Am 15. Mai 2023 fand eine gemeinsame Veranstaltung der KAS Charkiw und des Zentrums Liberale Moderne „Charkiw 1941 und heute – Deutschland in der Verantwortung“ in Berlin statt. Sie brachte Historikerinnen, eine Juristin sowie Politikerinnen zusammen zu einer Diskussion über die nationalsozialistische Besatzung der Ukraine im Zweiten Weltkrieg und die gegenwärtige russische Besatzung. Welche Rolle spielt und welche Verantwortung trägt Deutschland?
Der Film von Prof. Gelinada Grinchenko "Über Charkiw und über uns selbst: Erlebnisse und Schicksale einer Großstadt in den mündlichen Erzählungen ihrer Bewohner", der zwischen 2021 und 2023 in Zusammenarbeit mit der KAS Charkiw produziert wurde, erzählt von den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs in Charkiw aus der Sicht von Zeitzeugen. Er besteht aus vier Teilen, die die Besatzung der Stadt, den Holocaust, das Schicksal der ins Reich deportierten Zwangsarbeiter und die Befreiung der Stadt und ihre Rückkehr zum friedlichen Leben nachzeichnen.
Die schmerzhaften Erinnerungen der Erzähler rufen eindeutige Parallelen zur heutigen brutalen russischen Aggression in der Ukraine hervor und regten zu einem Dialog darüber an, welche Lehren die Gesellschaft aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts ziehen sollte. Zu diesem Gespräch haben wir Prof. Dr. Gelinada Grinchenko, Co-Sprecherin der Deutsch-Ukrainischen Historischen Kommission, Professorin für Geschichte an der Nationalen W.-N.-Karasin-Universität Charkiw und Mitglied des Scholars at Risk-Netzwerkes, Prof. Dr. Tatjana Tönsmeyer, Universitätsprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte ans der Bergischen Universität Wuppertal, Dr. Oksana Senatorova, Direktorin des „Forschungszentrums für Transitional Justice“ und Associate Professorin an der Yaroslav Mudryi National Law University (Charkiw) und Lilia Usik, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin (CDU) eingeladen.
Die Teilnehmerinnen und das Publikum diskutierten über die historische und rechtliche Bewertung der russischen Verbrechen sowie über die Rolle der internationalen Gemeinschaft und insbesondere Deutschlands bei der Bewältigung der Kriegsfolgen und der Strafverfolgung der Täter. Es wurde über den Film, den Holocaust – die „Tragödie innerhalb der Tragödie“, so Marieluise Beck – und Deutschlands besondere Verantwortung gegenüber der Ukraine heute gesprochen.
In Deutschland würden die Schrecken der deutschen Besatzung und deren Bedeutung für die besetzten Gesellschaften kaum thematisiert, so Tatjana Tönsmeyer, Universitätsprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Daraus entstünde der Trugschluss, dass mit dem Ende der aktiven Kampfhandlungen die Schrecken des Krieges vorbei seien. – Die Mehrzahl der zivilen Kriegsopfer sind aber in der Regel Besatzungsopfer und „Besatzung zersetzt gesellschaftliches Vertrauen“. Unsere Verantwortung bestehe darin, überhaupt um die Besatzung zu wissen, uns mit der „Opferseite“ zu beschäftigen und Empathie zu fühlen.
Für die Verfolgung von Kriegsverbrechen ist die Sammlung von Zeugnissen von Überlebenden entscheidend. Oksana Senatorova, Direktorin des „Forschungszentrums für Transitional Justice“ und Associate Professorin an der Yaroslav Mudryi National Law University in Charkiw hob in diesem Zusammenhang den internationalen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Wladimir Putin und die russische Ombudsfrau für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa, am 17. März dieses Jahres als positives Ergebnis hervor. Und: Bei der Sammlung von Zeugnissen gehe es immer auch um die Suche nach Wahrheit und um Erinnerung.
Teil 1 und Teil 2 des Filmes mit englischen Untertiteln sind auf dem YouTube-Kanal der KAS Ukraine zugänglich, die nächsten zwei Teile werden demnächst veröffentlicht.