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Fernschreiben des Präsidenten Bush an Bundeskanzler Kohl 4. Juni 1990

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Vom 30. Mai bis 3. Juni 1990 besuchte der sowjetische Präsident Gorbatschow die USA. Am 2. Juni traf er mit Präsident George Bush in Camp David zusammen. Bei dem Gespräch spielte die Frage der Bündniszugehörigkeit eines wiedervereinigten Deutschland eine zentrale Rolle. Da dies abzusehen war, hatte der amerikanische Präsident am 30. Mai mit Bundeskanzler Kohl telefoniert, und man hatte sich in dieser Frage verständigt. Beide waren sich einig, dass Präsident Gorbatschow, der vorher den Verbleib eines wiedervereinigten Deutschland in der NATO mehrfach abgelehnt hatte, jetzt begreifen müsse, dass unabhängig von der Entwicklung der Dinge in Deutschland die USA und die Bundesrepublik eng zusammenstünden – auch in der Forderung einer uneingeschränkten NATO-Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschland. Kohl bat Bush, dies dem sowjetischen Präsidenten ebenso freundlich wie deutlich zu sagen. Kohl deutete auch an, dass Gorbatschow wegen der äußerst kritischen wirtschaftlichen Lage der Sowjetunion, bei der ihm nur der Westen helfen könne, in der NATO-Frage womöglich zum Nachgeben bereit sei.

Einen Tag nach Abschluss des Gipfeltreffens schrieb Präsident Bush an Bundeskanzler Kohl:

Lieber Helmut,

lassen Sie mich im Anschluss an unser Telefongespräch noch einige zusätzliche Bemerkungen zum Besuch Gorbatschows machen. Wie sie den Presseberichten entnommen haben, wurde die Atmosphäre des Gipfeltreffens – zunächst die Konzentration auf heikle Fragen, dann die Unterzeichnung verschiedener Abkommen einschließlich des Handelsabkommens, des die Presse für gescheitert gehalten hatte, und schließlich die Begegnung in Camp David und die Verabschiedung – zunehmend freundlicher.

Was die deutsche Vereinigung angeht, so lassen Sie mich lediglich meinen nachhaltigen Eindruck bestätigen, dass sich Gorbatschow mit dieser Frage immer noch abmüht und versucht, Verständnis für die sowjetische Position in Europa nach der Vereinigung zu erlangen. Es war ein Schritt nach vorne, dass er keine Einwände gegen meine Erklärung auf unserer Pressekonferenz am Sonntag erhob, als ich sagte, dass er und ich uns zwar nicht darüber einig seien, dass das vereinte Deutschland volles Mitglied der NATO sein solle, wir jedoch darin übereinstimmten, dass die Frage der Bündniszugehörigkeit in Übereinstimmung mit der Schlussakte von Helsinki von den Deutschen entschieden werden müsse. (In dem Maße, wie wir den sowjetischen Sicherheitsinteressen außerhalb der 2+4-Gespräche Rechnung tragen können – in unseren bilateralen Beziehungen, in Wien und auf dem NATO-Gipfeltreffen –, werden unsere Chancen steigen, dass wir Gorbatschow dazu bewegen können, ein vereinigtes Deutschland als volles Mitglied der NATO zu akzeptieren. Er muss wissen, dass die volle NATO-Mitgliedschaft nicht zur Disposition steht, wir ihm aber in anderer Weise helfen können.) Der NATO-Gipfel wird von entscheidender Bedeutung sein: Wir müssen den Sowjets und den Osteuropäern und der Öffentlichkeit in unseren eigenen Ländern in diesem Zusammenhang zeigen, dass das Bündnis in einem neuen Europa ein verändertes Gesicht haben wird. Ich glaube, dass unsere Auffassungen dazu sehr dicht beieinander liegen, und wir müssen im Vorfeld des 5. Juli zusammenarbeiten.

Im Bereich der Rüstungskontrolle haben wir gute Fortschritte erzielt; daraus ergibt sich der zusätzliche Vorteil, dass wir der Sowjetunion zeigen können, dass militärische Spannungen im neuen Europa beträchtlich verringert werden können. Die gemeinsame amerikanisch-sowjetische Erklärung zu den VKSE-Verhandlungen war besonders wichtig, da sie unser Einvernehmen bekräftigt, dass ein KSE-Vertrag die unerlässliche Grundlage für die künftige europäische Sicherheit darstellt, und uns dazu verpflichtet, das Tempo der Wiener Verhandlungen zu beschleunigen und rasch eine Einigung über alle noch ungelösten Fragen zu erzielen. Das bilaterale Abkommen über chemische Waffen bedeutete auch einen wichtigen Durchbruch, und unsere gemeinsame Erklärung zu den Reduzierungen strategischer Waffen dürfte den START-Verhandlungen neue Impulse verleihen.

Es wurden viele weitere Abkommen unterzeichnet, darunter ein Handelsabkommen, und gemeinsame Erklärungen abgegeben; einige sind für die bilateralen Beziehungen von beträchtlicher Bedeutung. Wie ich bereits feststellte, trug die Ankündigung dieser Abkommen, insbesondere die Unterzeichnungszeremonie am 1. Juni, auch dazu bei, dass sich die Atmosphäre des Gipfeltreffens von den ernsten Diskussionen, die wir zu Beginn führten, zu einem optimistischeren Klima wandelte, das, wie ich hoffe, Gorbatschow zu Hause von Nutzen sein wird. Das Handelsabkommen war für ihn von großer Bedeutung.

Wir führten einige offene Gespräche über Litauen und die anderen baltischen Staaten, aber die Angelegenheit wurde nicht zum Schwerpunktthema für die Öffentlichkeit. Ich legte meine Positionen dar, damit Gorbatschow keinerlei Zweifel daran hat, für wie wichtig ich dieses Thema erachte. Ein Durchbruch wurde nicht erzielt, aber ich hoffe nach wie vor, dass zwischen Moskau und Wilna bald ein Dialog in Gang kommt.

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