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Dokumente zur Deutschlandpolitik

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Dokumente zur Deutschlandpolitik bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, 1998, R. Oldenbourg Verlag München

Teilnehmer: Tschernajew, Persönlicher Berater des Generalsekretärs, Horst Teltschik, Ministerialdirektor zwei Dolmetscher

GS Gorbatschow begrüßte den Bundeskanzler. Man lebe jetzt in einer besonders dynamischen Zeit, die mit sehr großen Veränderungen verbunden sei. Vor einiger Zeit habe es noch den Anschein gegeben, als würde alles noch in den Wolken schweben. Heut sei alles sehr aktuell.

... Der Bundeskanzler bedankte sich für das freundliche Willkommen. Für ihn persönlich wie für beide handele es sich um ein sehr wichtiges Gespräch. ... In der Bundesrepublik herrsche über die Erfolge des Generalsekretärs und die Ergebnisse seiner Reformpolitik große Befriedigung.

... Der Generalsekretär genieße in der Bundesrepublik viele Sympathien. Er selbst teile diese Sympathien. Viele Deutsche seien dafür, daß die Bundesregierung die sowjetischen Reformen unterstütze.

... Der Bundeskanzler leitete auf die Entwicklung in der DDR über. Seit ihrer Begegnung in Bonn sei es zu einer dramatischen Entwicklung gekommen, die niemand vorausgeahnt habe. In den letzten vier, fünf Wochen seien noch einmal dramatische Veränderungen eingetreten. Es sei jetzt sein Wunsch, eine enge Zusammenarbeit aufzunehmen sowohl zwischen dem Generalsekretär und ihm als auch mit den USA und den anderen Partnern, damit keine chaotischen Entwicklungen einträten.

Er sehe zwei Schienen für die weitere Entwicklung: Die erste betreffe die Zusammenarbeit zwischen den Deutschen und die zweite den internationalen Rahmen, die Einbeziehung der Nachbarn, ihre Interessen, insbesondere die der Sowjetunion, die Fragen der Sicherheit und der europäischen Einbettung. Beide Entwicklungsströme gehörten zusammen und seien nur zusammen denkbar.

Er wolle zuerst auf die deutschen Probleme eingehen, ohne damit diesen Zusammenhang aufzugeben. Der Bundeskanzler erinnerte Generalsekretär Gorbatschow an das Telefongespräch nach der Wahl von Egon Krenz zum Generalsekretär der SED. Damals habe er Gorbatschow gesagt, daß er nicht glaube, daß Krenz die Probleme lösen könne. Dies sei auch so eingetreten. Dann sei Modrow als Ministerpräsident gefolgt. Er halte ihn für einen aufrichtigen Mann. Bei seiner Begegnung mit Modrow im Dezember habe er gedacht, daß dieser die Sache in die Hand bekomme. Sicherlich sei damals schon erkennbar gewesen, daß der Prozeß voll im Gange sei, dennoch habe er gedacht, daß das Tempo kontrollierbar bleibe.

... Die Lage um die Jahreswende sei schwierig, jedoch ziemlich stabil gewesen. Danach sei innerhalb von 14 Tagen ein Einbruch erfolgt. Die Diskussion über die Reform des Staatssicherheitsdienstes habe katastrophale Wirkungen ausgelöst. Ungefähr seit Mitte Januar sei die Staatsautorität der DDR zusammengebrochen. Es gebe kein anderes Wort für dies Entwicklung. Die Wirkungen seien katastrophal.

... 1989 habe es 380.000 Übersiedler aus der DDR gegeben. Davon seien 200.000 unter 30 Jahre alt. Es gingen aus der DDR vor allem junge Leute weg, Fachkräfte, Computerexperten, Ingenieure und andere mehr. Wenn man in Moskau glaube, daß diese Menschen die DDR wegen des Geldes verließen, dann sei dies eine falsche Beurteilung. ... Im Januar dieses Jahres seien rd. 55.00 Menschen aus der DDR übergesiedelt. Für den Februar erwarte er voraussichtlich 65.000 bis 70.000 Übersiedler.

... Der Bundeskanzler berichtete über sein Gespräch mit Ministerpräsident Modrow vor 8 Tagen in Davos. Dort habe Modrow ihm berichtet, daß die staatliche Autorität vor dem Zusammenbruch stehe.

... Auf diese Weise sei er innerhalb von wenigen Tagen in einen ungewöhnlichen Zugzwang geraten, weil er dafür Sorge tragen müsse, daß die Menschen in der DDR bleiben, sonst könne die Wirtschaft nicht stabilisiert werden und das Krankenwesen werde zusammenbrechen. In der DDR herrsche heute eine depressive Stimmung. Bisher sei alles ungeheuer friedlich verlaufen. Die Demonstrationen erreichten eine Größe von 500.000 Teilnehmern.

... Er wolle heute folgende Prognose über die weitere Entwicklung stellen. Im März werde die Wahl stattfinden. Er werde alles tun, um einen Kollaps der DDR vor der Wahl zu verhindern, auch einen wirtschaftlichen. Nach der Wahl werde sich das Parlament konstituieren und eine Regierung ernennen. Er sage voraus, daß das neue Parlament sich für die Einheit aussprechen werde, unabhängig davon, wie die Wahl ausgehen werde. In der DDR gebe es heute keine Partei, die die Einheit ablehne. Dies gelte auch für die PDS. Er sei sich sicher, daß Parlament und Regierung die Einheit Deutschlands verlangen werden.

... Zusammenfassend wolle er sagen, daß er es drehen und wenden könne, wie er wolle: Die Frage der Entscheidung stünde kurz bevor. Er wäre froh, wenn er mehr Zeit zur Verfügung hätte. Aber er werde nicht mehr gefragt. Die Entwicklung komme unaufhaltsam auf ihn zu. Was die internationale Einbettung der deutschen Frage und damit die zweite Schiene betreffe, wolle er GS Gorbatschow sagen, daß er gewillt sei, alles in einem vernünftigen Miteinander zu machen. ... GS Gorbatschow stimmte zu.

... Der Bundeskanzler erläuterte, daß über alle diese Fragen der internationalen Einbettung auch mit den anderen Partnern gesprochen werden müsse.

... Ein schwieriges Problem stelle die unterschiedliche Bündniszugehörigkeit beider deutschen Staaten dar. ... Mit Nachdruck stellte der Bundeskanzler fest, daß eine Neutralisierung mit der Bundesregierung nicht durchsetzbar sei.

... Natürlich könne die NATO ihr Gebiet nicht auf das heutige Gebiet der DDR ausdehnen. Erforderlich seien jedoch Regelungen, um ein Einvernehmen zu finden.

... Das Thema der deutschen Einheit sei jetzt auf der Tagesordnung. GS Gorbatschow selbst habe einmal gesagt: "Wer zu spät komme, den bestrafe das Leben." Dies sei genau der Punkt. GS Gorbatschow stimmte zu.

... Die Frage von Generalsekretär Gorbatschow, ob der Bundeskanzler die Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft sofort nach den Wahlen beginnen wolle, beantwortete der Bundeskanzler positiv. Dabei ginge es nicht mehr darum, ob er dies wolle. ... Die Ordnung löse sich auf, das Chaos nehme zu.

... GS Gorbatschow fuhr fort, daß er den Standpunkt des Bundeskanzlers verstanden habe. Er müsse jedoch offen sagen, daß die Bundesrepublik über alle Kanäle der Entwicklung in der DDR beeinflusse. Aber dies sei die Sache der Deutschen; sie hätten das Recht, selbst zu entscheiden.

... GS Gorbatschow fuhr fort, er glaube, daß es zwischen der Sowjetunion, der Bundesrepublik und der DDR keine Meinungsunterschiede über die Einheit gebe und über das Recht der Menschen, die Einheit anzustreben und über die weitere Entwicklung zu entscheiden. Was den Hauptausgangpunkt betreffe, bestehe zwischen ihnen beiden Einvernehmen, daß die Deutschen ihre Wahl selbst treffen müßten. Die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR müßten es selbst wissen, welchen Weg sie gehen wollten. Der Bundeskanzler bekräftigte, daß die Entscheidung für die Einheit eine deutsche Angelegenheit sei.

... GS Gorbatschow bekräftigte, daß dies die Deutschen in der BRD und der DDR auch wissen sollten. Es müsse die Wahl der Deutschen sein, jedoch im Kontext der Realitäten, auf die sich der Bundeskanzler berufe.

... Er glaube, daß die Deutschen in Ost und West bereits bewiesen hätten, daß sie die Lehren aus der Geschichte gezogen haben. Dies würde in Europa und weltweit positiv bewertet werden. Die Bestätigung dafür, daß sie die Lehre aus der Geschichte gezogen hätten, sei der Satz, der heute sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR gelte: Von deutschem Boden dürfe kein Krieg mehr ausgehen.

... Der Bundeskanzler faßte das Gespräch zusammen und fragte den Generalsekretär, ob er mit folgender Schlußfolgerung einverstanden sei: Sie seien sich darüber einig, daß die Entscheidung über die Einigung Deutschlands eine Frage sei, die die Deutschen jetzt selbst entscheiden müßten. Die Deutschen müßten jedoch den internationalen Kontext berücksichtigen. Dazu gehörten auch die Lehren aus der Geschichte, wie sie sich aus dem Krieg und seinen Folgen ergeben hätten. Dazu gehöre auch, daß die Deutschen die berechtigten Sicherheitsinteressen der Nachbarn zu berücksichtigen hätten. Parallel zum Einigungsprozeß in Deutschland müßten in der Frage der Bündnisse befriedigende Lösungen gefunden werden.

... GS Gorbatschow bestätigte, daß alles, was der Bundeskanzler gesagt habe, sehr nahe an seinen Ausführungen liege. ... Zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik gebe es keine Meinungsverschiedenheiten über die Einheit der deutschen Nation. Und in bezug auf die eigene Wahl der staatlichen Form dieser Einheit. Und wie die Einheit vollzogen werden solle. Dies sei das Recht der Deutschen. Gleichzeitig gebe es Einvernehmen darüber: Es gehe dabei nicht nur darum, die objektiven Interessen und Hoffnungen der Deutschen, sondern auch die der Nachbarn voll zu berücksichtigen.

... Der Bundeskanzler erinnerte an die Aussage von Konrad Adenauer vor 35 Jahren, der darauf hingewiesen habe, daß die deutsche Frage nur unter einem europäischen Dach gelöst werden könne. Adenauer habe Recht behalten. Adenauer verdiene, immer wieder neu gelesen zu werden, erwiderte GS Gorbatschow.

... Das Gespräch wurde in erweitertem Kreis mit beiden Außenministern fortgesetzt.

Teltschik

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