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Rainer Unkel / Süddeutsche Zeitung Photo

Essay

Das Wahlrecht in den USA

von Prof. Michael Hochgeschwender

Ein historischer Abriss

Das amerikanische Wahlrecht beruht bis heute auf Praktiken, die schon im 18. Jahrhundert etabliert wurden. Anders als in Deutschland wählen die Bürger der Vereinigten Staaten nach dem Mehrheitswahlrecht, was dazu führt, dass ausschließlich zwei Großparteien die Wahl bestimmen. Auch das Verfahren der National Conventions zur Bestimmung der Kandidaten unterscheidet sich wesentlich von den deutschen Gepflogenheiten. Die zunehmende Ideologisierung beider Großparteien, die den Aufstieg des Populismus begünstigte und heute die Bereitschaft zum Kompromiss erschwert, setzte mit den culture wars der 1960er Jahre ein.

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Im November 2024 ist es wieder einmal so weit: Zum 59. Mal seit 1792, dem Jahr, nachdem die Verfassung von 1787 in Kraft getreten war, wählen die Bürger der USA ihren Präsidenten sowie ein Drittel des Senats (dessen Mitglieder für sechs Jahre gewählt werden) und das gesamte Repräsentantenhaus, das nur über eine zweijährige Legislaturperiode verfügt. Hier soll nun die Wahl zum Präsidenten im Vordergrund stehen, die aus verschiedenen Gründen für Kontinentaleuropäer nicht immer ganz einsichtig ist: Zum einen basieren viele Vorschriften und Verfahrensweisen der Präsidentenwahl auf Praktiken des späten 18. Jahrhunderts, zum anderen sind generalisierende Aussagen oft schwierig, weil das Wahlrecht in den USA Sache der Einzelstaaten ist. Dies gilt vor allem für die erste Stufe des Wahlverfahrens, die Nominierung der Kandidaten, die traditionell im Frühjahr vor der eigentlichen Wahl einsetzt. Diese Zweistufigkeit ist ein Produkt einer relativ späten historischen Entwicklung, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm.

 

Mehrheitswahlrecht: The winner takes it all

Prinzipiell wurzeln die amerikanischen Wahlsysteme in den Traditionen des britischen Mutterlands. Bereits vor der Amerikanischen Revolution (1773–1783) wurde in den britischen Kolonien Nordamerikas gewählt. Aus diesen Wahlen gingen dann die sogenannten assemblies hervor. Die Frage, über welche Kompetenzen diese assemblies gegenüber dem imperialen Parlament des Vereinigten Königreichs in Westminster verfügten, insbesondere, ob sie dessen Steuergesetzgebung blockieren konnten, zählte zu denjenigen Streitpunkten, die letztlich die Revolution auslösten. Wie in Großbritannien wurde in den Kolonien nach dem Mehrheitswahlrecht und dem Prinzip the winner takes it all gewählt, das bis heute weitgehend seine Gültigkeit behalten hat. Demnach erhielt der Sieger eines Wahlkreises das Mandat, während die unterlegene Partei von diesen Stimmen im Grunde nicht profitieren konnte.  Parteilisten und Verhältniswahlrecht sind den USA stets fremd geblieben, obwohl Reformer immer wieder danach rufen, um Minderheitenpositionen eine bessere Repräsentation zu verschaffen. Das Mehrheitswahlrecht begünstigt ein System zweier großer Volksparteien, bei denen es sich im Kern um mehr oder minder lockere Koalitionen unterschiedlicher weltanschaulicher Strömungen mit jeweils divergierenden regionalen Schwerpunkten handelt. Vor allem aber sorgt es für klare und stabile Mehrheiten, wohingegen Koalitionsregierungen vermieden werden.

Schon vor der Unabhängigkeit von 1776 existierte ein schwerwiegender Unterschied zwischen Großbritannien und den Kolonien. Während im Mutterland im Verlauf des 18. Jahrhunderts nur etwa drei bis vier Prozent der männlichen Bevölkerung wählen durften, waren es in den Kolonien zwischen 60 und 80 Prozent. Gewiss, auch in den Kolonien gab es ein auf Eigentum, vor allem Landbesitz, beruhendes oligarchisches Zensuswahlrecht, aber aufgrund der Verfügbarkeit von Land war der Anteil möglicher Wähler dort immens höher als in der Heimat. Auch dies war ein Grund für die Missverständnisse zwischen Großbritannien und seiner Kolonialbevölkerung. Den amerikanischen Kolonisten war schlicht nicht einsichtig, warum Parlamentarier, die praktisch von kaum jemandem gewählt wurden, das Recht haben sollten, Gesetze für das gesamte Empire zu verabschieden.

 

Indirekte Wahl durch electors

Mit der neuen Verfassung wurde dann das Wahlrecht in groben Zügen angelegt. Die Wahlen zum Präsidenten sollten immer am ersten Dienstag im November stattfinden, Mehrheitswahlrecht und Zensuswahlrecht blieben erhalten. Da 1792 Parteien nur rudimentär existierten und sie überdies von der Verfassung gar nicht vorgesehen waren, blieb der Nominierungsprozess rechtlich ungeklärt. Vorerst konnte sich nach Belieben jeder, der über die notwendigen finanziellen Mittel, beziehungsweise die notwendige politische und mediale Unterstützung verfügte, zur Wahl stellen. Angesichts der starken verfassungsrechtlichen Stellung des Präsidenten, der tatsächlich über weitaus mehr Macht verfügte als der britische Monarch, bauten die Gründerväter einige Sicherungen ein, die dafür Sorge tragen sollten, missliebige Kandidaten von vornherein auszuschließen. Da sie allesamt dem Denken der aristokratisch-liberalen Aufklärung verhaftet waren, wollten sie den Primat tugendhafter, vernünftiger Eigentümer (Eigentum garantierte mithin Tugend und Vernunft) wahren, um die special interests der besitzlosen Armen von der Macht auszuschließen.

Die USA der frühen Jahrzehnte waren eine oligarchische, liberale Republik, keine Demokratie. Der Präsident sollte ein würdevoller Gentleman sein, kein Prolet. Deswegen wurde er auch nicht direkt gewählt, sondern indirekt von den electors, den Wahlmännern, deren Gremium bis heute existiert, aber seit den 1830er Jahren eigentlich nur noch ein symbolisches Relikt darstellt. Diese Wahlmänner sind bis heute primär ihrem Gewissen verpflichtet, weswegen es von Zeit zu Zeit runaway electors oder mavericks gibt, die entgegen dem Auftrag ihrer Wähler abstimmen. Im Laufe der Zeit aber stellten die Parteien nur noch solche Kandidaten als Wahlmänner auf, deren Loyalität sie sich sicher sein konnten. Neben dem Wahlmännergremium sollten das Mindestalter von 35 Jahren und die Bestimmung, nur geborene Bürger der USA, die mindestens 15 Jahre im Land gelebt hatten, seien wählbar, für ein Mindestmaß an Zuverlässigkeit in der Kandidatenauswahl sorgen.

Sollte keiner der Kandidaten im Wahlmännergremium eine Mehrheit erhalten, ein Fall, der 1800 und 1820 tatsächlich eintrat, so wählte das Repräsentantenhaus den Präsidenten. Hier zählten dann aber nicht die Stimmen der einzelnen Repräsentanten, sondern diese stimmten nach Einzelstaaten ab, die dann den Präsidenten im Block wählten. 1800 benötigte Thomas Jefferson ausgerechnet gegen seinen radikalen Parteifreund Aaron Burr 36 Wahlgänge und zog nur aufgrund von Absprachen mit den gegnerischen Federalists um Alexander Hamilton in das Weiße Haus ein, weil er als halbwegs moderat galt. Vier Jahre später tötete Burr dann Hamilton im Duell. Den Vizepräsidenten bestimmte unter diesen Umständen dann der Senat.

Befugnisse der Einzelstaaten

Gewählt wurde auf der Ebene des Einzelstaates, das heißt des gesamten Einzelstaates, dessen Wahlmänner folgerichtig sämtlich immer an den Sieger – und sei der Wahlausgang noch so knapp – fielen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich einzelne Staaten, zum Beispiel Nebraska und Maine, von diesem Prinzip gelöst, ansonsten aber blieb es vorherrschend. Jeder Einzelstaat entsendet so viele Wahlmänner, wie ihm Sitze im Repräsentantenhaus und im Senat, wo jeder Staat mit zwei Senatoren präsent ist, zustehen. Einwohnerarme Staaten wie Wyoming oder Montana bringen dementsprechend nur drei Wahlmänner auf, New York, Texas oder Kalifornien hingegen weit über 100. Dennoch sind die einwohnerschwachen Staaten deutlich überrepräsentiert.

Die Anzahl der Wahlmänner hängt von den allgemeinen Einwohnerzählungen, die alle zehn Jahre stattfinden müssen, um ein Mindestmaß an Gerechtigkeit zu garantieren, ab. Bis zum Ende der Sklaverei 1865 wurden Sklaven zu 60 Prozent der Einwohnerzahl hinzuaddiert, was die sklavenhaltenden Südstaaten deutlich bevorzugte. Die indianischen Ureinwohner wurden, sofern sie keinen Steuern zahlten, gar nicht gezählt. Immerhin verhinderte die Konzentration auf den gesamten Einzelstaat einen Prozess, der sich bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus seit den 1790er Jahren einbürgerte, nämlich das bis in die Gegenwart eifrig praktizierte gerrymandering, durch das Wahlkreise zum Teil absurd zugeschnitten wurden, um den Sieg einer der beiden Parteien zu garantieren.

 

Entstehung eines Zweiparteiensystems

Mit dem Sieg der Revolution änderte sich erst einmal kaum etwas am Zuschnitt der Wählerschaft. Wahlberechtigt blieben Männer mit einem Mindestmaß an Eigentum. Nur in Ausnahmefällen, etwa in New Jersey, konnten in den 1780er und 1790er Jahren mitunter landbesitzende Frauen, meist wohlhabende Witwen, wählen. Selbstverständlich war in dieser Zeit auch das Wahlrecht für Schwarze, die über die notwendige Eigentumsqualifikation verfügten. Indianer hingegen, die laut Verfassung abhängigen, aber souveränen Nationen angehörten, waren von Wahlen prinzipiell ausgeschlossen.

Schon in den 1790er Jahren aber tauchten erste schwerwiegende Probleme auf. Zum einen bildete sich das Zweiparteiensystem heraus und diese Parteien waren bestrebt, Kontrolle über das Wahlverfahren zu erringen. Zum anderen erwies sich die Vorstellung, die junge Republik würde von selbstlosen, nur der Vernunft und dem Gemeinwohl verpflichteten Gentlemen geführt werden, als utopisch. Darüber hinaus wurde die Idee obsolet, man könne den Sieger zum Präsidenten und den Zweitplatzierten automatisch zum Vizepräsidenten küren. Spätestens als es nach 1796 zu anhaltenden Konflikten zwischen dem Federalist John Adams und seinem Vizepräsidenten, dem Democratic-Republican Thomas Jefferson kam, die fast in einen Bürgerkrieg gemündet hätten, wurde das sogenannte Ticket eingeführt, wonach man eine Listenverbindung von Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidat wählte. Damit aber blieb die Frage nach den Nominierungspraktiken vorerst ungelöst. 1824 etwa traten gleich vier Democratic Republicans gegeneinander an, 1836 blockierten sich gar vier Whigs gegenseitig und verhalfen dem Demokraten Martin van Buren zum Sieg.

 

Einführung des demokratischen und allgemeinen Wahlrechts

Die Frage nach dem Nominierungsverfahren wurde schon deswegen noch bedeutsamer, weil es in den 1810er und 1820er Jahren zu einem dramatischen Wandel in der Wählerschaft kam. Schrittweise kamen immer mehr Einzelstaaten vom oligarchischen Zensuswahlrecht ab und führten das demokratische allgemeine Wahlrecht ein, allerdings mit zwei bezeichnenden Einschränkungen: Einerseits blieb die Wahl offen, also nicht geheim. Wie im 18. Jahrhundert sollte der republikanische Bürger sich in aller Öffentlichkeit zu seinem politischen Standpunkt bekennen. Dies begünstigte indes alle möglichen Formen der Wahlbeeinflussung durch die sogenannten urbanen Parteimaschinen, etwa Tammany Hall in New York (ca. 1790–1965), die ihre Wähler, meist Migranten, etwa katholische Iren, gewissermaßen meistbietend an Kandidaten verkauften und nun darauf achten konnten, dass die Stimmen auch absprachegemäß abgegeben wurden. Andererseits ersetzte das egalitäre, demokratische Wahlrecht die bis dahin geltende Klassenlinie zwischen den Besitzenden und den Armen durch die color line. Schwarze Wähler wurden in den meisten Staaten nunmehr ihres Wahlrechts beraubt, selbst wenn sie frei waren und über einigen Wohlstand verfügten. Auch asiatischen Zuwanderern blieb das Wahlrecht ebenso wie das Bürgerrecht bis ins 20. Jahrhundert verwehrt. Demgegenüber durften weiße Migranten nach fünf Jahren naturalisiert werden und damit wählen. Die USA sollten eine Republik freier, weißer Männer sein.  Über ein Wahlrecht für Frauen wurde erst ab 1848 wieder intensiver diskutiert.

Angesichts dieser Entwicklungen, der Verfestigung des Parteienwesens und des demokratisch-rassistischen Wahlrechts, musste das Nominierungsverfahren neu geregelt werden. 1832 war es ausgerechnet eine relativ kleine, aber sehr radikale Partei, die Anti-Masonry Party, die sich verschwörungstheoretisch gegen den Einfluss der Freimaurer auf die republikanischen Eliten richtete, die dies mit der Einführung der National Convention erreichte. Künftig würden Delegierte aus den Einzelstaaten auf einem nationalen Konvent die Kandidaten bestimmen.  Dieses Verfahren setzte sich im Laufe der 1830er und 1840er Jahre in den beiden großen Parteien schrittweise durch, aber da die Delegierten von den regionalen Parteieliten bestimmt wurden, blieb das eigentliche Nominierungsverfahren weiter in deren Hand. Letztlich gaben dann Absprachen in Hinterzimmern, Schmiergelder und politische Zusagen auf Ämter und Machtteilhabe den Ausschlag. Parteimaschinen und die sogenannten Bosse, die oft mit der organisierten Kriminalität vernetzt waren, bestimmten den Kurs ihrer Parteien.

Korruption und Amtsmissbrauch durchwucherten vor allem nach dem Ende des Bürgerkriegs das politische System der USA, das zunehmend von oligarchischen Interessen der Großbanken und Industriemonopole beherrscht wurde. Hinzu kam die regelmäßige Eskalation von politischer Gewalt bei Wahlen, sei es in Gestalt rassistischer Morde oder antikatholischer Ausschreitungen, wobei meist massiver Alkoholkonsum am Wahltag beitrug, da die Kandidaten ihren Wählern schon seit dem 18. Jahrhundert gerne Rum oder Whiskey spendierten. Allein 1868 starben mehrere Tausend Menschen im Wahlkampf. Erst ab 1885 wurde es ruhiger, obwohl es 1928, als erstmal mit dem Demokraten Al Smith ein Katholik zur Wahl antrat, wieder Tote gab.

Politische Teilhabe der schwarzen Bevölkerung

Immerhin hatte der Sieg der Union im Bürgerkrieg den vormaligen schwarzen Sklaven im Süden nominell Freiheit und Bürgerrecht gebracht. Im XIV. und XV. Verfassungszusatz wurde ihnen dann auch das Wahlrecht zugestanden, aber die politischen Teilhabehoffnungen der nunmehr freien Schwarzen erfüllten sich nicht. Gerade im Süden entstand zwischen 1868 und 1885 ein Einparteiensystem der Demokraten, das Schwarze systematisch daran hindert, ihre Rechte auszuüben. Die Rassensegregation griff nach dem endgültigen Ende der Bundesherrschaft über den Süden, der Rekonstruktion, ab 1877 auch auf den Rest der USA über. Die Republikaner hatten das Interesse an der weiteren Emanzipation und Integration der Schwarzen, die eigentlich zu ihren treuesten Stammwählern zählten, weithin verloren. All dies war unter anderem die Folge von Wahlabsprachen nach der Präsidentschaftswahl von 1876, die so umfassend von beiden Seiten gefälscht und korrumpiert worden war, dass man sich am Ende in vertraulichen Gesprächen auf einen Kompromiss einigte, der den Republikanern die Präsidentschaft eintrug, den Demokraten aber die Rassensegregation.

In den 1880er und 1890er Jahre wurden die negativen Folgen eines korrupten, intransparenten und erstarrten, von Kapitalinteressen und Rassismus beherrschten Wahlsystems dann offenkundig. Von allen Seiten häuften sich Kritik und Protest. Die Frauenbewegung, die eng mit der nationalen Antialkoholbewegung verbündet war, verlangte das Frauenwahlrecht, das dann ab den späten 1870er Jahren besonders im Westen von Territorien und Bundestaaten eingeführt wurde, um aber erst 1919/20 nach dem Ersten Weltkrieg in Verbindung mit der Prohibition auf nationaler Ebene den Durchbruch zu schaffen. Im Westen gab es einen eklatanten Frauenmangel, den die lokalen Politiker mit Hilfe des Frauenwahlrechts beheben wollten. Bereits 1916 war allerdings mit Jeanette Rankin aus Montana die erste Frau ins Repräsentantenhaus gewählt worden und schon 1872 hatte die eigenwillige Kommunistin, Spiritualistin und Börsenmaklerin Victoria Woodhull sich zum Entsetzen selbst ihrer Verbündeten aus der Frauenbewegung als Präsidentschaftskandidatin aufgestellt. Interessanterweise hatten seit 1868 viele Frauen argumentiert, es bedürfte des Frauenwahlrechts, um die zu erwartenden Stimmen der schwarzen Wähler zu konterkarieren. Wieder gingen Demokratie und Rassismus Hand in Hand.

 

Einführung des Australian Ballot und der Primaries

Um die Wende zum 20. Jahrhundert stellten in erster Linie die progressivistischen und populistischen Reformbewegungen weitere Forderungen auf, die dann in eine wiederum schrittweise Reform des Wahlrechts mündeten. Seit den 1880er Jahren wurde das Australian Ballot, also die geheime Wahl, eingeführt, ab etwa 1900 folgten die Vorwahlen, die primaries, durch die das Nominierungsverfahren für die National Conventions endlich rationaler und demokratischer gestaltet werden sollte, um so auch den Einfluss der Bosse zu minimieren. Dies gelang vorerst nur ansatzweise. Insbesondere schlossen sich nicht alle Einzelstaaten dem Primarysystem an. Einige Staaten hielten am antiquierten Caucus fest, wo sich Bürger etwa in Sporthallen oder Kirchen trafen und durch Aufstellung in einer der Ecken des Raumes für ihren Kandidaten stimmten. In Iowa wird dieses Verfahren weiterhin praktiziert. Daneben bildeten sich ganz unterschiedliche Vorwahlformen heraus. Im Süden gab es bis in die 1940er Jahre die white primary, wonach einzig Weiße an den Vorwahlen teilnehmen durften, was aber vom Supreme Court untersagt wurde. Aber erst in den 1960er Jahren gelang es, das Wahlrecht für Schwarze im Süden auf breiter Front durchzusetzen, was sich unter anderem der vom Obersten Bundesgericht bis in die 2020er Jahre verfügten Bundesaufsicht über die dortigen Wahlen verdankte. Daneben unterscheidet man zwischen open primaries, an denen jeder teilnehmen kann, gleichgültig mit welcher Partei er sich identifiziert, semi-open primaries, wo man unabhängig von der Parteizugehörigkeit, nur bei einer Partei wählen darf, semi-closed primaries, an denen nur Personen teilnehmen dürfen, die, ohne Mitglied sein zu müssen, sich mit der jeweiligen Partei identifizieren oder sich als Independents (Unabhängige) zu erkennen geben, und closed primaries, die allein Parteimitgliedern offen stehen.

Die Primaries trugen zwar maßgeblich dazu bei, die Stagnation der Jahre nach dem Bürgerkrieg zu überwinden, dennoch gelang es den Bossen der Parteimaschinen bis weit in den 1960er Jahren die Kontrolle über die National Conventions zu behalten. Nachdem es 1968 bei der Convention der Demokraten zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen und es dringlicher geworden war, gegen den Widerstand der Südstaatendemokraten auch Schwarze als Delegierte einzubeziehen, entschieden sich erst die Demokraten zwischen 1969 und 1972 und dann die Republikaner nach Watergate 1973 zur Parteireform. Nun erst wurden die Parteimaschinen entmachtet. Diesmal gingen die Republikaner konsequenter vor. Die Demokraten sicherten durch die sogenannten Superdelegates, die von der Parteielite bestimmt wurden und neben die gewählten Delegierten aus den Primaries und Caucus traten, der Parteiführung die letzte Entscheidung. Demgegenüber setzten die Republikaner ganz und gar auf das Votum der in den Vorwahlen gewählten Delegierten, was seit dem Tea Party Movement 2008 die Partei rechtsextremen Aktivisten öffnete. Gleichzeitig wurde die Demokratische Partei mehr und mehr von akademischen Aktivisten aus der Frauenbewegung und dem LGBTQ+-Umfeld bestimmt, während die gewerkschaftsnahen Vertreter der urbanen Parteimaschinen verdrängt wurden. Beide Prozesse führten jeweils zu einer starken Ideologisierung der Parteien, die politische Kompromisse erschwerte – eine Entwicklung, die letztlich zurückging auf die gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche der 1960er Jahre (culture wars).  Erst dieser Zug zu mehr Demokratie und Transparenz hat die Kandidatur eines Barack Obama, aber auch eines Donald Trump möglich gemacht. Allerdings hingen beide Nominierungen auch mit der wachsenden Radikalität des medialen Umfelds in den USA zusammen.

Das Wahlrecht und das Wahlsystem der USA, so eigenartig es auf den ersten Blick scheinen mag, verdankt sich also seit mehr als zweihundert Jahren immer neuen Reformanläufen auf der Grundlage relativ stabiler Grundvoraussetzungen, wozu vor allem das Mehrheitswahlrecht gehört. Im Grunde zeigt es das nicht immer von Erfolg gekrönte Bemühen, sich von einer Oligarchie in eine Demokratie zu entwickeln. Aber, bei allen Schattenseiten und aller fortwährenden Reformbedürftigkeit, belegt die Geschichte der Präsidentenwahlen in den USA eine erstaunliche Lebendigkeit eines auf den Werten und Praktiken des 18. Jahrhunderts beruhenden politischen Systems.

 

Michael Hochgeschwender ist Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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