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Essay

Einleitung: Die politische Mitte und die Gefahren des Kulturkampfes

In Deutschland machen sich die beiden Seiten von Identitätspolitik bemerkbar: Wokeness gegen völkisches Denken. In Uneinigkeit vereint führen sie einen gemeinsamen Kulturkampf gegen die politische Mitte. Eine Analyse über Wesen und Gefahr von Identitätspolitik sowie den historischen Ursprung und die Bedeutung von „Kulturkampf“ und „Culture Wars“.

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Seit Kurzem ist in Deutschland viel von einem „Kulturkampf“ die Rede. Journalisten oder Politiker, die den Begriff benutzen, halten sich dabei meist nicht mit semantischen Feinheiten auf. Einmal heißt es, CDU/CSU dürften keinen Kulturkampf führen, dann wieder, dass sie ihn annehmen müssten. Wer kämpft aber gegen wen? Worum wird gekämpft? Und vor allem: Wer hat angefangen? Wenn der Begriff kein semantischer Unsinn sein soll, dann muss es um den Kampf zweier Kulturen gehen, wie auch immer diese definiert sind. Ist das der Fall? Vertritt die Union eine Kultur, die im Kampf mit einer anderen liegt? Dem würde wohl kaum jemand zustimmen. Also muss man das Problem von einer anderen Seite angehen, am besten damit, sich zu vergegenwärtigen, was historisch unter „Kulturkampf“ verstanden wurde.

 

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Geprägt hat den Begriff in Deutschland der Arzt und linksliberale Politiker Rudolf Virchow, als er am 17. Januar 1873 im Preußischen Abgeordnetenhaus von einem „großen Kulturkampf“ in Deutschland zwischen der liberalen Moderne und dem Katholizismus sprach. Der Begriff wurde bald auf die Maßnahmen und Gesetze übertragen, mit denen Otto von Bismarck seit 1871 den von ihm gefürchteten Einfluss des „Ultramontanismus“, also des römischen Katholizismus, auf die deutsche Politik bekämpfte. Ironischerweise waren viele dieser Gesetze gar nicht im Sinne der Liberalen. Bismarck, der persönlich den Ansichten eines konservativen Katholizismus näherstand als dem Liberalismus, kämpfte aus politischen Gründen gegen eine Institution und ihre politische Vertretung, die Deutsche Zentrumspartei. Die Liberalen dagegen sahen überall in der Welt das Ringen zwischen unvereinbaren Weltanschauungen, zwischen dem dogmatischen, hierarchischen und irrationalen Katholizismus und dem den Fortschritt, die Freiheit und ein rein innerliches Christentum verheißenden Liberalismus.

Es ist deshalb eine Verkürzung, den Kulturkampf auf die Politik des Bismarck-Staates gegen die Kirche zu reduzieren. Der Kulturkampf war, wie Thomas Nipperdey festgestellt hat, das Ergebnis einer dreifachen Offensive: des Ultramontanismus, des Liberalismus und des Staates. Der Kulturkampf im eigentlichen Sinne – der Konflikt, den Virchow meinte – spielte sich zwischen Ultramontanen und Liberalen ab, unter denen auch manche nicht ultramontane Katholiken waren. Er wurde in der Publizistik und an den Universitäten geführt. Es war ein geistiger Kampf, kein politischer.

Diese Frontstellung war ein gesamteuropäisches Phänomen, das vor allem Staaten wie Italien und Frankreich prägte. Der Unterschied zwischen den beiden romanischen Ländern und dem Deutschen Reich war jedoch, dass in jenen die Offensive des Staates mit derjenigen des Liberalismus zusammenfiel. In Frankreich führte diese Politik 1905 zur Verabschiedung des Gesetzes über die Trennung von Kirche und Staat, mit dem die katholische Kirche enteignet wurde. Sie behielt nur das Recht, die Kirchen, die einmal ihr Eigentum gewesen waren, für ihre Zwecke zu nutzen. Freilich fiel das Gesetz viel milder aus, als es sich die radikalen Republikaner vorgestellt hatten. Die freie Religionsausübung wurde ausdrücklich garantiert.

Vor diesem Hintergrund ist der Begriff des Kulturkampfes zu sehen, und man sollte ihn nicht leichtfertig verwenden. Dass es doch geschieht, hat kaum mit der Erinnerung an den Kulturkampf des Kaiserreichs zu tun. Das historische Bewusstsein trägt nicht so weit. Wenn heute von Kulturkampf die Rede ist, so weil mit diesem Wort etwas unpräzise der amerikanische Begriff culture war übersetzt wird. Wer heute von Kulturkampf spricht, meint in der Regel einen Konflikt, den es in Amerika schon seit Jahrzehnten gibt, und der mittlerweile auch bei uns angekommen ist. Darum, ob Letzteres wirklich der Fall ist, dreht sich der Streit.

Man muss einiges ausblenden, um zu glauben, dass sich in Deutschland nicht ähnliche gesellschaftliche Konflikte abspielen wie in den Vereinigten Staaten, aber das heißt noch nicht, dass wir in derselben Lage sind. Der Begriff culture war hat sich in den Vereinigten Staaten in den 1990er Jahren in Wissenschaft und Medien etabliert. Sein Beginn wird schon in den 1960er Jahren gesehen. Der Aufstieg der „Gegenkultur“ der New Left brachte andauernde Konflikte um Themen wie Schwangerschaftsabbruch, Homosexualität, Pornographie und Drogenkonsum mit sich. Infolgedessen hat sich die amerikanische Wählerschaft seit den 1960er Jahren immer stärker polarisiert. Die Entwicklung der beiden Parteien von eher unideologischen Plattformen mit großen Schnittmengen zu prononcierten Richtungsparteien war eine Konsequenz der gesellschaftlichen Prozesse, nicht umgekehrt.[i]

Gleichwohl sind die Vereinigten Staaten bis heute keine „zweigeteilte Nation“ geworden, wie der amerikanische Politikwissenschaftler James Campbell gezeigt hat. Es sei zwar ein Mythos, dass Amerika im Kern eine „gemäßigte Nation“ sei, schreibt er in seinem Buch Polarized, aber diejenigen Amerikaner, die sich als moderates bezeichneten, seien zumindest eine gewichtige Minderheit. Das allerdings scheint in der öffentlichen Diskussion kaum noch eine Rolle zu spielen. Grund dafür ist, dass sich der culture war immer weiter verschärft hat, als vor mindestens zehn Jahren das Phänomen der Wokeness aufgetreten ist. Ohne dass die alten Konfliktfelder verschwunden wären, streben die Aktivistinnen und Aktivisten der Woke-Bewegung nach Höherem, nämlich nach der Kontrolle der Sprache und des Denkens, nach der umfassenden Umgestaltung der Gesellschaft auf der Grundlage tatsächlicher oder imaginierter Identitäten. Sie bekämpfen den Status quo der pluralistischen westlichen Gesellschaften, die sie als strukturell „oppressiv“, „rassistisch“ und „sexistisch“ wahrnehmen. Dagegen setzen sie eine Identitätspolitik (identity politics), deren Ziel es ist, sensibel für tatsächliche oder vermeintliche Benachteiligungen von Frauen oder ethnischen beziehungsweise geschlechtlichen Minderheiten zu sein. Aus dieser Sensibilität – der Wokeness – folgen dann bestimmte politische Forderungen.

Aus der Herstellung von Identität auf Basis einer kollektiven Diskriminierungserfahrung wird die Forderung nach einem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse abgeleitet. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden mit den Begriffen von Macht und Ohnmacht beschrieben, die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht oder zu einer Ethnie wird als entscheidend für den Status jedes Angehörigen einer bestimmten Gruppe in der Gesamtgesellschaft interpretiert. Die Mehrheitsgesellschaft, das heißt der angeblich durch bestimmte Merkmale privilegierte Teil einer Bevölkerung, soll sich seiner Machtstellung bewusst werden und sich für die Beseitigung der Unterschiede einsetzen. Ein wirkliches Bewusstsein für die Lage der Minderheiten kann der Privilegierte aus der Sicht der Vertreterinnen und Vertreter der Identitätspolitik freilich nicht entwickeln, da er dazu selbst zu der Gruppe gehören müsste, um die es jeweils geht. Als Mittel des Abbaus von Benachteiligungen gelten zum Beispiel Förderprogramme, Quoten und Stipendien für Angehörige bestimmter Ethnien, aber auch die Vermeidung von Handlungen und Ausdrucksweisen, die die eine oder andere Minderheit als diskriminierend empfinden könnte.

Teilweise als Reaktion darauf, teilweise parallel dazu hat sich eine andere Form der Identitätspolitik entwickelt, die ebenso ideologisch ist, wie diejenige der Wokeness-Aktivisten. Manche Kritikerinnen und Kritiker der linken Identitätspolitik haben sich mit mehr als zweifelhaften Verbündeten am rechten Rand der amerikanischen Gesellschaft und Politik eingelassen. Ein Großteil der amerikanischen „Konservativen“ versteht nicht, dass die Politische Korrektheit zwar eine Ideologie sein kann, dass der erbitterte Kampf gegen sie aber nicht minder extreme Züge trägt. Eine einseitige Polarisierung gibt es nicht. Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl von 2016 ist deshalb als Folge eines wechselseitigen Radikalisierungsprozesses anzusehen, den sich der nur als „Konservativer“ maskierte Demagoge Donald Trump zunutze machte.

Und in Europa? Ist der Kulturkampf im amerikanischen Sinne dort wirklich schon angekommen? Wer auf die verschiedenen europäischen Gesellschaften blickt, wird ein differenziertes Bild wahrnehmen. Während der Kulturkampf zum Beispiel in Großbritannien mittlerweile ähnliche Züge wie in Amerika trägt, verlaufen die Linien eines nicht minder schweren Konflikts in Frankreich an anderen Stellen. In Staaten wie Polen und Ungarn dagegen scheint die Gesellschaft fest im Griff rechter Formen von Identitätspolitik zu sein.[ii] In Deutschland machen sich seit einiger Zeit beide Seiten von Identitätspolitik bemerkbar – Wokeness gegen völkisches Denken. Aber kämpfen diese beiden Bewegungen wirklich gegeneinander? Führen sie nicht vielmehr – in Uneinigkeit vereint – einen gemeinsamen Kulturkampf gegen die Mitte?

Wenn das der Fall wäre, müsste die politische Mitte, um sich behaupten zu können, schleunigst Antworten auf beide Herausforderungen finden. Dafür aber ist nichts Wichtiger als Orientierung im Dschungel der Identitätspolitik. Der vorliegende Band dient diesem Zweck. Ohne einen vollständigen Überblick über die aktuellen Debatten in Deutschland und anderen westlichen Gesellschaften bieten zu können, ermöglicht er eine Annäherung an eines der größten gesellschaftspolitischen Problemfelder unserer Zeit.

 

[i] Siehe dazu den Beitrag von Paul Linnarz zur derzeitigen politischen Polarisierung in den USA.

[ii] Siehe dazu die Beiträge hier im Reader zu den identitätspolitischen Debatten in Frankreich und Polen.

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Kontakt

Prof. Dr. Matthias Oppermann

Dr

Stv. Leiter Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Leiter Zeitgeschichte

matthias.oppermann@kas.de +49 30 26996-3812
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