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Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. Oktober 1990

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Berlin, 4. Oktober

Ein Parlament auf der Durchreise. Das ist der erste Eindruck beim Betreten des Berliner Reichstagsgebäudes am Tag nach der Wiedervereinigung. Koffer, wohin man sieht. Die Garderoben im Erdgeschoss fassen die Menge nicht. Wie in einer Bahnhofshalle stolpert man an allen Ecken und Enden über Reisebehältnisse. Der wichtigste Platz hier im Erdgeschoss scheint jener zu sein, an dem es Flugkarten für den Rückflug nach Bonn gibt. Später sagt Willi Brandt, jetzt das älteste Mitglied des Deutschen Bundestages: Mit dem Bekenntnis zu Berlin als der bloß symbolischen Hauptstadt kann es nicht sein Bewenden haben. Von hier aus muss meiner Überzeugung nach ein ins Gewicht fallender Teil hauptstädtischer Aufgaben wahrgenommen werden. Der neue Bundestag sollte die Entscheidung hierüber nicht überstürzen, aber auch nicht auf die lange Bank schieben." Der Reichstag - 1884 bis 1894 nach Plänen Paul Wallots als Parlamentshaus des Kaiserreiches errichtet, kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 28. Februar 1933 einer Brandstiftung zum Opfer gefallen, am Ende des Krieges stark umkämpft und dabei schwer beschädigt - ist zwischen 1957 und 1961 ohne Kuppel wieder aufgebaut und im Inneren bis 1972 mit wesentlichen Veränderungen wieder hergestellt worden. Doch bis auf den heutigen Tag wirkte das Reichstagesgebäude - seit dem der Bundestag am 7. April 1965 hier seine letzte Berliner Plenartagung gehalten hat - eher wie ein Mausoleum. Ob er jetzt zu einem neuen, langen Leben erwacht ist? Der Plenarsaal ist zur ersten Tagung des um die 144 Volkskammer-Abgeordneten erweiterten Bundestages neu hergerichtet worden. Oberflächlich betrachtet, erinnert seine derzeitige Ausstattung an den Bundestag in Bonn, wie man ihn seit der Ära Adenauer kennt. Doch wirkt er mit seinem Blumenschmuck auf den Galerien und mit der neuen Bestuhlung für die 663 Abgeordneten mehr wie ein Festsaal denn wie eine parlamentarische Arbeitsstätte. Lediglich in der 1. Reihe - dort, wo die Fraktionsführungen sitzen - gibt es Pulte und Telefone. Nur die 24 Abgeordnete starke Fraktion der PDS am äußersten linken Flügel, eine Stuhlreihe rückversetzt, hat weder Pulte in der 1. Reihe noch ein Telefon. Vermutlich braucht sie auch keins, weil kein allmächtiges Politbüro mehr telefonische Weisungen an seine Angeordneten gibt. Der Parteivorsitzende Gysi ist ja nun auch Bundestags-abgeordneter und sitzt hier in der ersten Reihe. Der ehemalige Ministerpräsident Modrow, der ebenfalls von der Volkskammer in den Bundestag gewählt wurde, ist zu dieser Parlamentstagung nicht erschienen. Dafür unterstreichen auf der Galerie Bundespräsident von Weizsäcker, die Altbundespräsidenten Scheel und Carstens, die früheren Bundestagspräsidenten von Hassel und Barzel die Bedeutung und Feierlichkeit dieser Bundestagssitzung, die freilich auf der Tagesordnung schlicht als 228. Sitzung ausgewiesen ist und die von der Bundestagspräsidentin Süssmuth mit einem einfachen "Guten Morgen!" eröffnet wird. Auf der Galerie sitzt neben dem Bundespräsidenten der 90 Jahre alte frühere SPD-Reichstagsangeordnete Josef Felder. Für ihn, der die letzte Reichstagssitzung in diesem Haus mitgemacht hat, geht heute ein Traum in Erfüllung. Frau Süssmuth spricht es in ihrer Rede zu Beginn der Sitzung aus: Nach 57 Jahren versammeln sich frei gewählte Abgeordnete des ganzen deutschen Volkes wieder im Reichstag, ein freies und geeintes Parlament in einem freien und geeinten Deutschland, in einem freien und geeinten Berlin. Nach ihrer Eröffnungsrede, in der sie die Namen vieler Persönlichkeiten nennt, die sich auf dem Weg zur deutschen Einheit Verdienste erworben haben - nur der Name Willy Brandt fällt nicht -, vereidigt die Bundestagspräsidentin die fünf neuen Bundesminister ohne Geschäftsbereich aus der ehemaligen DDR: Sabine Bergmann-Pohl, Lothar de Maiziere, Günther Krause (alle CDU), Rainer Ortleb (FDP) und Hansjoachim Walther (DSU). Sie alle schwören ihren Eid mit dem Zusatz: "So wahr mir Gott helfe." Zwischenrufe der SPD "Wahlkampf" und beim Namensaufruf von Walther "Der letzte, der allerletzte" stören die feierliche Stunde. Immerhin beginnt mit dieser Vereidigung die erste frei gewählte und demokratisch legitimierte gesamtdeutsche Regierung seit dem Ende der Weimarer Republik ihre Arbeit. Die Regierungserklärung Kohls enthält bemerkenswerte Bekenntnisse, aber auch nicht minder bemerkenswerte Versprechungen wie dieses: "Insbesondere müssen wir dafür sorgen, dass die Kulturinstitutionen von europäischem Rang auf dem Gebiet der bisherigen DDR ihre Bedeutung für Deutschland und Europa behalten. Ich weiß um die Verantwortung, die die Bundesregierung - unbeschadet grundsätzlicher Zuständigkeit der Länder - für das Fortbestehen dieser Einrichtungen trägt, und wir werden uns auch in diesem Sinn zu verhalten haben." In Potsdam, Weimar, Dresden, Naumburg, Eisenach oder Berlin wird das sicher mit besonderer Aufmerksamkeit registriert worden sein. Willy Brandt, der als erster SPD-Redner die Debatte über Kohls Regierungserklärung eröffnet - später folgen ihm Lafontaine und Thierse -, spricht vom "neuen Alltag, der mit dieser Sitzung des erweiterten Bundestages beginnt." Er hat wohl recht: viele meinen, dass für eine Weile der großen Wort genug gewechselt sind. Nach Brandt und dem CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Dregger tritt dann als erster der aus der Volkskammer kommenden neuen Bundestagsabgeordneten Wolfgang Ullmann ans Rednerpult. Er, der die Bürgerbewegung "Demokratie jetzt" vertritt und im DDR-Parlament der Fraktion Bündnis 90/GRÜNE angehörte, hat sich am Zentralen Runden Tisch und später in der frei gewählten Volkskammer immer mehr zum authentischen Sprecher der Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 profiliert. Er beginnt mit dem Hinweis auf die Schwerter zweier Weltkriege, des kalten Krieges und des Klassenkampfes, die es jetzt zu Pflugscharen umzuschmieden gelte, und endet mit der Forderung nach einer Verfassungsdiskussion, die mit einer Volksabstimmung über eine gesamtdeutsche Verfassung beendet werden müsse. Zuvor hatte Brandt sich mit einer Ergänzung des Grundgesetzes, eine Beschlussfassung im Bundestag hierüber mit Zweidrittelmehrheit und für eine darauf folgende Volksabstimmung ausgesprochen, "damit den Bürgerinnen und Bürgern des vereinten Deutschlands das letzte und entscheidende Wort eingeräumt wird". Er hatte hinzugefügt: "Und dabei sollten wir nicht so überheblich sein, die Kraft zu missachten, die in den Verfassungsentwurf der gelobten Träger der friedlichen Revolution eingeflossen ist." Auch wenn viele seiner neuen Parlamentskollegen dem nicht zustimmen können, was Ullmann sagt, nachdenklich machen sollte es sie schon.

aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Oktober 1990

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