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Aus dem politischen Tagebuch von Horst Teltschik 10. Februar

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Quelle: Horst Teltschik, 329 Tage - Innenansichten der Einigung, Berlin 1991

Samstag, 10. Februar 1990

Mein gestriges Hintergrundgespräch zur Moskau-Reise beherrscht heute die Schlagzeilen. Manche spekulieren, ob der Bundeskanzler mich vorgeschickt habe, um Wirkung im Kreml zu erzielen. Doch nichts davon ist wahr, Helmut Kohl kritisiert mich ebenso wie viele andere auch. Nur unter vier Augen geben mir Hans-Dietrich Genscher und einige andere recht.

Morgens um neun Uhr fliegen wir nach Moskau ab. Kohl und Genscher stimmen die Verhandlungslinie ab. Sie sind sich völlig einig, daß beide in ihren Gesprächen eindringlich die verheerende Lage in der DDR erläutern müssen.

Daß Schewardnadse überraschend mittags um zwei Uhr auf dem Flughafen Wnukowo II zur Begrüßung erscheint, bewerten wir als positives Zeichen. Er fährt im Wagen des Kanzlers mit zum Gästehaus auf dem Leninhügel. Am Flughafen steckt mir unser Botschafter, Klaus Blech, einen Brief Bakers für den Bundeskanzler zu. Es ist die versprochene Unterrichtung über seine Gespräche mit Gorbatschow und Schewardnadse.

Baker berichtet über deutliche Fortschritte in allen Bereichen der Rüstungskontrolle, der Regionalfragen, der bilateralen Beziehungen, der Menschenrechte und transnationaler Fragen.

Die deutsche Frage sei sowohl von Gorbatschow als auch von Schewardnadse angesprochen worden. Es werde den Kanzler nicht überraschen, daß sie Sorgen hätten. Sie hielten jedoch die Einigung für unausweichlich. Ihre Sorge richte sich darauf, daß die Einheit zu Instabilität und Unsicherheit in Europa führen könnte und der deutsche Wille, die gegenwärtigen Grenzen auch künftig anzuerkennen, nicht entschieden genug sei.

Baker berichtet, er habe erläutert, daß Kohl diese Sorgen verstehe, aber nur die Deutschen selbst könnten über ihr Schicksal entscheiden. Die Einheit sei unausweichlich und der Einigungsprozeß werde nach den Wahlen sehr rasch voranschreiten. Er habe mit seinen sowjetischen Gesprächspartnern darin übereingestimmt, die inneren und äußern Aspekte des Einigungsprozesses zu trennen. Es müsse ein Rahmen gefunden werden, in dem man über letztere verhandeln könne. Viermächteverhandlungen seien jedoch kein geeignetes Instrument, weil die Deutschen ihnen niemals zustimmen würden. Er habe ein Zwei-plus-vier-Arrangement als den einzig realistischen Weg bezeichnet, um voranzukommen. In diesem Rahmen sollten nach der DDR-Wahl Verhandlungen beginnen, sofern die Deutschen damit einverstanden seien. Gorbatschow habe diesen Vorschlag als denkbar bezeichnet, sich aber nicht festgelegt.

Auch die Frage der NATO-Mitgliedschaft sei gesprochen worden. Gorbatschow habe sich bereit erklärt, über alle Lösungsmöglichkeiten nachzudenken, aber hinzugefügt, daß für ihn eine Ausdehnung der NATO nicht akzeptabel wäre. Kohl und Genscher sind über den Inhalt dieser hilfreichen und präzisen Unterrichtung sichtlich beunruhigt.

Um kurz vor vier Uhr fahren wir zum Kreml, wo Gorbatschow den Kanzler freundlich, aber spürbar kühler als zuerst in Bonn begrüßt. Unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen setzen sich beide an einen langgestreckten Tisch, dazu nur Anatolij Tschernajew, der persönliche Berater des Präsidenten, und ich sowie die beiden Dolmetscher. Als ich neben meinen Notizblock die deutsche Ausgabe von Gorbatschows Buch Perestroika lege, schiebt es der Bundeskanzler sofort mit der Bitte dem Präsidenten zu, er möge mir ein Autogramm hineinschreiben. Gorbatschow wirkt überrascht und legt es erst einmal beiseite.

Nachdem die Fotografen abgezogen sind, eröffnet Gorbatschow das Gespräch mit der Bemerkung, daß man sich in einer Zeit treffe, die es erforderlich mache, immer wieder zu Gesprächen zusammenzukommen, Briefe zu wechseln und miteinander zu telefonieren. Es sei deshalb richtig gewesen, eine enge persönliche Zusammenarbeit zu vereinbaren.

Kohl knüpft in seiner Erwiderung an die Begegnung im Juni 1989 in Bonn an. In ihrem Geiste und auf der Grundlage der damaligen "Gemeinsamen Erklärung" müßten die Probleme gelöst werden. Die vielen Veränderungen seien nicht zuletzt durch die Aktivitäten des Präsidenten eingetreten. In der Bundesrepublik herrsche große Befriedigung über die Erfolge Gorbatschows, nicht zuletzt auf dem ZK-Plenum der letzten Woche. Er spricht über die großen Sympathien, die Gorbatschow in der Bundesrepublik genieße. Das zeige sich auch in der öffentlichen Unterstützung für die Nahrungsmittelaktion. Gorbatschow dankt für dieses Zeichen der Solidarität, das er als politische Geste bewerte.

Ausführlich erläutert der Kanzler die Entwicklung in der DDR seit der Öffnung der Mauer, wobei ihm Gorbatschow mit ernstem Gesicht aufmerksam zuhört. Sein rechtes Auge ist leicht entzündet, was auf Überanstrengung hindeutet. Dennoch wirk er locker und entspannt, wirft gelegentlich scherzhafte Bemerkungen ein und macht sich immer wieder Notizen.

Helmut Kohl betont, die inneren Aspekte der deutschen Einigung und deren internationale Einbettung müßten zusammen behandelt werden, und stellte fest, die Einheit stehe kurz bevor. Er hätte zwar lieber mehr Zeit zur Verfügung, die Entwicklung sei jedoch unaufhaltsam. Die internationalen Aspekte wolle er in einem vernünftigen Miteinander regeln, sagt er zu Gorbatschow und fügt hinzu, das letzte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts sollten sie gemeinsam gestalten. Deshalb müßten dem heutigen Gespräch weitere folgen.

Im einzelnen geht der Bundeskanzler auch auf die äußeren Aspekte ein. Er stellt fest, die staatliche Einigung Deutschlands umfasse die Bundesrepublik, die DDR und Berlin. In der Frage der Oder-Neiße-Grenze gebe es keinen Grund zum Mißtrauen.

Schwieriger gestalte sich das Problem der Bündniszugehörigkeit. Eine Neutralisierung Deutschlands sei für ihn unannehmbar und wäre zudem eine historische Dummheit, wie der Sonderstatus für Deutschland nach 1918 gezeigt habe. Er sei jedoch bereit, die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion in Rechnung zu stellen und könne sich deshalb vorstellen, daß die NATO ihr Gebiet nicht auf die heutige DDR ausdehne.

Gorbatschow beginnt mit Fragen. Was für zeitliche Vorstellungen er habe? Das sei noch nicht zu beantworten, erwidert der Kanzler. Ende Dezember hätte er noch von Jahren gesprochen, inzwischen stimmten die Menschen mit ihren Füßen ab. Wenn er nicht darauf reagiere, könnte sehr bald ein Chaos eintreten. Weitere Fragen folgen: zur Oder-Neiße-Grenze, dem künftigen militärischen Status Deutschlands und nach der Einbettung der deutschen Einheit in den europäischen Prozeß. Zwischendurch greift Gorbatschow zu meinem Buch, schreibt in kyrillischen Buchstaben hinein: "Für Horst Teltschik, Moskau. 10. Febr. 1990" und schiebt das Buch zu mir herüber.

Nach diesem einleitenden Frage- und Antwort-Spiel beugt sich Gorbatschow über den Tisch und spricht die entscheidenden Sätze: Es gebe zwischen der Sowjetunion, der Bundesrepublik und der DDR keine Meinungsverschiedenheiten über die Einheit und über das Recht der Menschen, sie anzustreben. Sie müßten selbst wissen, welchen Weg sie gehen wollen. Die Deutschen in Ost und West hätten bereits bewiesen, daß sie die Lehren aus der Geschichte gezogen hätten und von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen werde.

Von deutschem Boden dürfe nur Frieden ausgehen, ergänzt Kohl, der ansonsten auf die historischen Sätze ohne erkennbare Emotion reagiert. Mir dagegen fliegt die Hand, um jedes Wort präzise aufzuschreiben, ja nichts zu überhören oder auszulassen, was wesentlich wäre oder später zu Mißverständnissen führen könnte. Innerlich jubelnd: Das ist der Durchbruch! Gorbatschow stimmt der Einigung Deutschlands zu. Ein Triumph für Helmut Kohl, der als Kanzler der deutschen Einheit in die Geschichte eingehen wird.

Gorbatschow fügt hinzu, die Grenzen seien für ihn eine fundamentale Frage, das müsse der Kanzler berücksichtigen, der bei seiner bekannten Position bleibt, daß die Grenzfrage am Tag X entschieden werde.

Das Gespräch wird nun immer entspannter. Gorbatschow erinnert Kohl an dessen Einladung in die Pfalz. Dort wolle er mit ihm die gute Wurst essen, die er ihm geschickt habe. Jetzt bin ich absolut sicher, daß der Durchbruch geschafft ist.

Gorbatschow berichtet über seine Sorgen mit der Perestroika, zu denen nun auch noch das deutsche Problem hinzugekommen sei. Das Gespräch konzentriert sich jetzt auf die Probleme der Wirtschaftsbeziehungen der Sowjetunion mit der DDR für den Fall der Einheit. Der Kanzler sagt rasche Gespräche und Lösungen zu und erklärt sich bereit, in die Vereinbarungen der DDR mit der Sowjetunion einzutreten, so weit das möglich sei.

Der nächste Punkt ist der militärische Status des neuen Deutschland. Er wisse, daß für Kohl die Neutralität ebenso unannehmbar sei wie für die meisten anderen auch. Sie schüfe einen Rahmen, der das deutsche Volk erniedrige. Er verstehe unsere Gefühle. Es könnte so aussehen, als würden dadurch die Leistungen für den Frieden, die in der Vergangenheit von den Deutschen erbracht worden seien, gestrichen werden. Er wisse nicht, wie der Status aussehen solle, darüber müsse weiter nachgedacht und die verschiedenen Möglichkeiten durchgespielt werden.

Wieder eine Sensation: Gorbatschow legt sich nicht auf eine endgültige Lösung fest; keine Einforderungen eines Preises und schon gar keine Drohung. Welch ein Treffen!

Gorbatschow spricht Bakers Vorschlag von Zwei-plus-Vier-Gesprächen an, die Kohl in seiner Antwort als eine gute Anregung bezeichnet, während er gleichzeitig eine Viermächtekonferenz über Deutschland ablehnt. "Nichts ohne den Kanzler", ruft Gorbatschow.

Als dieser das zweieinhalbstündige Gespräch noch einmal zusammenfaßt, stimmt Gorbatschow seinem Resümee zu und wiederholt noch einmal fast wörtlich seine Worte zur deutschen Einheit, die in die Geschichte eingehen werden. Wir haben sie zweimal gehört. Es kann kein Mißverständnis mehr geben.

Parallel haben sich die beiden Außenminister getroffen. Jetzt wird das Gespräch im Viererkreis fortgesetzt. Gorbatschow faßt zum Auftakt noch einmal sein Gespräch mit dem Kanzler zusammen. Zum drittenmal wiederholt er die entscheidenden Aussagen. Er fügt diesmal noch hinzu, daß, unabhängig davon, wie der Einigungsprozeß verlaufe, die bilaterale Zusammenarbeit ausgebaut werden solle. Schewardnadse ergänzt, er habe mit Genscher über die Perspektiven eines KSZE-Gipfels, über Abrüstungsfragen und über die Umwandlung der Militärpakte gesprochen.

Das gemeinsame Abendessen, an dem auch Falin und Sagladin teilnehmen, verläuft in beinahe ausgelassener Stimmung. Der Bann ist gebrochen. Der Kanzler stichelt gegen Genscher; Gorbatschow nimmt den Ball auf und löst großes Gelächter aus, als er zu Schewardnadse sagt, daß dieser "ein schönes Leben" habe. Das ist auch ein Standardspruch des Kanzlers gegenüber seinen Mitarbeitern.

Falin sagt zu Sagladin, da die deutsche Frage nun gelöst sei, könnten sie beide jetzt in Pension gehen.

Anschließend geht es zurück zum Gästehaus, wo Helmut Kohl Uwe Kaestner und mich mit in seine Suite nimmt, um seine Eingangserklärung für die Pressekonferenz vorzubereiten, die in einer Stunde beginnen wird. Der Kanzler reißt die Fenster auf, das Zimmer ist wie immer völlig überheizt. Er beginnt laut zu diktieren. Ich glaube nicht richtig zu hören - es klingt wie ein geschäftsmäßiger Bericht über ein Routinegespräch. Wie kann man einen solchen Riesenerfolg so verkaufen wollen? Ich unterbreche den Kanzler, protestiere und fange selbst an, laut zu formulieren. Kohl ist einverstanden. Gemeinsam bringen wir den Text zu Ende und reißen ihn meiner Sekretärin aus der Maschine, um noch rechtzeitig zur internationalen Pressekonferenz zu kommen, wo Helmut Kohl mit der Botschaft an alle Deutsche eröffnet, daß Gorbatschow der Einigung Deutschlands zugestimmt habe: dies sei ein guter Tag für Deutschland und für ihn persönlich.

Die Reaktion der Journalisten ist überraschend zurückhaltend. Ich sage zu Walter Neurer, der neben mir sitzt: Eigentlich hätten jetzt alle aufstehen und Beifall klatschen müssen. In anderen Ländern wäre das geschehen. Statt dessen stellen die Journalisten viele detaillierte Fragen, werden der Bedeutung des Ereignisses aber keineswegs gerecht.

Nach der Pressekonferenz kommt eine Reihe von Journalisten auf mich zu. Ich sage ihnen offen, daß ich über ihre Reaktion enttäuscht sei. Ob sie nicht begriffen hätten, welche Botschaft der Kanzler vorgetragen habe. Ich muß ihnen allerdings recht geben, daß Kohl selbst durch seinen Vortrag Geschäftsmäßigkeit vermittelt habe und nicht den Eindruck erweckte, daß da etwas Großes geschehen sei. Ich stehe noch im Pulk der Journalisten, als der Kanzler mich ruft, mitzukommen. Es drängt ihn fort. Ich bedaure das sehr, weil ich gerne noch Nacharbeit geleistet hätte. Aber Kohl will auf dem Roten Platz spazierengehen. Ich erzähle ihm von den Reaktionen der Journalisten. Als einige von ihnen uns auf dem Roten Platz entdecken, ist er endlich bereit, etwas mehr aus sich herauszugehen und über das Gespräch zu berichten.

Genscher ist wie immer mit seinen Mitarbeitern und drei Journalisten direkt in sein Gästehaus gefahren. Er wird die Journalisten besser unterrichten. Wir setzen uns mit dem Kanzler noch zu einem Bier zusammen, er läßt sich etwas zu Essen bringen und genießt das Zusammensein im engen Mitarbeiterkreis mit Eduard Ackermann, Walter Neuer, Uwe Kaestner, Juliane Weber und mir. Wir stoßen auf sein Wohl und auf seinen Erfolg an. (Seite 137-143)

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