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Auslandsinformationen

Dschihad statt Demokratie?

von Dr. Edmund Ratka, Marie-Christine Roux

Tunesiens marginalisierte Jugend und der islamistische Terror

Vor fünf Jahren brachten die Tunesier unter dem Motto „Arbeit, Freiheit, Würde“ ihr autoritäres Regime zu Fall. Sie lösten damit Protestwellen und Veränderungsprozesse in der ganzen arabischen Welt aus, von deren Folgen auch Europa betroffen ist. Als einzigem Land der Region gelang Tunesien seither ein demokratischer Wandel. Doch dieser ist zunehmend bedroht durch die Radikalisierung einer Jugend, die sich ausgeschlossen fühlt vom Leben ihres Landes. Für manche perspektivlose junge Tunesier wird der „Dschihad“ – zu Hause oder im Ausland – zu einer vermeintlich verlockenden Alternative.

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Der islamistische Terror traf Tunesien im Jahr 2015 mit voller Wucht. Bei Attentaten auf das Bardo-Museum in Tunis im März und drei Monate später auf einen Hotelstrand bei Sousse wurden 59 ausländische Touristen ermordet. Der Tourismus brach ein und mit ihm die Hoffnung auf eine rasche wirtschaftliche Erholung des Landes. Im November sprengte sich ein Selbstmordattentäter inmitten der Hauptstadt in einem Bus der Präsidialgarde in die Luft und riss zwölf Polizisten mit in den Tod. Der Sicherheitsapparat war in seinem Herzen getroffen, das Vertrauen der Bürger in ihren Staat weiter beschädigt. Zu allen drei Attentaten bekannte sich die Organisation „Islamischer Staat“ (IS). Die Attentäter: junge Tunesier.

Bereits seit einigen Jahren kämpfen mehrere tausend Tunesier in Syrien, Irak und Libyen für den „Islamischen Staat“ oder andere Terrorgruppen. Wenngleich dschihadistische Radikalisierung ein globales Phänomen ist, so stellt diese für die junge tunesische Demokratie eine besondere Herausforderung dar. Zudem kontrastiert sie auffällig mit der üblichen Selbst- und Fremdzuschreibung Tunesiens als Hort der Toleranz und Modernität. In der Tat ist das Land das einzige, dem im Zuge der Proteste des „Arabischen Frühlings“ von 2011 eine politische Transition in Richtung Demokratie gelang, die bis heute – ungeachtet aller internen und externen Bedrohungen – Bestand hat. Dank seiner starken Zivilgesellschaft und der Fähigkeit seiner politischen Elite zu Konsens und Machtteilung untereinander war es gelungen, ein Abdriften in Putsch oder Bürgerkrieg wie in anderen Staaten der Region zu vermeiden. Nicht zuletzt mit dem Friedensnobelpreis für den „Nationalen Dialog“ des Jahres 2013 bzw. seine vier tragenden tunesischen Organisationen wurde dies jüngst auch international entsprechend gewürdigt.

Mit besonderer Schärfe stellt sich also die Frage, warum dessen ungeachtet ein Teil der tunesischen Bevölkerung, insbesondere der jüngeren Generation, empfänglich ist für die Aufrufe zu Gewalt im Namen des „Heiligen Krieges“. Dieser Beitrag zielt auf ein besseres Verständnis des Phänomens des Dschihadismus in Tunesien und untersucht die Ursachen und Faktoren von Radikalisierung. Als deren Grundbedingung erweist sich dabei die fortgesetzte und multidimensionale Marginalisierung von Teilen der tunesischen Jugend. Im Zusammenspiel von psychologisch-ideellen, materiellen, innenpolitischen und internationalen Faktoren können sich davon ausgehend Radikalisierungsdynamiken bis hin zur Teilnahme an Terrorakten entfalten.

Begriffsbestimmungen und Analyserahmen

Im Folgenden werden die Begriffe und analytischen Kategorien definiert, mit Hilfe derer das Phänomen des Dschihadismus und der Prozess der Radikalisierung in Tunesien – oder auch andernorts – besser verstanden werden kann. Konzeptioneller Ausgangspunkt ist hierfür der Islamismus als eine Sammelbezeichnung für „Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden.“ Versteht man den Salafismus als ein „holistisches Konzept, welches Glaube, Recht, Riten, ethisch-moralische Verhaltenskodizes sowie politische Ordnungsvorstellungen vereint“, handelt es sich dabei um eine besonders radikale Ausdrucksform des Islamismus. Die Wissenschaft unterscheidet in der Regel drei Strömungen, deren gemeinsamer Kern der ausschließliche Bezug auf Koran, Prophetentradition und die Frühzeit des Islam darstellt. Während der puristische Salafismus als apolitisch gilt und sich auf gewaltfreie Methoden der Verkündung und Erziehung konzentriert, strebt der politische Salafismus die Anwendung salafistischer Glaubenssätze in der Politik an. Gemäß dem dschihadistischen Salafismus erfordern die Umstände gegebenenfalls Gewalt und Umsturz.

Ob nun in seiner salafistischen oder auch muslimbruderschaftlichen Ausprägung weist der Islamismus also unterschiedliche Radikalitätsstufen auf. Radikalisierung kann dabei als ein Prozess definiert werden, durch den ein Individuum oder eine Gruppe eine gewaltbasierte politische Handlungsform annimmt, die auf einer extremistischen Ideologie beruht und die eine etablierte politische, soziale oder kulturelle Ordnung herausfordert. Dschihadismus, verstanden als die Herbeiführung islamistischer Ziele durch terroristische Gewalt, markiert also das obere Ende der Radikalitätsskala.

Um die Gründe und den Prozess dschihadistischer Radikalisierung zu erfassen, wird in diesem Beitrag ein zweistufiges Analysemodell vorgeschlagen. Dieses besteht erstens aus einer Ausgangs- oder Grundbedingung, die Radikalisierung prinzipiell ermöglicht: die multidimensionale Marginalisierung von bestimmten Bevölkerungsschichten. Marginalisierung ist dabei als ein Zustand oder Prozess zu verstehen, bei dem Individuen oder Gruppen an den „Rand der Gesellschaft“ gedrängt sind bzw. werden und entsprechend wenig an deren wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Leben teilnehmen können. Darauf treffen, in einem zweiten Schritt, intervenierende Faktoren, die dazu führen, dass sich ein Teil dieser marginalisierten Bevölkerung radikalisiert – in einigen Fällen im Sinne dschihadistischer Radikalisierung, die dann wiederum in der Teilnahme an terroristischen Aktionen in Tunesien oder im Ausland zum Ausdruck kommen kann.

Diese grobe Arbeitshypothese wird im Folgenden im Zuge der Analyse zu Tunesien entfaltet und präzisiert. Dabei kann zum einen auf den allgemeinen und in jüngerer Zeit anwachsenden Literaturbestand zu islamistischer bzw. dschihadistischer Radikalisierung zurückgegriffen werden. Obwohl der Großteil der ausländischen Kämpfer für den IS aus arabischen Staaten kommt, liegt der Fokus dieser Literatur, die grundsätzlich eine empirische Forschungslücke aufweist, allerdings weiterhin auf Europa und der Radikalisierung europäischer Jugendlicher. Zum anderen werden qualitative und quantitative Daten aus Tunesien ausgewertet. Dazu dienen neben den eigenen Beobachtungen der Autoren vor Ort Leitfaden-Interviews mit tunesischen Experten und Praktikern, die sich mit dem Dschihadismus in Tunesien und seinen Grundlagen beschäftigen. Zudem können unlängst durchgeführte repräsentative Umfragen und soziologische Studien herangezogen werden, die sich der Einstellung der Jugend des Landes und ihrem Verhältnis zu Politik und Religion widmen.

Heterogene islamistische Gewalt in Tunesien

Wenngleich sich die Organisation „Islamischer Staat“ zu den drei eingangs genannten großen Attentaten des Jahres 2015 bekannt hat und die terroristische Bedrohung des Landes nunmehr im Fokus steht, erweist sich das Phänomen von islamistisch konnotierter Gewalt in Tunesien als weitaus vielschichtiger. Bezüglich der Organisations- und Handlungsformen lassen sich vier verschiedene Kategorien unterscheiden, die sich sukzessiv und zum Teil überlappend seit der Revolution manifestierten.

Eine zunehmend aggressive salafistische Straßengewalt kennzeichnete die ersten Jahre nach der Revolution.

(1) Hisba-Gewalt im Sinne einer Art salafistischer Straßengewalt ist die erste Kategorie.Diese Gewaltform, die in den ersten Jahren nach der Revolution zunehmend aggressivere Züge annahm, speiste sich aus zwei Strömungen, mit denen sie teilweise auch verschwamm: Erstens aus der im Zuge der Revolution ausgeübten, zunächst nicht-islamistischen sozialen oder politischen Gewalt gegen das alte Regime oder den Status quo, wie sie sich insbesondere in den sogenannten „Ligen zum Schutz der Revolution“ gezeigt hat. Die Ligen bildeten sich ausgehend oder inspiriert von den Bürgerinitiativen und Nachbarschaftskomitees während der Revolutionstage im Januar 2011. Ihr erklärtes Ziel war es, die „Errungenschaften der Revolution“ zu verteidigen, sowie die „arabisch-muslimische Identität“ Tunesiens zu stärken. Dazu wendeten die Ligen Straßengewalt als eine aus ihrer Sicht nunmehr legitimierte „Methode der Revolution“ an. Damit gingen sie gezielt gegen jene vor, die sie als Repräsentanten des ancien régime oder Vertreter eines säkularen und liberalen Gesellschaftsmodells identifizierten. Zweitens erwuchs die Hisba-Gewalt aus den anfangs gewaltlosen salafistischen Prediger-Aktivitäten, die sich vor allem in der kurz nach der Revolution gegründeten Gruppe Ansar Al-Scharia Tunesien (AST) organisierten. Mit der Zeit wurde die genannte erste Strömung islamistischer, die zweite gewalttätiger.

In diesem Kontext kam es verstärkt zu islamistisch motivierten Gewaltaktionen, mit denen die vermeintlich islamische Moral in Tunesien aufrechterhalten oder wiederhergestellt werden sollte und die als Vorform des Dschihadismus gesehen werden können. Landesweite Ziele dieser auch mit Knüppeln und Brandsätzen operierenden Gruppen waren Bordelle, Kinos, Kunstausstellungen, Schulen und Universitäten, die das Tragen des Niqabs verboten, sowie sufistische Heiligtümer. Einen Höhepunkt der Gewalt stellte der Angriff auf die amerikanische Botschaft am 14. September 2012 dar, bei dem die amerikanische Schule in Brand gesetzt wurde.

Diese Eskalation sowie zwei politische Morde 2013 erhöhten den internen und internationalen Druck auf die tunesische Regierung, nunmehr entschiedener gegen salafistische Gruppen vorzugehen. Im Mai 2013 wurde der Kongress von Ansar Al-Scharia in Kairouan untersagt, was heftige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Salafisten im Viertel Ettadhamen, einer Vorstadt von Tunis, entfachte. Das Verbot der Organisation im August desselben Jahres und ihre Klassifizierung als Terrororganisation durch die tunesische Regierung führten zu einer Zersplitterung der Gruppe. Während ein Teil ihrer Anhänger schlicht zu ihrem früheren „zivilen“ Leben zurückkehrte, folgten einige ihrer Führung nach Libyen. Andere tauchten unter, gründeten dschihadistische Zellen oder schlossen sich bestehenden in Tunesien, aber auch in Syrien und im Irak an. Dies führte zwar zu einem deutlichen Rückgang der Hisba-Gewalt in Tunesien. Profitieren konnten davon aber andere und dabei eben auch extremere Formen islamistischer Gewalt.

(2) Dazu gehört eine hybride Mischung aus islamistisch und kriminell motivierter Gewalt, die sich als „Islamo-Gangsterism“ bezeichnen lässt. Seit den Revolutionen in Tunesien und Libyen 2011 haben Schmugglernetzwerke von der relativen Schwäche beider Staaten profitieren und ihren Einfluss in den Grenzgebieten ausbauen können. In Tunesien sind dabei die Regionen an der libyschen wie an der algerischen Grenze betroffen. Zugleich fanden in diesen „zentralstaatsfernen“ Gegenden, vor allem im Chaambi-Gebirge in der algerischen Grenzregion, dschihadistische Gruppen Unterschlupf. Obgleich Schmuggler und Dschihadisten nicht unbedingt dieselben Ziele verfolgen, können sie gemeinsame Interessen teilen. Dschihadistische Gruppen profitieren von den materiellen und finanziellen Ressourcen der Schmugglernetzwerke, diese wiederum vom Schutz dschihadistischer Gruppen und der Schwächung staatlicher Sicherheitsorgane. Über die Grenzregionen hinaus scheinen radikaler Islam und organisierte Kriminalität auch in den Vororten der Hauptstadt stärker zusammenzuwachsen. Dadurch wird ein fruchtbares Milieu geschaffen, in dem auch Dschihadismus im Sinne von politischem Terror gedeihen kann (vgl. hierzu auch den Beitrag von Shelley in dieser Ausgabe).

(3) Dschihadistischer Terrorismus ist kein neues Phänomen in Tunesien, wo die al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM) 2002 einen Anschlag auf die Al-Ghriba-Synagoge auf der Insel Djerba verübt hatte. Neu ist jedoch das Ausmaß, das der Terrorismus in den letzten Jahren angenommen hat. Von 2011 bis 2015 wurde gegen mindestens 320 Repräsentanten des tunesischen Staates, vor allem Soldaten und Polizisten, gezielt Gewalt angewandt, wobei fast hundert ums Leben kamen. Allein im Jahre 2015 töteten Dschihadisten in Tunesien zudem 62 Zivilisten, darunter hauptsächlich ausländische Touristen. Schlüsselmomente waren die Attentate auf die linken Oppositionspolitiker Chokri Belaïd (am 6. Februar 2013) und Mohamed Brahmi (am 25. Juli 2013), die auf offener Straße in Tunis erschossen wurden. Ebenfalls große Erschütterung lösten die Anschläge und Hinterhalte auf Sicherheitskräfte während des Ramadan 2013 und 2014 aus, vermutlich durch Anhänger von Ansar Al-Scharia. Das Jahr 2015 schließlich markiert mit den Anschlägen auf das Bardo-Museum (am 18. März), den Hotelstrand in Sousse (am 26. Juni) und mit einem Selbstmordanschlag auf einen Bus der Präsidialgarde im Zentrum der Hauptstadt (am 24. November) den bisherigen traurigen Höhepunkt dschihadistischen Terrors in Tunesien.

Zahlreiche Tunesier betätigen sich als Foreign Terrorist Fighters in den Konflikten der Region.

Mit Blick auf die Organisationsstruktur des Dschihadismus dominiert bis 2014 die al-Qaida im Islamischen Maghreb und die ihr angehörende Brigade (tunesisch katiba) Oqba ibn Nafaa. Diese seit 2012 aktive Gruppe, deren Ursprünge in die 2000er Jahre zurückreichen, ist besonders im Grenzgebiet zu Algerien aktiv und umfasst auch erfahrene Kämpfer von dort. Zeitgleich zur endgültigen Trennung von al-Qaida und „Islamischer Staat“ und dessen Ausrufung des Kalifats im Irak und in Syrien traten in Tunesien ab Juni 2014 erste Zeichen einer Spaltung der Brigade auf. Diese führten zum Auftreten einer neuen dschihadistischen Organisation, der dem IS nahestehenden Jund Al-Khalifa. Die Präsenz zweier um das Monopol dschihadistischer Legitimität konkurrierender Organisationen trug zur Eskalation der Gewalt in Tunesien bei. Von der Bekämpfung der aus islamistischer Sicht illegitimen staatlichen Strukturen (taghut) bewegte sich die dschihadistische Gewalt hin zu terroristischen Attentaten, die auch westliche Ausländer treffen sollten und zu Propagandazwecken entsprechend grausam inszeniert wurden. Die in einem Video verbreitete Enthauptung eines tunesischen Jugendlichen, welcher der Kooperation mit den Sicherheitskräften beschuldigt wurde, sollte wohl die lokale Bevölkerung einschüchtern und erinnert ebenfalls an die Methoden des IS in Syrien und im Irak. Wenngleich all diese Gewaltformen dem gemeinsamen Ziel dienen, Tunesiens neuen demokratischen Staat, einschließlich seiner Institutionen und seiner Ökonomie, zu schwächen und letztlich zu Fall zu bringen, deutet sich hier eine zunehmende „IS-isierung“ des dschihadistischen Terrorismus in Tunesien an.

(4) Die vierte Kategorie des Dschihadismus be-trifft die sogenannten ausländischen Kombattanten oder Foreign Terrorist Fighters (FTF). Mit über 5.500 Tunesiern in Kampfgebieten, hauptsächlich in Syrien, im Irak und in Libyen, gehört das Land zu den wichtigsten Herkunftsländern für den internationalen Dschihadismus überhaupt (vgl. hierzu auch den Beitrag von Eichhorst in dieser Ausgabe). Nach Angaben des Innenminis teriums wurden in den letzten Jahren über 12.000 Tunesier an der Ausreise gehindert, die sich am „Dschihad“ beteiligen wollten. Tunesier kämpften bereits in den 1960er Jahren an der Seite der Palästinenser gegen Israel, in den 1980er Jahren in Afghanistan und in der Folge des Irak-Krieges 2003 gegen die dort stationierten US-Truppen. Mit dem Beginn des syrischen Bürgerkrieges 2011 brach sich dieses Phänomen erneut Bahn, wobei sich seither drei Wellen unterscheiden lassen. Die erste, vor allem in den Jahren 2012 und 2013, war vom Kampf gegen das Assad-Regime geprägt, wobei für viele hier eine revolutionäre oder humanitäre Motivation im Vordergrund stand. Die zweite Welle ab Mitte 2014 wurde durch das Auftreten des „Islamischen Staates“ ausgelöst und schließt nunmehr neben Syrien auch den Irak als Zielland ein. Die dritte Welle trifft derzeit das Nachbarland Libyen. Im Zuge des Zerfalls der libyschen Staatlichkeit und seit der IS in seiner syrisch-irakischen Hochburg stärker unter Druck gerät, bewegt sich sein strategischer Fokus nach Libyen – und ändert damit auch das Zielland für Foreign Terrorist Fighters. Für Tunesien bedeutet dies ein erhöhtes Risiko, nicht nur aufgrund der möglichen „Rückkehrer“, deren Zahl in Tunesien schon heute auf über 700 geschätzt wird. Nur 70 Kilometer von der tunesischen Grenze entfernt befindet sich das erste IS-Trainingslager in Libyen. In einem der libyschen Lager wurden vermutlich auch die Attentäter auf das Bardo-Museum und auf das Hotel in Sousse ausgebildet.

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Islamistische Gewalt in Tunesien kennt also sehr unterschiedliche Ausdrucksformen, die teilweise ineinander übergehen und sich gegenseitig verstärken. In der Gesamtschau lässt sich dabei seit 2011 sowohl hinsichtlich der Anzahl als auch hinsichtlich der ausgewählten Ziele eine Eskalation beobachten.

Offizielle statistische Daten über das Profil tunesischer Dschihadisten gibt es nicht bzw. werden von den Behörden bislang unter Verschluss gehalten. Gleichwohl lassen sich anhand der bekannten Fälle rekurrierende Merkmale festhalten. Abgesehen von einigen Afghanistan- oder Irak-Veteranen, die oftmals Führungspositionen bekleiden (wie der AST-Gründer Abu Iyadh), sind tunesische Dschihadisten schwerpunktmäßig Anfang und Mitte 20 und praktisch ausschließlich unter 30 Jahre alt. Zwar sind auch einige Fälle aus der Mittel- oder oberen Mittelschicht bekannt, wobei insbesondere Studenten technischer Fächer betroffen sind. Das Gros der Dschihadisten kommt aber aus armen oder zumindest sozial benachteiligten Verhältnissen. Sie sind fast alle männlich, wenngleich sich immer wieder auch Frauen den Reihen des IS anschließen.

Auffällig ist dabei die oftmals eher kurze Radikalisierungsphase von manchmal nur wenigen Monaten. Der 23-jährige Seifeddine Rezgui beispielsweise, der das Attentat auf den Hotelstrand in Sousse verübte, war in Kairouan als Student der Ingenieurwissenschaften eingeschrieben und dort früher als passionierter Breakdance-Tänzer bekannt. Bereits seit der Revolution und über Kontakte zu Ansar Al-Scharia hatte sich dagegen Houssam Ben Hedi Ben Miled Abdelli radikalisiert, der sich im Bus der Präsidialgarde in die Luft sprengte. Im Arbeiterbezirk Douar Hicher am Stadtrand von Tunis hatte sich der 26-Jährige als Tagelöhner und mit einem ambulanten Verkaufsstand durchgeschlagen. Er kann als ein Prototyp der multidimensionalen Marginalisierung gelten, die wir als Grundbedingung für Radikalisierung ansehen.

Multidimensionale Marginalisierung als Grundbedingung für Radikalisierung

„Es wird der Tag kommen, an dem ich mich gegen dich wende, oh du mein altes Land. Du warst so hart zu mir, dass ich darüber meine Seele verloren habe. Oh du mein Land, ich bin ein Arbeitsloser für immer und all die Schufte, die du beherbergst, sind der Grund für die Spaltung des Volkes.“ Aus diesen Liedzeilen des Rappers Marwan Gabos spricht die Wut und Enttäuschung einer Jugend, die sich in der jungen Demokratie Tunesiens genauso ausgeschlossen fühlt wie unter dem autoritären Regime Ben Alis. Dabei lassen sich sechs Formen oder Dimensionen von Marginalisierung unterscheiden: wirtschaftlich, sozial, politisch, staatsbürgerlich, geografisch und kulturell-identitär.

Bei vielen jungen Tunesiern geht die ökonomische Perspektivlosigkeit mit einer extremen sozialen Marginalisierung einher.

(1) Am deutlichsten sticht dabei die fortdauernde wirtschaftliche Marginalisierung hervor. Zuvorderst liegt dies an den Rahmen-bedingungen der tunesischen Volkswirtschaft, die sich seit der Revolution verschlechtert haben. Zwar beendete der Regimesturz die kleptokratischen Eingriffe in die Wirtschaft durch la famille, also den Verwandtschafts- und Günstlingszirkel des ehemaligen Staatspräsidenten Zine el-Abidine Ben Ali. Doch die politische Unsicherheit der Übergangsphase mit insgesamt sechs verschiedenen Regierungen, die regional instabile Lage insbesondere in Libyen sowie der Einbruch von Tourismus und ausländischen Direktinvestitionen nach den Terroranschlägen brachte das Wirtschaftswachstum zum Erliegen. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt seit einigen Jahren konstant bei 15 Prozent, ist bei den Hochschulabsolventen aber doppelt so hoch. Zugleich arbeitet die große Mehrheit der jungen Tunesier in niedrig-qualifizierten Jobs in wenig produktiven Sektoren, etwa der Service- oder Tourismusindustrie.

(2) Die ökonomische Perspektivlosigkeit geht dabei – gerade in den besonders betroffenen eher konservativen Milieus auf dem Land und in den städtischen Randbezirken – mit einer sozialen Marginalisierung einher: ohne Arbeit keine Heirat und damit kein eigener Haushalt, keine individuelle Emanzipation und kein eigener Platz in der Gesellschaft. Von einem grundlegenden „Daseinsproblem“ dieser Jugendlichen spricht ein Rechtsanwalt, der Familien von nach Syrien ausgereisten Foreign Terrorist Fighters betreut. In der Tat ist auffällig, dass mehr als zwei Drittel aller tunesischen Jugendlichen Umfragen zu Folge keiner bestimmten Freizeitaktivität nachgehen, also auch keiner sportlichen oder kulturellen. Auf dem Land engagieren sich nur drei Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Verbänden und Vereinen.

Wie sehr das Gefühl einer sozio-ökonomischen Marginalisierung auch bei Bevölkerungsschichten auf Resonanz stößt, die davon nicht in erster Linie betroffen sind, zeigt der landesweite Erfolg des Liedes Houmani aus dem Jahr 2013, in dem das eintönige und perspektivlose Leben der Jugend in den benachteiligten Vorstädten (tunesisch houma) beschrieben wird: „Wir leben wie Abfall in Mülltonnen. Arm, ohne Geld. Wir stehen spät auf und sehen nicht, wie die Zeit vergeht. Ich habe keine Uhr. Hier studiert man nicht, hier fühlt man sich erstickt.“ Korruption und Nepotismus überdauerten vielerorts die Revolution und tun ihr Übriges, um den Glauben junger Menschen an berufliches Vorankommen und damit den Ausbruch aus dieser Lethargie zu untergraben.

(3) Auch am politischen Leben des Landes nehmen weite Teile der tunesischen Jugend nicht teil – obwohl diese 2010/2011 das Rückgrat der Bürgerproteste war und damit die Möglichkeit zu freier politischer Partizipation erst eröffnet hat. Weder der studentischen und urbanen Aktivisten-Szene noch den revoltierenden jungen Arbeitslosen und Tagelöhnern aus den Binnenregionen gelang es nach dem Regimesturz, sich nachhaltig politisch zu organisieren und sich spürbar in die entstehenden demokratischen Institutionen einzubringen. Die politische Transition wurde weitgehend vom Establishment organisiert. Den „Nationale Dialog“, der das Land aus der Staatskrise des Jahres 2013 führte und dem sich alle wichtigen Parteien anschlossen, initiierten und moderierten traditionelle Nichtregierungsorganisationen, allen voran die Gewerkschaft. Konsens galt seither als Erfolgsrezept der tunesischen Politik. Dieser Ansatz findet seine Fortsetzung in der breiten Regierungskoalition von Nidaa Tounes, die als bürgerliche Sammlungsbewegung die Präsidial- und Parlamentswahlen Ende 2014 für sich entschieden hatte, und der Ennahda (Anfang der 1980er Jahre als islamistische Reform-Bewegung gegründet) sowie zwei kleineren liberalen Parteien.

Allerdings garantiert dieser „middle class compromise“ zwischen dem national-modernistischen Lager und pragmatischen Islamisten weder eine wirkliche gesamtgesellschaftliche politische Inklusivität noch eine (jedenfalls subjektiv) politische Repräsentation aller Bevölkerungsschichten und Landesteile. Als ein Indiz dafür kann die geringe Wahlbeteiligung gerade unter jungen Menschen gelten. 2014 nahmen weniger als 20 Prozent der unter 29-Jährigen an den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen teil. Gerade in den Binnenregionen kennen viele Bürger ihren Abgeordneten nicht oder nehmen diesen – einmal gewählt und damit nach Tunis entsandt – nicht mehr als Ansprechpartner und Interessenvertreter des Wahlkreises war. Generell erreichen politische Institutionen geringe Vertrauenswerte, bei der ländlichen Jugend unter neun Prozent (dem Militär, der eigene Familie und lokalen religiösen Organisationen vertrauen hingegen über 80 Prozent).

In Tunesien gibt es weder eine gesamtgesellschaftliche politische Inklusivität noch eine politische Repräsentation aller Bevölkerungsschichten und Landesteile.

(4) Gerade in den vernachlässigten Regionen des Hinterlandes und den Problembezirken der städtischen Großräume ist das Verhältnis zu den staatlichen Autoritäten teilweise derart zerrüttet, dass von einer staatsbürgerlichen Marginalisierung gesprochen werden muss, die über politische Apathie noch hinausgeht. Wenige Tage nachdem am 13. November 2015 ein 16-jähriger Schäfer von Dschihadisten enthauptet worden war, gab dessen Cousin ein emotionales Fernsehinterview, das landesweit für Erschütterung sorgte. Darin beklagte er nicht nur die miserablen Lebensbedingungen seiner Familie, sondern auch die Abwesenheit des Staates in seinem Bergdorf im zentraltunesischen Regierungsbezirk Sidi Bouzid. Weder gebe es öffentliche Institutionen in Reichweite, noch könnten die Sicherheitskräfte die Bewohner vor Terroristen schützen: „Ich bin 20 Jahre alt und ich habe noch nie einen Verantwortlichen bei uns gesehen, noch nie jemanden getroffen. Die Nation kenne ich nur von meinen Personalausweis.“

Für die städtische marginalisierte Jugend gibt es dagegen sehr wohl eine Beziehung zum Staat – allerdings eine konfliktuelle. „Für einen jungen Menschen hier ist der Staat der Polizist, der zuschlägt“, formuliert es ein Lehrer aus Kasserine. Bezeichnenderweise hatte diese Stadt im Westen Tunesiens, die am Fuße des Chaambi-Gebirges liegt, im Zuge der Proteste 2010/2011 landesweit die meisten Opfer durch Regimegewalt zu beklagen. Auch in Douar Hicher, einem Randbezirk im Großraum Tunis, fühlen sich Jugendliche laut einer soziologischen Studie systematisch von der Polizei diskriminiert. So würden sie beispielsweise durch willkürliche Kontrollen gehindert, ins Stadtzentrum zu gelangen. Der Hass auf die Polizei spiegelt sich nicht zuletzt in der Populärkultur der tunesischen Jugend wider, ihrer Rap- und Hip-Hop-Musik. „Du willst meinen Ausweis? Den geb’ ich dir nicht. Zum Opfer-Fest schächte ich einen Polizisten“, heißt es in dem gewaltverherrlichenden Lied Boulicia Kleb („Polizisten sind Hunde“) des Rappers „Weld El 15“ aus dem Jahr 2013. Bei Worten bleibt es nicht immer: Gerade in Städten wie Kasserine oder Sidi Bouzid gehen regelmäßig Polizeistationen in Flammen auf. Manche Beobachter sprechen von einem regelrechten „Krieg“ zwischen der perspektivlosen Jugend und der Polizei, den es schon zu Zeiten Ben Alis gegeben habe und der bis heute andauere.

(5) Diese sozio-ökonomische und politische Marginalisierung überschneidet sich vielerorts mit einer geografischen Marginalisierung, die noch weiter in Tunesiens Geschichte zurückreicht. Schon zur Zeit des französischen Protektorats bevorzugten die Autoritäten die Hauptstadt Tunis und die östliche Küstenregion (den sogenannten Tunesischen Sahel mit Sousse als Zentrum), aus denen sie ihre administrativen Eliten rekrutierten. Staatsgründer Habib Bourguiba, der sich innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung gegen die vor allem im Süden verankerten „Youssefisten“ (also die Anhänger des aus Djerba stammenden Salah Ben Youssef) durchsetzen konnte, kam genauso aus dieser Region wie sein Nachfolger im Präsidentenamt, Ben Ali. Abgesehen von der Wirtschaftsmetropole Sfax, einer südlichen Küstenstadt, sind die Regionen jenseits der Hauptstadt und des Sahel ökonomisch und hinsichtlich öffentlicher Infrastruktur weitaus weniger entwickelt, wobei der mittlere Westen des Landes besonders betroffen ist. Vom Zentralstaat fühlt man sich dort traditionell benachteiligt und um die Gewinne aus den dortigen Rohstoffvorkommen, wie Phosphat, betrogen. Nicht zuletzt aufgrund des wirtschaftlichen Ungleichgewichtes lässt sich seit Jahrzehnten eine Binnenmigration gerade in die peri-urbanen Gürtel der Küstenstädte beobachten. Auch kulturell klafft ein Graben zwischen dem Süden mit seinen traditionellen Bindungen zum angrenzenden Libyen und der nördlichen und östlichen Küstenregion, die eher an Europa orientiert ist.

(6) Schließlich lässt sich das Gefühl einer kulturell-identitären Marginalisierung beobachten – gerade bei jungen Menschen, die in den bislang genannten Dimensionen bereits betroffen sind. Dieses speist sich aus der Unterdrückung islamischer Praktiken unter dem Ben Ali-Regime sowie, wie es ein tunesischer Soziologe formuliert, einer „kollektiven Erinnerung der Demütigung und des Niedergangs der arabisch-muslimischen Welt“. In der Tat fällt das große Misstrauen auf, das in der tunesischen Bevölkerung westlicher und vor allem US-amerikanischer, französischer und britischer Außenpolitik entgegengebracht und selbst in der staatsnahen Presse offen artikuliert wird. In dieser Weltsicht ist die arabisch-muslimische Welt den Angriffen fremder Mächte ausgesetzt und in dieser Auseinandersetzung bisher vor allem Opfer.

Die hier in ihren sechs Dimensionen beschriebene Marginalisierung führt freilich nicht zwangsläufig zu einer islamistischen Radikalisierung oder gar zu terroristischer Aktivität. Sie schafft aber den fruchtbaren Resonanzboden für die Radikalisierungsfaktoren und Dynamiken, mit denen sich Tunesien seit der Revolution in besonderem Maße konfrontiert sieht.

Intervenierende Faktoren für Radikalisierung

Der Dschihadismus macht Tunesiens marginalisierter Jugend ein Angebot. Er verspricht vermeintlich einfache Antworten auf ihre materielle und ideelle Existenzkrise. Die Schwäche des Staates seit der Revolution und die politische Toleranz gegenüber radikalen Gruppen in der e rsten Periode der Transition haben dem Dschihadismus den nötigen Raum gegeben, für dieses Angebot zu werben. Seit die staatlichen Autoritäten dem Dschihadismus dann endlich den Kampf angesagt haben, operiert der immer noch unreformierte Sicherheitsapparat mit altbekannten Mitteln der Repression, welche die Wut der Jugend weiter anheizen. Inzwischen hat sich auf regionaler und internationaler Ebene eine Dynamik entwickelt, die das dschihadistische Phänomen weltweit – und eben auch in Tunesien – weiter befördert. Damit sind vier Gruppen von Radikalisierungsfaktoren in Tunesien wirksam.

(1) Psychologische und ideelle Faktoren spielen generell eine Schlüsselrolle im Prozess der Radikalisierung, gerade von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die radikale Ideologie, hier das dschihadistische Gedankengut, bietet dem Individuum Antworten auf sein existenzielles Unwohlsein, die in seinen eigenen Erfahrungen Resonanz finden. Dschihadistische Organisationen fungieren in diesem Sinne als „Identitätsunternehmer“ mit dem Versprechen, sein Leben auf radikale Weise sofort, aber auch langfristig ändern zu können. Dies trifft besonders auf den IS zu, dessen Ideologie auch ohne ausgeprägte Islam-Kenntnis zugänglich ist und der mit seinem ausgefeilten auf die sozialen Medien gestützten Propagandasystem vermittelt, dass hier jeder mitmachen könne. Es wird eine Utopie angeboten, eine neue revolutionäre, religiöse und angeblich gerechtere Gesellschaftsordnung, in welcher der Mensch sich verwirklichen und an deren Verwirklichung er aktiv teilnehmen kann. Er gehört einer Gruppe seinesgleichen an, einer Gemeinschaft, die ihm einen Platz in dieser neuen Gesellschaftsordnung schafft und ihm damit ein Gefühl der Zugehörigkeit und neues Selbstbewusstsein verspricht. Im manichäischen Weltbild des IS gehört man immer zu den Guten und den Siegern. Mehr noch: Seine apokalyptische Internet-Propaganda verspricht an der Befreiung des Islams in der letzten Schlacht gegen Kreuzfahrer teilzuhaben – und damit ultimative Sinnstiftung.

Diese Mischung aus religiösen (Gut und Böse, Apokalypse) und politisch-revolutionären Ideen (Utopie, neue Gesellschaftsordnung) gibt dem Hass auf staatliche Institutionen und der sozialen Gewalt eine doppelte Legitimität. Der „Dschihad“ in seinen unterschiedlichen Formen (ob in Tunesien oder im Ausland) kann damit zum letzten Ventil der fortgesetzten Frustration der tunesischen Jugend werden, zu einer Form des Widerstandes gegen die eigene hilflose Kondition und gegen die (zumindest wahrgenommene) fortdauernde Demütigung durch den Staat und die Gesellschaft. Für manche ist der „Dschihad“ damit, wie zuvor die Revolution oder die illegale Auswanderung nach Europa, eine Möglichkeit sein Glück noch einmal oder woanders zu versuchen.

(2) Daneben nutzt der IS auch die ökonomische Schwäche der marginalisierten Jugend aus. Manchen Analysten zufolge spielen die finanziellen Anreize für die Mehrheit der rekrutierten tunesischen Dschihadisten mittlerweile die ausschlaggebende Rolle. Der IS soll potenziellen Kandidaten je nach Qualifikation zwischen 400 und 4.000 US-Dollar pro Monat bieten, einschließlich entsprechender Garantien für die Hinterbliebenen im Todesfall. Damit ist schon der „Mindestlohn“ des IS höher als das durchschnittliche Gehalt in Tunesien. In einem Kontext starker Inflation seit 2011 wirkt der Anreiz, damit nicht nur sich selbst, sondern auch seiner Familie zu helfen, umso mehr. Die Cafés, in denen sich arbeitslose junge Männer ihre Zeit vertreiben, avancierten dementsprechend zu den beliebtesten Orten der „Rekrutierer“, die ihrerseits hohe Prämien erhalten.

(3) In den ersten Jahren nach der Revolution fungierten hingegen Moscheen oftmals als zentrale Radikalisierungs- und Rekrutierungsorte. Dazu konnten sie durch die post-revolutionäre Schwäche des Staates sowie die bis Mitte 2013 praktizierte politische Toleranz gegenüber radikalen Kräften werden. Durch die im Zuge der fortdauernden revolutionären Protestbewegungen Anfang 2011 erlassene Generalamnestie für politische Gefangene kamen auch radikale Islamisten frei, die daraufhin eine Schlüsselrolle beim Aufbau salafistisch-dschihadistischer Bewegungen wie Ansar Al-Scharia spielten. Mit dem Zusammenbruch des ancien régime und der damit verbundenen Delegitimierung staatlicher Autorität insgesamt entglitten der öffentliche Raum und vor allem Moscheen der staatlichen Kontrolle. In dieser Zeitspanne übernahmen radikale Islamisten bis hin zu salafistisch-dschihadistischen Gruppen die Kontrolle über geschätzt rund 500 Moscheen, also knapp zehn Prozent aller Moscheen des Landes.

Die im Herbst 2011 in den ersten freien Wahlen gewählte sogenannte Troika-Regierung (eine Koalition der Ennahda mit zwei kleineren Parteien sozialdemokratischer Prägung) trat diesem Kontrollverlust zunächst nicht entgegen – sei es aus einer revolutionären und damit prinzipiell staatskritischen Haltung heraus, wie sie Präsident Moncef Marzouki an den Tag legte, oder im Sinne einer „Einbindungsstrategie“ und aufgrund ideologischer Nähe zu salafistischen Predigern, wie sie zumindest Teilen der Ennahda zugeschrieben werden kann. Mitglieder ihres radikalen Flügels beteiligten sich nicht nur an den salafistischen Predigerzirkeln im Umfeld der Moscheen, sondern traten 2011 und 2012 auch bei den Kongressen von Ansar Al-Scharia als Redner auf. Obschon die Troika ab Mitte 2013 ihre diesbezügliche Politik zu ändern begann und die ein halbes Jahr später eingesetzte technokratische Übergangsregierung entschiedener gegen salafistische Gruppen vorging, war nunmehr der Geist aus der Flasche. Zugleich hat der Fokus der Ennahda auf Politik und ihre später zunehmend auf Konsens und Kompromiss auch mit eher säkularen Gruppen gestützte Beteiligung an der politischen Macht zu einem „religiösen Vakuum“ beigetragen, das dann von radikaleren Bewegungen genutzt werden konnte.

Bis heute tut sich der tunesische Staat schwer, eine ausgewogene Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu finden. Die politische Unentschlossenheit und die Schwäche des mit dem Fall Ben Alis zunächst auch in der breiteren Öffentlichkeit delegitimierten Sicherheitsapparates in den ersten Jahren nach der Revolution ist in ein scharfes Vorgehen der Sicherheitskräfte umgeschlagen, von dem gerade jüngere Menschen betroffen sind. Dieses reicht von nun wieder häufigeren Verhaftungen wegen Drogenkonsums (knapp 8.000 Tunesier sitzen dafür im Gefängnis) bis hin zu Demütigungen oder Misshandlungen in Polizeigewahrsam. Menschenrechtsorganisationen berichten von fortbestehenden Folterpraktiken und mindestens sechs ungeklärten Todesfällen in Gefängnissen seit 2011.

Gerade die besonders von sozio-ökonomischer Marginalisierung betroffenen Schichten der tunesischen Jugend finden sich also mit Verhaltensmustern konfrontiert, die jedenfalls aus ihrer Sicht denjenigen des Polizeistaates ähneln, gegen den sie sich vor mehr als fünf Jahren erhoben hatten. Die als Unrecht und Willkür empfundene staatliche Gewalt treibt den Teufelskreis von Repression, Demütigung und Radikalisierung weiter an. Man kann diesen an den „Laufbahnen“ mancher Mitglieder der Ultra-Gruppen der großen tunesischen Fußballclubs beobachten, die sich schon unter Ben Ali mit der Polizei prügelten, dann im Zuge der Revolutionsproteste 2010/2011 eine wichtige Rolle spielten und sich heute dem Dschihadismus zugewandt haben. Durch die Repression verschiebt sich also lediglich die Ausdrucksform der Gewalt, während das Phänomen als solches weiterbesteht oder sich im Sinne einer Radikalisierungsspirale sogar verschärft.

Auch internationale Faktoren haben die dschihadistische Radikalisierung in Tunesien in den letzten Jahren begünstigt.

(4) Schließlich haben auch internationale Faktoren in den letzten Jahren dschihadistische Radikalisierungstendenzen in Tunesien begünstigt. Für Tunesien besonders schwerwiegend ist dabei das Misslingen der Transition in Libyen nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes. Der dortige Staatszerfall macht das Land zu einem fruchtbaren Boden für dschihadistische Gruppierungen. Jenseits der sicherheitspolitischen Folgen hat Tunesien, das mit Libyen 459 Kilometer Grenze teilt, auch wirtschaftlich unter der Situation in seinem Nachbarland zu leiden. Zu Zeiten von Gaddafi waren zehntausende Tunesier, vor allem aus den ärmeren Schichten und Regionen, dort als Gastarbeiter tätig und brachten Devisen nach Hause. Das Auftreten und die Erfolge des „Islamischen Staates“ mit seiner Präsenz in Syrien und im Irak und zunehmend eben auch in Libyen sowie dessen Anschläge im Westen haben den globalen Dschihadismus beflügelt und können ihn, jedenfalls in den Augen eines an den Rand gedrängten und nach Würde suchenden jungen Menschen, als eine utopische – und nun eben auch ganz reale – Alternative erscheinen lassen. Zu den Radikalisierungsfaktoren auf internationaler Ebene gehört auch der Einfluss ausländischer Prediger vor allem aus den Golfstaaten, der sich seit 2011 hat weiter ausbreiten können. Aufbauend auf den schon seit den 2000er Jahren über Satellitenfernsehen verbreiteten Lehren, reisten diese Prediger nach der Revolution nach Tunesien und trugen in den Moscheen zu deren salafistischer bzw. wahhabitischer Ausrichtung bei.

Resümee und Ausblick

Freilich wird nicht jeder „marginalisierte“ Jugendliche in Tunesien zum Terroristen. Und gerade die Führungskader dschihadistischer Gruppen rekrutieren sich auch aus privilegierten Schichten. Doch lässt sich annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit dschihadistischer Radikalisierung zunimmt, je mehr der in diesem Beitrag aufgezeigten Marginalisierungsdimensionen auf ein Individuum zutreffen. Wenngleich diese Marginalisierung ihren spezifischen tunesischen Charakter hat, zeigen sich dabei durchaus Parallelen zu Radikalisierungsdynamiken anderorts – sei es der für das Rekrutierungspotenzial der Boko Haram in Nigeria konstatierte „Bruch mit Autoritäten und Identitäten“ oder die „Islamisierung der Radikalität“, womit das dschihadistische Phänomen in Frankreich beschrieben wurde.

Für Tunesien und seine noch fragile Demokratie stellt dieser internationale Dschihadismus eine existenzielle Bedrohung dar, wenn die in diesem Beitrag dargelegte Radikalisierungsspirale und die mit ihr verbundene Eskalation terroristischer Gewalt nicht gestoppt werden können. Deutlich wird dabei, dass Tunesien – und seine internationalen Partner – dafür eine umfassende Strategie entwickeln und umsetzen müssen, die an mehreren dieser Stellschrauben gleichzeitig ansetzt. Neben der ökonomischen, sozialen, politischen, staatsbürgerlichen, geografischen und kulturell-identitären Marginalisierung als Grundbedingung bieten dafür auch die hier aufgezeigten psychologisch-ideellen, materiellen, innenpolitischen und internationalen Faktoren Anhaltspunkte. Dabei drängt die Zeit. Ausgehend von Kasserine brachen im Januar 2016 landesweite Proteste aus, bei der die Forderung nach Arbeit und regionaler Entwicklung erhoben wurden. Regelmäßig auftretende Verzweiflungstaten von Hungerstreiks bis Selbstverbrennungen machen deutlich, dass der Wunsch nach Würde für nicht wenige Tunesier nach wie vor unerfüllt geblieben ist.

Für die tunesische Regierung und die politische Klasse des Landes, die ihren Konsolidierungs- und Reifeprozess noch keineswegs abgeschlossen hat, ist all dies eine Herkulesaufgabe. Doch Anzeichen für Hoffnung gibt es sowohl auf staatlicher, vor allem aber auf nicht-staatlicher Ebene. Die vom ersten frei gewählten Parlament des Landes nahezu einstimmig verabschiedete Verfassung vom 27. Januar 2014 verpflichtet den Staat auf eine stärkere Beteiligung der Jugend in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sowie auf die Herstellung eines regionalen Gleichgewichts. Sie verspricht Dezentralisierung und kommunale Selbstverwaltung – eine für das traditionell zentristisch organisierte Tunesien geradezu revolutionäre Forderung, die indes bis heute erst in Ansätzen umgesetzt wurde. Die Medienberichterstattung zum fünften Jahrestag der Revolution widmete sich dann auch ausführlich der unverändert unbefriedigenden Lage der Binnenregionen und der jungen Generation des Landes. Die politische und mediale Elite in Tunis ist sich des Handlungsbedarfs sehr bewusst. Staatspräsident Essebsi kündigte bei seiner Rede zum 14. Januar 2016 einen nationalen Jugendkongress an. Dort sollten „mit der Jugend und für die Jugend“ Strategien definiert werden, um diese besser „in ihr Land zu integrieren“. Zugleich setzte der Staatspräsident eine Juristenkommission zur Überarbeitung des Strafrechts ein, um dieses an die konstitutionell garantieren Freiheitsrechte anzupassen – eine Forderung, die gerade von jungen Aktivisten immer wieder erhoben wird.

Doch viele Tunesier der jüngeren Generation – aus allen Schichten und Regionen – warten nicht darauf, bis sich Verfassungsbestimmungen oder politische Rhetorik in eine Veränderung ihrer Lebensrealität übersetzen. Sie nehmen allen oft administrativen Hürden zum Trotz ihr Schicksal selbst in die Hand. Beispielhaft sei der Jungunternehmerverband Centre des Jeunes Dirigeants d’Entreprises (CJD) angeführt, in dem sich reformorientierte Unternehmer und Führungskräfte zusammengeschlossen haben und der im vergangenen Jahr mehrere Regionalsektionen im ganzen Land gegründet hat. Angesichts der defizitären staatlichen Fortbildungsstrukturen wurde mit internationaler Hilfe eine Abendschule ins Leben gerufen, in der die Mitglieder ihre Management-Fähigkeiten erweitern können. In Kasserine arbeiten Einwohner daran, sich den Berg Chaambi, der als Hochburg dschihadistischer Zellen gilt, „zurückzuholen“ – mit der Gründung eines Kulturzentrums und einem Wanderweg für alternativen Tourismus. In El-Guettar, einem Städtchen im Regierungsbezirk Gafsa in Zentraltunesien, wo der regimetreue Bürgermeister im Zuge der Revolution verjagt worden war, wartete man nicht auf die mehrmals verschobenen Kommunalwahlen. Die Bürger ernannten über Nachbarschaftskomitees und Räte kurzerhand den Geschäftsführer eines örtlichen Unternehmens zum Stadtoberhaupt.

Solche bottom-up-Initiativen ersetzen nicht die nötigen politischen, ökonomischen und sicherheitsbezogenen Rahmenbedingungen. Doch sie zeugen vom Potenzial eines Landes, das dem Ausbleiben einer wirtschaftlichen Demokratiedividende bislang genauso widerstanden hat wie der Wucht des Terrors. Dieses bürgerschaftliche Potenzial zu unterstützen kann nicht nur ein Beitrag zur Entwicklung Tunesiens sein, sondern auch zum Kampf gegen den internationalen Dschihadismus.

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Dr. Edmund Ratka ist Projektassistent im Auslandsbüro Tunesien der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Marie-Christine Roux war bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Auslandsbüro Tunesien der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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