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Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm zur schrittweisen Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas

von Michael Mertes
Mit der Bekanntgabe des Zehn-Punkte-Programms zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europa vor dem Deutschen Bundestag am 28. November 1989 setzte Helmut Kohl das Thema der deutschen Wiedervereinigung unwiderruflich auf die politische Tagesordnung – und dies zu einem Zeitpunkt, als die deutsche Frage für die meisten Partner und Verbündeten der Bundesrepublik wie auch für einen beträchtlichen Teil der westdeutschen politischen Klasse längst nicht mehr offen schien. Kohl folgte dabei den Maximen Konrad Adenauers, der stets gemahnt hatte, es gelte aufzupassen, „ob der Augenblick kommt“. Die überraschende Wirkung des Zehn-Punkte-Programms kann man sich heute kaum noch vorstellen.

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Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) während der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag in Bonn am 28. November 1989. dpa - Bildarchiv
Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) während der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag in Bonn am 28. November 1989.

 

Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung der innerdeutschen Grenze am 9. November 1989 stellten sich zwei Fragen immer drängender: Wie soll es jetzt weitergehen? Und: Wer nimmt das Heft des Handelns in die Hand? Erste Antworten kamen von Hans Modrow. Am 17. November schlug der neue DDR-Ministerpräsident in seiner Regierungserklärung eine „Vertragsgemeinschaft“ zwischen Bundesrepublik und DDR vor, die „weit über den Grundlagenvertrag und die bislang geschlossenen Verträge und Abkommen zwischen beiden Staaten“ hinausgehen sollte. Zwar konnte sich niemand etwas Genaues darunter vorstellen, aber gerade das war – ob so intendiert oder nicht – die Stärke des Modrow-Vorschlags: Er beschäftigte die Phantasie einer zwischen Freude und Bangen schwankenden Öffentlichkeit und ließ die Regierung Kohl für ein kurzen Moment ideenlos und tatenarm aussehen.

 

Rede Kohls vor dem Deutschen Bundestag am 28. November 1989

Anderthalb Wochen später zog Kohl mit dem „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europa“ (so die regierungsamtliche Bezeichnung) die Initiative an sich. Seine Rede vor dem Deutschen Bundestag definierte ein klares Ziel: die staatliche Einheit Deutschlands in einem zusammenwachsenden Europa. Und sie legte fest, welche Prinzipien – zum Beispiel die Irreversibilität der deutschen Westintegration – auf dem Weg dorthin zu beachten seien. Kohl legte größten Wert darauf, dass sein Programm nicht als „Plan“ bezeichnet werde, wie es fälschlicherweise immer wieder geschah und heute noch geschieht. Ein Plan enthält zeitliche Festlegungen, die in einer unübersichtlichen Situation von heute auf morgen Makulatur werden können. Der entscheidende Vorteil eines Programms liegt in der größeren Flexibilität.

Die Form der Rede passte genau zu ihrem Inhalt. Das Stakkato der Zehn Punkte signalisierte Entschlossenheit. Überhaupt: Dass es ausgerechnet zehn Punkte waren (am Beginn des Entstehungsprozesses stand eine „krumme“ Zahl), entsprang psychologischem Kalkül. Zehn Punkte – wer würde da nicht an die Zehn Gebote denken? Die Zehn war eine magische Zahl. Sie wirkte nicht zufällig, sondern erweckte den Eindruck eherner Notwendigkeit.

Trotz mancher Fragezeichen wirkte die Rede wie ein dickes Ausrufungszeichen. Niemand konnte von da an mehr behaupten, das sei die übliche Bonner Sonn- und Feiertagsrhetorik zur Einheit der Nation. Für die meisten Partner und Verbündeten der Bundesrepublik – wie auch für einen beträchtlichen Teil der westdeutschen politischen Klasse – war die deutsche Frage schon längst nicht mehr „offen“. Sie wurden gewissermaßen auf dem falschen Fuß erwischt. Dieser Effekt ist wohl ein Schlüssel zum Verständnis der enormen Wirkung des Programms.

 

Unerwartete Wirkung

Heute kann man sich die Verblüffung vieler damaliger Zeitgenossen nicht mehr vorstellen, als der Bundeskanzler die Bühne betrat und ein vermeintlich abgeschlossenes Kapitel wieder aufschlug. Wir alle unterliegen einer Fehlwahrnehmung, die der französische Philosoph Henri Bergson als die Illusion des „rückblickenden Determinismus“ bezeichnet hat. Gemeint ist die menschlich-allzumenschliche Neigung zu glauben, dass das, was tatsächlich geschehen ist, auch so geschehen musste. Doch vor Tische las man’s anders. Erinnert sei nur an Egon Bahrs berühmte Warnung Anfang Oktober 1989: „Lasst uns um alles in der Welt aufhören, von der Einheit zu träumen oder zu schwätzen.“ Auch war die deutsche Einheit im Herbst 1989 keineswegs alternativlos: Nicht nur unter ostdeutschen Bürgerrechtlern, sondern auch unter westdeutschen Linken galt eine demokratisch runderneuerte DDR als vorzugswürdige Option.

Auf der Weltbühne gab es vor 30 Jahren nur einen mächtigen Freund, auf den sich die Deutschen in Sachen Wiedervereinigung hundertprozentig verlassen konnten: den amerikanischen Präsidenten George H. W. Bush. Mit dieser Rückendeckung wagte Kohl den Sprung ins Ungewisse. Er war davon überzeugt, dass die meisten Menschen in der DDR seinen Kurs unterstützen würden, dass sie mehr wollten als eine demokratisch runderneuerte DDR – nämlich die staatliche Einheit; er sollte Recht behalten. Aber solange es keinen förmlichen Akt der Selbstbestimmung gegeben hatte – wie er dann mit der Volkskammerwahl am 18. März 1990 vollzogen wurde –, musste Kohl dieses Thema im Konditional ansprechen. So heißt es im Vorspann zu den Zehn Punkten: „Wir werden … jede Entscheidung, die die Menschen in der DDR in freier Selbstbestimmung treffen, selbstverständlich respektieren.“

Die Entscheidung für ein „Programm“ und gegen einen „Plan“ erwies sich schon sehr bald als richtig. Kohl selbst hat in vielen Interviews seit 1990 immer wieder erklärt, er habe Ende November 1989 geglaubt, die deutsche Einheit werde frühestens nach Vollendung des europäischen Binnenmarktes, also nach dem 31. Dezember 1992 kommen. Die Ereignisse überstürzten sich jedoch in einem solchen Tempo, dass jedes zeitliche Korsett entweder sofort auf dem Müll gelandet wäre oder die Handlungsfreiheit der Bundesregierung in unerträglichem Maße eingeschränkt hätte.

Zum letzten Mal bekräftigte Kohl öffentlich das Zehn-Punkte-Programm bei einer Rede in Bremen am 20. Januar 1990. Damals zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die deutsche Einheit sehr viel schneller kommen werde als Ende 1989 erwartet. Noch am 19./20. Dezember 1989 hatten Kohl und Modrow in Dresden vereinbart, am 13. Februar 1990 in Bonn über die Ausgestaltung der „Vertragsgemeinschaft“ zu verhandeln. Doch daraus konnte nichts mehr werden. Der enorme Zustrom von Übersiedlern aus der DDR, die offenkundige Reformunwilligkeit der Regierung Modrow und die Vorverlegung der Volkskammerwahl auf den 18. März 1990 erhöhten den Druck, gleich aufs Ganze zu gehen. Mit Kohls Angebot einer innerdeutschen Währungsunion im Februar 1990 und der Option der allermeisten DDR-Parteien (sicher mit Ausnahme der PDS) für eine Wiedervereinigung nach Artikel 23 Grundgesetz war die Philosophie der Zehn Punkte passé. Genauer gesagt: Die Zehn Punkte hatten ihren Zweck erfüllt.

 

Ideen und Ausführung

Über den Prozess der Entstehung und Ausarbeitung des Zehn-Punkte-Programms in den Tagen vom 23. bis zum 27. November 1989 gibt es inzwischen eine reichhaltige Literatur. Leider ist sie oft lücken- und fehlerhaft. Da der Erfolg viele Väter hat (der Misserfolg ist bekanntlich ein Waisenkind), sollte man sich nicht wundern, dass die Zahl derjenigen, die sich selbst als entscheidende Ideengeber darstellen, mit wachsendem Zeitabstand zunimmt. Als damaliger Chefredenschreiber von Helmut Kohl und Mitautor des Programms habe ich, um solche Zeitzeugnisse präventiv zu neutralisieren, schon bald einen detaillierten Werkstattbericht erstellt, der im Sammelband „Die DDR in Deutschland. Ein Rückblick auf 50 Jahre“ (Duncker & Humblot, Berlin 2001) veröffentlicht wurde.

Der Entwurf des Zehn-Punkte-Programms, den Kanzler Kohl am Wochenende des 25./26. November 1989 daheim in Ludwigshafen sorgfältig überarbeitete, liegt im Original beim Deutschen Historischen Museum in Berlin. Ich habe ihn – mit Genehmigung des Altbundeskanzlers – dem Museum geschenkt unter der Auflage, dass die wissenschaftliche Forschung Zugang zu diesem Dokument erhält.

Für das Autorenteam unter Leitung von Horst Teltschik, das die Zehn Punkte nach den politischen Vorgaben des Bundeskanzlers entwickelte, war zunächst einmal wichtig, die deutschlandpolitischen Grundlagen herauszuarbeiten, auf denen das Programm stehen sollte. Die Verbündeten mussten an alte Zusagen erinnert werden, die sie vielleicht schon vergessen hatten. So heißt es im Vorspann zu den Zehn Punkten: „Wir nähern uns … dem Ziel, das sich das Atlantische Bündnis bereits im Dezember 1967 [im Harmel-Bericht] gesetzt hatte.“ Und dann zitiert Kohl: „Eine endgültige und stabile Regelung in Europa ist ... nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschlandfrage, die den Kern der gegenwärtigen Spannungen in Europa bildet. Jede derartige Regelung muß die unnatürlichen Schranken zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren.“

 

Von der „Einheit der Nation“ zur „Wiedervereinigung“

Den Kern des Zehn-Punkte-Programms bildeten die Punkte 4, 5 und 10 – der Dreischritt von einer „Vertragsgemeinschaft“ zwischen Bundesrepublik und DDR über „konföderative Strukturen“ bis hin zur bundestaatlichen Einheit. Warum „konföderative Strukturen“? Kohl wollte nicht von „Konföderation“ reden, denn eine solche Konstellation hätte bedeutet, dass die Zweistaatlichkeit auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten worden wäre. Es dürfe – so Kohl – aber kein Zweifel daran aufkommen, dass er nur an Zwischenschritte auf dem Weg zur Wiedervereinigung denke. In diesem Zusammenhang erinnerte er daran, dass es schon in der 1950er-Jahren einen Konföderations-Vorschlag von Walter Ulbricht gegeben habe. Außerdem müsse deutlich werden, dass eine Konföderation nur zwischen zwei Ländern mit vergleichbarer Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung möglich sei. Er akzeptierte schließlich die Formel „konföderative Strukturen“, weil sie falsche Assoziation vermied und die Offenheit des staatsrechtlichen Prozesses verdeutlichte.

Kohl selbst führte die Begriffe „wiedervereinigt“ (in Punkt 5) und „Wiedervereinigung“ (in Punkt 10) ein. Was aus heutiger Sicht ein unbeachtliches Detail zu sein scheint, war damals – psychologisch gesehen – ein großer Sprung nach vorn. In seiner deutschlandpolitischen Rhetorik hatte es der Kanzler bislang vorgezogen, von „Einheit der Nation“, von der „gemeinsamen Freiheit aller Deutschen“ oder vom „Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen“ zu sprechen. Diese Begriffe brachten sein deutschlandpolitisches Fernziel hinreichend klar zum Ausdruck. Zugleich ließen sie der Phantasie genügend Spielraum, sich verschiedene Varianten deutscher Einheit in Freiheit vorzustellen – bis hinunter zum Minimum einer sogenannten „Österreich-Lösung“ für die DDR. Ausgerechnet jetzt nahm Kohl die in den 1950er- und 1960er-Jahren gängige, seit der sozialliberalen Ostpolitik zunehmend verpönte Vokabel „Wiedervereinigung“ in den Mund. Damit unterstrich er auf unzweideutige Weise, dass er das deutschlandpolitische Maximum, die staatliche Einheit Deutschlands, anvisierte.

Für Punkt 7 wünschte sich Kohl eine starke Betonung der Idee, dass die Europäische Gemeinschaft sich für junge Demokratien Mittel- und Osteuropas „offenhalten“ müsse. Die EG dürfe nicht an der Elbe enden. Er wies der Gemeinschaft die Aufgabe zu, „Grundlage einer wirklich umfassenden europäischen Einigung zu werden“ und die „Identität aller Europäer“ zu wahren, zu behaupten und zu entwickeln. Meines Wissens ist er damit unter allen europäischen Staats- und Regierungschef der erste gewesen, der eine Aufnahme der jungen postkommunistischen Demokratien Mittel- und Osteuropas in den Blick nahm.

 

Deutschlandpolitik in der Tradition Adenauers

Mit dem Zehn-Punkte-Programm steuerte Kohl das Schiff aus dem sicheren Hafen auf stürmische See. Er hatte das Ziel vor Augen und einen gut funktionierenden Kompass in der Hand, aber keiner wusste genau, welche Eisberge auf der Strecke warteten und ob wir manövrierfähig genug sein würden, sie ohne Schaden zu umfahren.

Für Kohl stand von Anfang an außer Frage, dass ein vereintes Deutschland Mitglied der NATO sein müsse. Aber im November 1989 sprach nichts als Hoffnung für die Annahme, dass es der Bundesregierung mit amerikanischer Hilfe gelingen werde, der Sowjetunion eine solche Konzession abzuringen. Der Kanzler musste und wollte das Thema zwar ansprechen – aber so, dass weder der Kreml unnötig provoziert wurde noch unsere Verbündeten den Eindruck gewinnen konnten, wir wollten die NATO auf dem Altar der Wiedervereinigung opfern und durch die KSZE ersetzen. Deshalb ist in Punkt 10 recht vage von „übergreifende[n] Sicherheitsstrukturen in Europa“ die Rede.

Helmut Kohls deutschlandpolitische Rhetorik – vor allem sein beharrlich wiederholtes Bekenntnis zum Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes von 1949 – war seit seinem Amtsantritt als Bundeskanzler 1982 zu Unrecht immer wieder dem Verdacht ausgesetzt, Lippenbekenntnis zu sein, das die bloße Fortführung des sozialliberalen Managements der deutschen Teilung und die angebliche Vertiefung der Zweistaatlichkeit durch forcierte europäische Integration übertünchen sollte.

In gewisser Hinsicht entsprach diese Unterstellung dem Argwohn, der jahre- und jahrzehntelang Adenauers Bekenntnissen zum Ziel der Wiedervereinigung entgegengebracht wurde. Als „Enkel Adenauers“ hielt sich Kohl an die weisen Empfehlungen des ersten deutschen Bundeskanzlers: Es gelte aufzupassen, „ob der Augenblick kommt“ – und gleichzeitig müsse die Bundesrepublik als verlässliches Glied der westlichen Staatengemeinschaft dazu beizutragen, dass sich die günstige Gelegenheit auch tatsächlich ergebe. Ihren entscheidenden Test bestand diese Politik des strategischen Abwartens im Herbst 1989.

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