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Regierungserklärung von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl

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Dr. Kohl, Bundeskanzler (mit Beifall von der CDU/CSU und FDP begrüßt):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der heutigen Plenarsitzung des gesamtdeutschen Bundestages beginnt die parlamentarische Arbeit im vereinten Deutschland. Vor uns liegen innen- wie außenpolitisch große Aufgaben, die in der kommenden Zeit unsere ganze Kraft beanspruchen werden.

Ich darf auch meinerseits und namens der Bundesregierung die neuen Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich begrüßen, die jetzt im Deutschen Bundestag die Bevölkerung von Brandenburg, von Mecklenburg-Vorpommern, von Sachsen, von Sachsen-Anhalt, von Thüringen und dem Ostteil Berlins repräsentieren.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei einzelnen Abgeordneten der GRÜNEN)

In den vergangenen Wochen und Monaten haben sie, ebenso wie alle anderen Mitglieder der Volkskammer und wie die Regierung der bisherigen DDR unter Führung von Ministerpräsidenten Lothar de Maiziére, unter schwierigsten Bedingungen ein großes Arbeitspensum bewältigt. Dafür gebührt ihnen allen unser Dank und unsere Anerkennung.

(Beifall bei der CDU/CSU, und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Am 2. Dezember wählen alle Deutschen gemeinsam ihr neues Parlament. Ich will mich daher heute bei dieser Erklärung auf jene Fragen konzentrieren, die gerade vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung unseres Landes vordringlich sind.

Mit der heutigen Regierungserklärung will ich darüber hinaus die Grundsätze erläutern, von denen sich die Bundesregierung leiten lässt. Die Politik der Bundesregierung wird geprägt sein vom Bewusstsein für die deutsche Geschichte in allen ihren Teilen und der daraus folgenden Verantwortung. Nur wer seine Herkunft kennt und sich zu ihr bekennt, hat einen Kompass für die Zukunft.

Wir vergessen nicht, wem wir die Einheit unseres Vaterlandes zu verdanken haben. Viele haben dazu beigetragen, zu allererst die Menschen in der bisherigen DDR. Gerade hier in Berlin möchte ich die Vereinigten Staaten von Amerika nennen, allen voran Präsident George Bush.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie der Abg. Frau Garbe (GRÜNE))

Ich nenne auch unsere französischen Freunde, und ich nenne unsere Freunde in Großbritannien.

Wir danken allen unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft und im Atlantischen Bündnis für ihre Solidarität.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei den Abgeordneten der GRÜNEN)

Dank schulden wir vor allem auch den Bürgerrechts- und Reformbewegungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

(Beifall im ganzen Hause)

Vor gut einem Jahr lies Ungarn die Flüchtlinge ausreisen. Damals wurde der 1. Stein aus der Mauer geschlagen. Die Freiheitsbewegungen in Polen und in der Tschechoslowakei haben den Menschen in der DDR Mut gemacht, für ihr Recht auf Selbstbestimmung einzutreten.

Präsident Michael Gorbatschow hat einen unschätzbaren Beitrag zur Überwindung der Teilung unseres Vaterlandes geleistet.

(Beifall im ganzen Hause)

Er hat das Recht der Völker auf den eigenen Weg anerkannt. Ohne das neue Denken in der sowjetischen Außenpolitik hätten wir den Tag der Deutschen Einheit nicht so bald erlebt.

Das Grundgesetz, unsere Verfassung, gilt jetzt "für das gesamte Deutsche Volk". So heißt es nun in der Präambel. Damit stellen sich alle Deutschen bewusst auch in die Tradition der Väter und Mütter unserer Verfassung, die sich damals von dem doppelten Schwur leiten ließen: Nie wieder Krieg! Nie wieder Diktatur! – Stellvertretend nenne ich hier Konrad Adenauer, Theodor Heuss – und hier in Berlin vor allem auch den unvergessenen Freund Ernst Reuter.

(Beifall im ganzen Hause)

In das Selbstverständnis des vereinten Deutschland geht auch die Erinnerung an den 17. Juni 1953 ein. Wir denken an all jene Deutschen, die in der ehemaligen DDR im Kampf für die Freiheit Gesundheit und Leben aufs Spiel setzten und auch oft verloren. Ihr Vermächtnis erfüllte sich in der friedlichen Revolution, mit der das SED-Regime überwunden wurde.

Meine Damen und Herren, wenn wir uns zur deutschen Geschichte in allen ihren Teilen bekennen, dann wollen wir auch nicht ihre düsteren Kapitel ausblenden. Niemals darf vergessen, verdrängt oder verharmlost werden, welche Verbrechen in diesem Jahrhundert von deutscher Hand begangen worden sind, welches Leid Menschen und Völkern zugefügt wurde. Indem wir diese geschichtliche Last gemeinsam tragen, erweisen wir uns auch der gemeinsamen Freiheit würdig. Die Erinnerung auch an das dunkelste Kapitel unserer Geschichte wach zu halten, schulden wir den Opfern. Wir schulden es vor allem den Opfern des Holocaust, des beispiellosen Völkermords an den europäischen Juden.

Uns leitet auch in dieser Stunde der feste Wille, über die Gräben der Vergangenheit Brücken zu bauen für ein gemeinsames Werk der Verständigung, des Friedens und der Versöhnung im Geiste der Menschenrechte. Das gilt für alle Bereiche – im Innern wie nach außen.

Kontinuität und Neubeginn – das vereinte Deutschland steht für das eine wie für das andere. Wir können auf den bewährten Grundlagen aufbauen, die in der Bundesrepublik errichtet und entwickelt wurden, und wir halten fest an unserem Engagement für die europäische Einigung, für den Bau der vereinigten Staaten von Europa und in der Atlantischen Allianz.

Aber, meine Damen und Herren, wir wissen auch, dass wir nach der staatlichen Wiedervereinigung in vieler Hinsicht erst am Anfang stehen. Wirtschaftliche und soziale Fragen sind jetzt dringlich, aber sie sind jetzt wahrlich nicht die einzigen, die wir lösen müssen. Ich denke vor allem auch an die schwerwiegenden Folgen, die 4 Jahre kommunistischer Diktatur im geistigen Leben und in den Seelen der Menschen hinterlassen haben.

Die meisten Menschen – in der DDR und in der Bundesrepublik – hatten sich in all der Zeit, die wir erlebt haben, ein waches Bewusstsein dafür bewahrt, dass wir als Deutsche zusammen gehören. Ihre Herzen schlugen für die Freiheit und für die Einheit. Die friedliche Revolution im vergangenen Herbst hat dafür auf bewegende Weise Zeugnis abgelegt.

Dass ändert nichts daran, dass über vier Jahrzehnte hinweg die Deutschen in Ost und West ihr Leben unter ganz unterschiedlichen Bedingungen gestalten mussten, dass sie von völlig verschiedenen, manchmal auch durchaus gegensätzlichen Erfahrungen geprägt wurden. Wir müssen deshalb mit Verständnis und mit gegenseitiger Achtung aufeinander zu gehen. Dabei dürfen wir einander nicht überfordern. Gefragt sind Offenheit und Toleranz und die Bereitschaft, einander besser begreifen zu lernen.

Die Diktatur der SED mit ihrem Stasi- und Propagandaapparat, mit ihrem praktisch alles erstickenden Geflecht aus Unterdrückung und Verführung hat gerade auch in den Herzen der Menschen Wunden geschlagen. Gezielt versuchten die kommunistischen Machthaber, Menschen gegeneinander auszuspielen, Vertrauen zu zerstören und Hass zu säen.

Wir dürfen jetzt nicht zulassen, dass noch im nachhinein diese Saat der SED aufgeht.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei den GRÜNEN sowie bei den Abgeordneten der PDS)

Quelle: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 11. Wahlperiode, Stenographische Berichte, Plenarprotokolle 11/219 - 11/236, 8. August 1990 - 22. November 1990

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