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Aus dem politischen Tagebuch von Helmut Kohl 10. Februar

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Quelle: Helmut Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 1996

Eintrag zum 10. Februar 1990

Am Morgen des 10. Februar 1990 startet die Boeing 707 der Flugbereitschaft mit der deutschen Delegation an Bord in Richtung Moskau. Der Bundeskanzler hat sich intensiv auf das Gespräch mit dem mächtigsten Mann der Sowjetunion vorbereitet: "Es mußte mir vor allem darum gehen, Gorbatschow die Lage in der DDR deutlich vor Augen zu führen. Er sollte wissen, daß wir nicht an einer Destabilisierung interessiert waren, jedoch in der DDR der Wille zur Einheit da sei. Im übrigen wußte auch Gorbatschow, daß sich von den Warschauer-Pakt-Staaten die tschechoslowakische, die polnische, die ungarische, die rumänische und selbst die bulgarische Regierung für die deutsche Einheit ausgesprochen hatten. Dennoch saßen wir mit sehr gemischten Gefühlen im Flugzeug. Welche Pläne hatte Gorbatschow? Würde er uns seine Zustimmung zu Deutschlands Einheit um den Preis der Neutralität anbieten und uns damit in größte Schwierigkeiten bringen? Eines schien mir gewiß: Ein so entspanntes Treffen wie im Juni 1989 in Bonn würde es sicherlich nicht werden, denn im Kreml türmten sich die Probleme. Die DDR war dabei aus sowjetischer Sicht nur eines, wenngleich ein besonders großes. Auch in der Tschechoslowakei und in Rumänien waren gewaltige Umwälzungen im Gange. Im sowjetischen Vielvölkerstaat gärte es inzwischen an allen Ecken und Enden, einmal ganz abgesehen von den riesigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Diese zwangen Michail Gorbatschow zum Handeln, doch wer handelt schon gerne unter Zwang."

"Nachdem sich die Türen hinter uns geschlossen hatten", so Kohl, "gratulierte ich Michail Gorbatschow zur Übernahme des Präsidentenamtes. Es hatte ja eine lebhafte Debatte um die Einführung dieses neuen Amtes gegeben, weil nicht jeder diese Machtkonzentration guthieß. Gorbatschow war dann aber doch mit großer Mehrheit gewählt worden. Ich berichtete ihm, daß er in der Bundesrepublik nach wie vor viele Sympathien genieße. Ich selbst teile diese Sympathien. Die Deutschen wollten, daß die Bundesregierung die sowjetischen Reformen unterstütze, wie sie es gerade mit der Lebensmittelaktion täte. Michail Gorbatschow bedankte sich und erklärte, vor einiger Zeit habe es noch den Anschein gehabt, als würde alles in den Wolken schweben. Das sei inzwischen ganz anders.

Ich schilderte dann ausführlich die Lage in der DDR, berichtete über mein Gespräch mit Modrow und sagte dann, daß die Entwicklung in Richtung deutsche Einheit unaufhaltsam auf uns zulaufe: "Ich kann es drehen und wenden, wie ich will - die Entscheidung steht kurz bevor." Ich wäre froh, wenn das Tempo nicht so hoch wäre, aber es würde nun einmal von Entwicklungen diktiert, die ich nicht beeinflussen könne. Wenn wir jetzt nicht handelten, könne ein Chaos entstehen. Ich nahm Michail Gorbatschow nun beim Wort und erinnerte ihn an seinen Satz vom vorvergangenen Oktober, als er in Ost-Berlin gesagt hatte: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."

Ich sprach auch die polnische Westgrenze an, die von uns nicht angetastet würde. Mein Ziel sei es vielmehr, in der Frage der Oder-Neiße-Grenze auch die Zustimmung der großen Mehrheit der deutschen Heimatvertriebenen zu erhalten. Dafür sähe ich eine gute Chance. Gorbatschow könne mich beim Wort nehmen, was meine eigene Position in dieser Angelegenheit betreffe. Er erkundigte sich daraufhin, ob der Moskauer und der Warschauer Vertrag noch einmal bestätigt werden sollten. Ich antwortete, daß es sich hierbei um Verträge mit der Bundesrepublik aus der Zeit der Teilung und nicht mit dem vereinten Deutschland handele. Gorbatschow lachte: Ob ich denn keine Angst hätte, daß es am Ende des Einigungsprozesses die Bundesrepublik nicht mehr geben werde? Und er fügte hinzu: "Dann wird der Bundeskanzler also die Bundesrepublik begraben."

Wir kamen dann auf die Frage der internationalen Einbettung des Einigungsprozesses zu sprechen. Ich sagte Gorbatschow, daß ich gewillt sei, alles in einem vernünftigen Miteinander zu machen. Es sei mein Wunsch, mit ihm das vor uns liegende Jahrzehnt so zu gestalten, daß wir beide beweisen könnten, wir hätten aus der Geschichte gelernt. Mit Nachdruck stellte ich dann fest, daß die Neutralisierung eines vereinten Deutschland nicht durchsetzbar und außerdem eine große historische Dummheit wäre. Die Geschichte habe gezeigt, daß es ein großer Fehler gewesen sei, Deutschland nach 1918 einen Sonderstatus aufzuerlegen.

Gorbatschow stimmte mir zu, daß die Bündniszugehörigkeit des künftigen Deutschland eine zentrale Frage sei. Ich setzte nach: Der Sowjetunion gehe es darum, ihre Sicherheitsinteressen gewahrt zu sehen, Deutschland wolle seine Souveränität. Es liege im deutschen Interesse, eine Regelung zu finden, die in Ost und West vertrauen schaffe. Hierauf reagierte Gorbatschow positiv. Er wollte dann wissen, ob durch den Wahlkampf in der DDR nicht die Spaltung der Gesellschaft vertieft werde. Ich verneinte und fügte hinzu, eine ruhigere Entwicklung wäre allerdings dann möglich gewesen, wenn sich schon Honecker zu Reformschritten entschlossen hätte. Gorbatschow meinte darauf mit dem Unterton der Resignation, er hätte Honecker immer wieder vergeblich dazu aufgefordert. Was aber sonst meine Eindrücke vom Volkskammerwahlkampf seien, wollte er wissen. Die Ausgangsposition der SPD sei besser als die anderer Parteien, antwortete ich, Thüringen und Sachsen seien alte Hochburgen der Sozialdemokraten. Willy Brandt ziehe jetzt wie ein alter Bischof oder Metropolit als Ehrenvorsitzender der SPD mit segnender Hand durch die DDR. Gorbatschow unterbrach mich mit den Worten, daß ich ja wohl auch nicht nur zu Hause säße. Er beklagte dann, daß die Bundesrepublik über alle erdenklichen Kanäle die Entwicklung in der DDR zu beeinflussen versuche. Vertreter der DDR hätten die Bundesrepublik deshalb schon gebeten, sie nicht wie kleine Kinder zu bevormunden.

Michail Gorbatschow wurde dann förmlich und formulierte die entscheidenden Worte: "Ich glaube, daß es zwischen der Sowjetunion, der Bundesrepublik und der DDR keine Meinungsunterschiede über die Einheit gibt und über das Recht der Menschen, die Einheit anzustreben und über die weitere Entwicklung selbst zu entscheiden. Zwischen Ihnen und mir besteht Einvernehmen, daß die Deutschen Ihre Wahl selbst treffen müssen. Die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR müssen selbst wissen, welchen Weg sie gehen wollen." Ich wiederholte, was er gesagt hatte. Die Formel war wohlüberlegt, offenbar hatte er sie schon die ganze Zeit im Kopf gehabt.

Der Generalsekretär fuhr nun fort, die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR müßten aber auch wissen, daß die Einheit im Kontext der Realitäten vollzogen werden müsse. Zu diesen Realitäten gehöre, daß es einen Krieg gegeben habe, unter dem die Menschen in der Sowjetunion mehr hätten leiden müssen als andere. Es gehe jetzt darum, Konfrontation und Spaltung zu überwinden. Er glaube, die Deutschen in Ost und West hätten bereits bewiesen, daß sie aus der Geschichte gelernt hätten."

Er habe das Gespräch, so Kohl, noch einmal auf den entscheidenden Punkt gelenkt, die Frage der Bündniszugehörigkeit. "Gorbatschow sagte dazu, er wisse, daß für mich eine deutsche Neutralität nicht nur unannehmbar sei, sondern daß sie auch das deutsche Volk erniedrige. Bei den heutigen Deutschen dürfe nicht der Eindruck entstehen, als würden jetzt alle Leistungen für den Frieden, die sie in der Vergangenheit erbracht hätten, auf einmal nicht mehr zur Kenntnis genommen. Trotzdem sähe er ein vereintes Deutschland außerhalb der Bündnisse - mit nationalen Streitkräften, die für die nationale Verteidigung ausreichten. Überlegungen, ein Teil Deutschlands solle der NATO, der andere Teil dem Warschauer Pakt angehören, nähme er nicht ernst."

Gorbatschow habe dann argumentiert, daß immer die Frage gestellt werde, was denn die NATO ohne die Bundesrepublik sei. Dies gelte aber auch für den Warschauer Pakt im Blick auf die DDR mit ihren starken Truppen. Er, Kohl, habe widersprochen: "Ich erklärte Gorbatschow, der Blick auf die Landkarte zeige, daß das Gewicht der Bundesrepublik und der DDR für das jeweilige Bündnissystem nicht vergleichbar seien. Ich kam dann auf den Vorschlag von Jim Baker zu sprechen, wonach das vereinte Deutschland ohne das Gebiet der DDR der NATO angehören solle, aber nicht einmal dafür konnte sich der Generalsekretär erwärmen. Wir stimmten indes überein, daß - so wie von Jim Baker vorgeschlagen - die Vertreter der zwei deutschen Staaten und der vier Siegermächte miteinander sprechen sollten, um eine Lösung zu finden. Als ich noch einmal nachdrücklich eine Vier-Mächte-Konferenz über Deutschland ablehnte, rief Michail Gorbatschow aus: "Nichts ohne Sie!" Es wäre sehr gut, fuhr ich fort, wenn eines der Zwei-plus-Vier-Treffen in Deutschland stattfinden könne. Scherzhaft fragte er mich, wo denn dieses Treffen in Deutschland stattfinden solle: "Soll der Verhandlungstisch mit zwei Beinen auf dem Boden der Bundesrepublik und mit zwei Beinen auf dem Boden der DDR stehen?"

Es hatte sich gezeigt, daß in der Frage der Bündniszugehörigkeit ein sowjetisches Entgegenkommen derzeit nicht zu erwarten war. Dennoch konnten wir zufrieden sein: Wir hatten Gorbatschows Zustimmung zum Zwei-plus-Vier-Prozeß und vor allem auch sein grünes Licht für die Regelung der inneren Aspekte für die deutsche Einheit. Ich dachte daran zurück, wie barsch er noch in seinem Brief vom Dezember reagiert hatte. Zwischen diesem Schreiben und dem heutigen Brief lagen Welten. Das stimmte mich zuversichtlich - auch im Hinblick auf die Bündnisfrage. Zum Schluß erinnerte ich an Konrad-Adenauer, der schon vor fünfunddreißig Jahren darauf hingewiesen habe, daß die deutsche Frage nur unter einem europäischen Dach gelöst werden könne. Als ich feststellte, daß Adenauer recht behalten habe, reagierte Gorbatschow mit der verblüffenden Feststellung, daß es Adenauer immer wieder neu verdiene, gelesen zu werden.

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