen Welt teilen diese Überzeugung. Demokratische Konzepte sind nicht sehr verbreitet, und wo sie zu finden sind, ist die Republik in der Regel eine Angelegenheit der Oberschichtmänner. Alle Frauen und arme, zugezogene und versklavte Männer sind von der politischen Macht solch elitärer „Demokratie“ ausgeschlossen.

Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Jörg P. Anders / Public Domain Mark 1.0
Albrecht Dürer (1471–1528), „Stehender Apostel (Paulus oder Jakobus major)“, 1508, Zeichnung, Pinsel in Schwarz, weiß gehöht, auf grün grundiertem Papier, Blattmaß: 40,7 × 24,0 cm.

Die Monarchie ist aber ohnehin der Normalfall antiker Staatsformen. Räumlich drückt sie sich durch die Differenz vom Oben und Unten und durch die Distanz zwischen Zentrum und Peripherie aus. Wo es die örtlichen Gegebenheiten zulassen, thront der König oben, und dort, wo es nicht einmal einen Hügel gibt, wird zumindest durch den erhöhten Thronsitz ausgedrückt, dass der König zum göttlichen Oben gehört.

 

Religion und Politik in jüdisch-christlicher Perspektive

Im Buch Exodus geht allein Mose hinauf auf den Berg Sinai, um dort dem Gott Israels zu begegnen und von ihm die göttliche Weisung entgegenzunehmen. Diese bringt er dann hinab zum Volk, das unten geblieben ist und die Weisung empfängt. Und so ist es wenig überraschend, wenn Mose in den nachbiblischen Schriften des Frühjudentums eine herausragende Rolle spielt, die weit über die eines Propheten hinausgeht. Nur ein Beispiel: Bei Philo von Alexandria, dem großen jüdischen Religionsphilosophen der antiken Welt, bleibt zwar Gott der eigentliche König und Herrscher der Welt, aber er überträgt dem Menschen Mose ein Königtum, das nicht nur die ganze Welt umfasst, sondern sogar den gesamten Kosmos mit all seinen Elementen. Als Partner Gottes und Erbe des gesamten Kosmos wird Mose sogar als „Gott und König“ des Volkes bezeichnet (Philo, Das Leben des Moses, 1. Buch, §§ 155–158). Hier sind, wie so oft, Oben und Unten keine absoluten Kategorien, sondern sind abgestuft. Dem obersten Oben Gottes ist das Oben des Moses untergeordnet. Aber auch das Unten des Volkes ist nicht absolut. Denn die Frommen des erwählten Gottesvolks dürfen ja zumindest hinaufziehen auf den Berg, wo der Tempel als Haus Gottes steht (Psalm 24). In der Regel aber erhebt der König den Anspruch, am Oben Gottes zu partizipieren und dieses Oben durch seine Macht zu vergegenwärtigen. Das gilt für die realen Könige von Israel und Juda, die die Gottkönige der Mittelmeerwelt nachahmen. Und dies gilt natürlich erst recht für den erwarteten Messias-König als „Sohn Gottes“ (Psalm 2).

Im Neuen Testament wird bekanntlich behauptet, dieser Messias sei niemand anders als Jesus von Nazareth. Dass die meisten Menschen der damaligen Zeit diesen Anspruch wenig überzeugend fanden, dürfte auch daran liegen, dass sich bei Jesus eben überhaupt keine räumliche Umsetzung eines Oben findet. Mangels Macht und mangels Machtstreben baut Jesus keine Residenzen auf Bergen wie Herodes, verbindet sein Wohnhaus nicht mit einem Tempel, wie dies Augustus in Rom mit dem Apoll-Tempel macht. Der Wanderprediger aus Galiläa teilt das Leben im Unten mit der Landbevölkerung und bewegt sich auf Augenhöhe mit ihnen. Die Erzählungen über ihn haben dennoch keine Mühe, ihren Christus dem Oben der Gottesmacht zuzuordnen. Das Matthäusevangelium setzt Jesus auf einen Berg und lässt ihn nach dem Vorbild des Moses seine Lehre als neue Thora vortragen. Eine noch entscheidendere Bedeutung erhält freilich die Erhöhung des Auferstandenen zu Gott. Im himmlischen Oben thront Jesus als Sohn mit dem göttlichen Vater und regiert von dort die Welt; so sieht es schon Paulus (Römerbrief 1,4: „[…] eingesetzt zum Sohn Gottes in Macht“ ) und so erzählen es die Himmelfahrtserzählungen am Ende des Lukasevangeliums sowie zu Beginn der Apostelgeschichte. Paulus kennt allerdings auch schon eine Tradition, die das göttliche Oben nicht erst dem Auferstandenen zuordnet. Im Brief nach Philippi zitiert Paulus im zweiten Kapitel ein Lied, das Jesus aus dem Oben Gottes kommen lässt: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich“ (Philipperbrief 2,6–7). Damit wird der Erhöhung des Auferstandenen das Herabkommen aus dem göttlichen Oben vorangestellt. So entsteht eine kreisförmige Bewegung im Raum: Der Erlöser kommt von oben, bewegt sich bei den Menschen in der Fläche und kehrt dann zurück in das Oben des himmlischen Vaters. Diese zyklische Bewegung wird dann im Johannesevangelium radikalisiert und prägt bis heute das christentümliche Bild von Jesus als Christus und Gottessohn. Deshalb wird in der Regel eben weniger von der Gottwerdung des Menschen Jesus gesprochen, sondern vielmehr von der Menschwerdung Gottes. Und wohl auch deswegen ist Weihnachten vielen Menschen deutlich wichtiger als Ostern.

 

Das Problem des leeren Himmels

 

Angesichts der Einbettung der biblischen Texte in eine hierarchische Politikkultur könnte man eigentlich erwarten, dass der Blick nach oben zu den empfohlenen Haltungen der Untertanen gehört. Aber das ist erstaunlicherweise kaum der Fall. Vielmehr wird allen, Königen wie Untertanen, empfohlen, nach oben zu schauen und auf Gottes himmlische Macht zu vertrauen. Das gilt für den todkranken König (Jesaja 38,14) ebenso wie für die unschuldig angeklagte Susanna (Daniel 13,35). Auch von Jesus wird erzählt, dass er nach oben blickt, um Kontakt mit seinem himmlischen Vater aufzunehmen (Matthäus 14,19; Markus 6,41 und 7,34; Lukas 9,16). Und Stephanus blickt empor und sieht Gott und seinen Messias im Himmel thronen. Der Blick auf diese ultimative Autorität befähigt ihn dann, für seine Überzeugung zu sterben (Apostelgeschichte 7,55). Im Kontext von Weihnachten ist auch auf die Magier aus dem Osten hinzuweisen, die oben am Himmel den Stern des Messias aufgehen sehen und sich von diesem Stern zu Jesus führen lassen (Matthäus 2,2–10).

Es wäre jedoch eine allzu naive politische Theologie, wollte man nun einfach allen, die sich heute politisch betätigen und Verantwortung tragen, empfehlen, wieder mehr „nach oben“ zu schauen, auf eine übergeordnete, himmlische Autorität, um sich von ihr leiten zu lassen. Das erste Problem ist ja schon, dass für viele Menschen heute der Himmel leer ist. Da ist kein Gott, zu dem man aufblicken könnte, kein Christus-Stern, der eine(n) leiten könnte. Und im demokratischen Kontext könnte man sogar fragen, ob eine Berufung auf eine allerhöchste Autorität nicht auch problematisch wäre. Dürften politische Entscheidungen überhaupt von Autoritäten neben und über den Gesetzen abgeleitet werden? Was, wenn das zum Widerspruch gegen die Verfassung und die Gesetze führen würde? Immerhin scheint der Gott der Bibel ja kein Demokrat zu sein …

Das Problem des leeren Himmels könnte man notfalls noch dadurch lösen, dass man das Konzept der Menschenwürde als höchste, nicht mehr hinterfragbare Autorität erachten würde. Eine Theologie, die ohnehin die Menschenrechte als Gottesspur (so der Theologe Hans-Joachim Sander) dechiffriert, hätte damit vielleicht gar kein großes Problem. Eine demokratiegefährdende Wirkung müsste man da vermutlich auch nicht befürchten – wenn auch gewisse Widersprüche zu gesetzlichen Regelungen nicht auszuschließen wären. Ungelöst bliebe aber ein praktisches Problem, das das Matthäusevangelium mit seiner schönen Geschichte vom messianischen Leitstern verdeckt. Wer einmal am Heiligen Abend in Bethlehem war und die Prozession verfolgt hat, die angeblich dem Weg von Maria und Josef zur Geburtsstätte des Jesuskindes folgt, der wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass der Stern verdammt niedrig fliegen musste, um dann später den Magiern den Weg durch das Gassengewirr zum Jesuskind zu zeigen. So ist aber eben die Realität: Sterne können Orientierung auf dem Meer geben, aber sie zeigen niemandem den Weg durch Straßen und Gassen, und sie bleiben auch nicht über einem Haus stehen.

 

Umkehr der Raumperspektive

 

Und mit der Menschenwürde und den Menschenrechten ist es in der politischen Praxis genauso. Sie geben Orientierung und schließen bestimmte Dinge aus, aber sie müssen tagespolitisch immer in einzelne Maßnahmen heruntergebrochen werden, um erfahrbare Wirklichkeit zu werden. Menschenwürde und Menschenrechte müssen verortet werden, besonders da, wo sie gefährdet sind. Dazu ist mehr als nur der Blick nach oben notwendig: Es braucht Politik auf Augenhöhe, die diejenigen, in deren Namen sie handelt, bedingungslos ernst nimmt. Wer nach oben schaut, weiß, dass er unten ist. Das ist für demokratische Politik ein wichtiger Schritt, weil es jene, die politische Macht haben, immer wieder daran erinnert, dass nicht sie und ihr (manchmal egoistischer) Gestaltungswille die höchste Autorität ist, sondern dass eine absolute Idee freien Menschseins dieses Allerhöchste ist – für Glaubende sogar eine Gegenwartsform Gottes! Aber der Blick der Mächtigen nach oben ist noch keine Lösung, solange er nicht zur Wahrnehmung der anderen führt. Diese Wahrnehmung muss in einer echten Demokratie letztlich sogar zur Umkehr der Raumperspektive führen. Wenn das Volk der Souverän ist, über dem nur noch die höchste Autorität der Menschenrechte „thront“, dann schauen die politisch Handelnden nicht nur nach oben auf dieses Höchste, um dann nach unten auf „die Menschen“ zu schauen.

Vielmehr geht der Blick in zweifacher Weise nach oben: zum Höchsten der Menschenwürde und zum Souverän des Volkes, das mehr ist als die Nation. „Die da oben“ als „die da unten“? Zu schön, um wahr zu sein – gewiss. Aber eben auch zu schön, um es nicht wahr werden zu lassen.

 

Joachim Kügler, geboren 1958 in Weismain, Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Wissenschaften, Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

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