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Artikel aus DER ZEIT von Theo Sommer vom 7. Dezember 1990

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Die Deutschlandwahl hat die politische Landschaft verändert: Anmerkungen zu Siegern und Besiegten

von Theo Sommer

Eine klassische Bundestagswahl war das nicht am . Dezember, eher schon eine Volksabstimmung. Es ging um eine einzige Frage: die deutsche Einheit zur Debatte stand Abgeschlossenes, nicht so sehr Künftiges; gewählt wurden Personen, keineswegs Programme.

Dabei fanden die Architekten der Einheit die Zustimmung einer eindrucksvollen Mehrheit in Ost und West. Sie bestätigte den Vereinigungskurs, den Bundeskanzler Kohl und sein Außenminister Genscher in den zurückliegenden zwölf Monaten gesteuert hatten, und stellte den beiden eine Vollmacht für die nächsten vier Jahre aus, ohne sie lang nach Einzelheiten zu fragen. Umgekehrt mussten all jene Federn lassen, die den Einheitsprozess attackiert, kritisiert oder krampfhaft ignoriert hatten: die nörgelnden Neinsager bei den Grünen, die Krämerseelen im Kassandra – Gewand bei der SPD, die wehleidigen Wendehälse in der PDS. Beherztheit im deutschen Jahr 1990 wurde belohnt, Zagen und Zaudern bestraft. Das Wahlergebnis hat die politische Landschaft der größer gewordenen Bundesrepublik von Grund auf verändert:

  • Die Sozialdemokratie sieht sich erneut in das Ghetto der 33 Prozent verwiesen. Sie muss abermals dort anfangen, wo Erich Ollenhauer aufgehört hat. Die Ära Lafontaine ist zu Ende, noch ehe sie recht begonnen hatte.

  • Die West-Grünen sind an der Fünfprozenthürde gescheitert. Ihr pädagogischer Hochmut, ihre Blickverengung, ihr ewiges Flügelschlagen samt der zum Selbstzweck gewordenen Streiterei sind sogar der eigenen Klientel zu wüst geworden. Wenn's Ernst wird, will der Wähler keine Kindereien und Kaspereien.

  • Die Republikaner, deren Einzug in den Bundestag nach den Europa-Wahlen vor anderthalb Jahren viele schon für unabwendbar hielten, sind um einiges zu kurz gesprungen; auch in Berlin. Der Alptraum verfliegt, wie in den sechziger Jahren der NPD-Spuk verflogen ist.

  • Die PDS verdankt ihren Einzug in den Bundestag allein einem Verfassungsgerichtsurteil, das für dieses Mal getrennte Wahlgebiete Ost und West vorschrieb. Im Jahre 1994 wird die SED – Nachfolgerin an der Fünfprozenthürde hängen bleiben. Aus ihrem Abschneiden in der Alt-Bundesrepublik – karge 0,3 Prozent, kaum mehr als die verblichene DKP – kann sie sich keine Chancen ausrechnen, und die 9,9 Prozent im Osten werden weiter schrumpfen. Was ergibt sich daraus? Drei allgemeine Folgerungen drängen sich auf.

Erstens: Der Trend zum Fünfparteiensystem ist gestoppt, die Gefahr gebannt, dass Union, Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und Republikaner sich selbfünft im Bundestag finden. Vielmehr zeichnet sich eine neue Konzentrationsbewegung ab, die uns zum Dreiparteiensystem der sechziger und siebziger Jahre zurückführen könnte.

Zweitens: Es gibt im ersten gesamtdeutschen Bundestag keine Alternative zu einer unionsgeführten Regierung. Rechnerisch reicht es selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass die FDP die Seiten wechseln wollte, nicht einmal für eine Ampelkoalition Rot-Gelb-Grün/Ost; sie brächte nur 45,7 Prozent oder 326 von 662 Sitzen zusammen.

An eine Koalition von SPD und FDP wäre erst recht nicht zu denken; sie käme auf ganze 44,5 Prozent oder 318 Sitze. Die sozialliberale Option ist so tot wie das rot-grüne Projekt. Die Beweglichkeit, die im letzten Parlament der alten Bundesrepublik wenigstens hypothetisch bestand, wo schon nicht politisch, ist nun auch rechnerisch dahin. Die Verhältnisse im zwölften Bundestag sind zementiert (was übrigens die Hebelkraft der Liberalen im bevorstehenden Koalitionsgezänk begrenzt: Sie können nirgendwo anders hin).

Drittens: Der Wähler ist ein vernünftiges Wesen. Er erwartet von einer Regierungspartei, auch einer potentiellen, dass sie handelt, nicht hampelt; dass sie sich auf neue Herausforderungen einstellt, nicht sich an alte Texte klammert; dass sie Entschlossenheit und Zuversicht demonstriert, anstatt Kleinmut und Angst zu verbreiten. Diese Erwartungen haben die Sozialdemokraten wie die Grünen enttäuscht. Sie wirkten zerstritten und zerklüftet, ratlos und verbohrt, ohne Sinn für realistische Prioritäten. Viele Themen haben sie richtig gesehen, das richtige Thema aber nicht. Über das, was die Menschen bewegte, setzten sie sich hinweg.

Wie geht es nun weiter in der deutschen Politik? Wie werden die Geschlagenen mit ihrer Niederlage fertig, die Sieger mit ihrem Triumph?

Die Grünen werden es am schwersten haben. Seitdem sie Ende der Siebziger Jahre in die deutsche Politik Einzug hielten, war immer zweierlei denkbar: dass sie die FDP vom Platz der dritten Partei verdrängen – oder dass sie, löslicher Dünger auf den Feldern der klassischen Parteien, das Thema Ökologie in die Programmatik der alten politischen Gruppierungen hineinzwingen und danach an Entkräftung eingehen. Heute sieht es ganz so aus, als ob ihre Uhr abgelaufen sei. Ihre Streitsucht hinderte sie daran, dieses bittere Schicksal abzuwenden: Hätten sie sich vor den Wahlen mit den Ost-Grünen zusammengeschlossen, wären sie gemeinsam mit 5,1 Prozent über die Hürde gelangt. Eine kleine Chance besteht vielleicht, dass das Fähnlein der acht aufrechten Ost-Grünen zum Kern einer neuen Partei der

Die Probleme der Sozialdemokraten sind einfacher, Ihnen droht nicht der Untergang, sie müssen sich bloß gegen den Niedergang stemmen. Das ist schmerzhaft, aber nicht aussichtslos. Der erste Schritt zur Genesung ist mit dem Rückzug Oskar Lafontaines nach Saarbrücken getan. Er hat es fertiggebracht, seine Partei binnen achtzehn Monaten vom Gleichstand mit der Union in das Brackwasser der 33 Prozent zu bugsieren: ein Buchhalter, der sich als Visionär verkaufte; ein Mann, der mit der Macht stets nur kokettierte; ein Politiker, der nicht im Geschirr gehen kann, geschweige denn im Joch. Er ist nicht das Opfer der Einheit geworden, sondern das Opfer seiner eigenen Lernunfähigkeit. Hans-Jochen Vogel, der ihn lange hat gewähren lassen, gibt im Frühjahr den Parteivorsitz ab; das ist der zweite Schritt. Doch der Weg ist lang, und neue Führungsfiguren sind noch nicht auszumachen. Walter Momper ist in Berlin verheerend eingebrochen. Björn Engholm also? Heidi Wieczorek-Zeul? Oder, vorübergehend als Nothelfer, Johannes Rau – und dann Manfred Stolpe? Die Partei braucht jedenfalls eine Runderneuerung, eine neue Mitte und neue Wirkung auf die Wähler. Kann sie all das in den nächsten drei Jahren bewerkstelligen? Die Liberalen haben Grund zur Freude; elf Prozent sind ein Bombenergebnis. Doch was wäre eigentlich die FDP ohne Hans-Dietrich Genscher? Er hat den Kurs der Bonner Außenpolitik bestimmt, für Kontinuität gesorgt, schon früh die neuen Horizonte nach dem Ende des Kalten Krieges erkannt; bei ihm liegt auch die Außenpolitik der größeren Bundesrepublik in guten Händen. Wo sonst aber wiese die liberale Programmatik über reine Klientelvertretung hinaus? Wo stecken die eindrucksvollen liberalen Gestalten? Die FDP hat das vorige Mal vier Minister ins Kabinett entsandt: einen Großmeister (Auswärtiges Amt), einen ehrgeizigen, gescheiten Lehrling (Bildung) und zwei Totalausfälle (Justiz und Wirtschaft). Elf Prozent verpflichten zu Besserem.

Die Union, sagt der Bundeskanzler, hat das beste Wahlresultat erzielt, das je einer Partei in "Deutschland" gelang. Das ist richtig, aber nur zu Hälfte. Denn richtig ist auch: Gemessen an den Maßstäben der alten Bundesrepublik, ist dieses Ergebnis eher karg ausgefallen. Ein Plus von ganzen 0,5 Prozentpunkten hat die Einheit der Union eingetragen, nicht mehr. Im Westen verbucht sie sogar ein Minus von 0,2 Punkten – und ohne den bei Kohl zum ersten Mal wirksam gewordenen Kanzlerbonus wäre die CDU/CSU wohl erklecklich unter dem ja auch schon ziemlich schlechten Ergebnis von 1987 geblieben. Ein sanftes Ruhekissen hat der Sieg vom 2. Dezember der Union also nicht geliefert. Es ist keineswegs gesagt, dass sie ihre seit Jahren in den Ländern zu beobachtende Schrumpfung bei den drei Landtagswahlen im nächsten Jahr wird aufhalten können.

Die erste gesamtdeutsche Wahl hat einen Schlussstrich unter den Einigungsprozess gezogen. Jetzt kommt es darauf an, die Einheit inhaltlich zu gestalten. Der Kanzler und der Außenminister haben einen Vertrauensvorschuss erhalten; den müssen sie nun abarbeiten. Da geht es nicht mehr um einsame Beschlüsse, sondern um mühsame Prozesse. Und anders als in diesem Jahr werden schwere auswärtige Herausforderungen – Hungersnöte in Osteuropa? Krieg am Golf? Weltwirtschaftskrise? – den Deutschen nicht gestatten, dass sie sich weltvergessen auf die eigenen Angelegenheiten einkrümmen. Der Wahltag war für die Regierenden ein Glückssonntag. Der Alltag aber wird schwierig. Das Volk hat gesprochen, nun müssen die Politiker handeln.

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