Das Wahljahr 2024 – ein Schicksalsjahr für Südafrika
Dreißig Jahre nach Ende der Apartheid finden am 29. Mai 2024 in Südafrika die siebten Wahlen zum Nationalparlament und den neun Provinzparlamenten statt. Für das Land am Kap werden es die wichtigsten Wahlen seit 1994, denn in nahezu allen Politikfeldern bedarf es einer politischen Neuausrichtung: Die sozio-ökonomische Entwicklung des Landes ist in den vergangenen fünfzehn Jahren weit hinter den selbstgesetzten Zielen zurückgeblieben und bedarf einer dringenden Kurskorrektur. So stagniert das Wirtschaftswachstum seit den Parlamentswahlen 2019 und belief sich im Jahr 2023 auf 0,6 %.[1] Die Arbeitslosigkeit ist mit 41 % weiter auf einem sehr hohen Niveau.[2] Auch ist die soziale Ungleichheit in allen Lebensbereichen der Menschen, wie dem Bildungs- und Gesundheitssektor und der oftmals daraus resultierenden Kriminalität (vor allem Bandenkriminalität) weiter stark angestiegen.
Vor diesem Hintergrund und verstärkt durch ein hohes Maß an Korruption und Klientelismus der politischen Eliten, haben viele Südafrikaner das Vertrauen in die Partei Nelson Mandelas, den African National Congress (ANC), verloren und flüchten in die Wahlenthaltung.[3] Die Zustimmungswerte der Dauerregierungspartei sind seit Jahren rückläufig. Obwohl an der Aussagekraft von Wahlumfragen in Südafrika Zweifel angebracht werden, ist zu erwarten, dass die ehemalige Befreiungsbewegung erstmalig auf nationaler Ebene ihre absolute Mehrheit verpasst. Somit wird die erfolgsverwöhnte Partei einen oder mehrere Koalitionspartner benötigen, um weiter an der Macht zu bleiben.
Parallel zu den sinkenden Zustimmungswerten des ANC kam es in einem stark fragmentierten und dynamischen Parteiensystem zu zahlreichen Parteineugründungen. Hierbei handelt es sich vor allem um Abspaltungen vom ANC und der größten Oppositionspartei, der Democratic Alliance (DA). Auch wenn der Wahlausgang ungewiss und damit die politische Unsicherheit groß ist, so scheint eines klar: Die „Einparteienherrschaft“ des ANC geht zu Ende. Der Parteienpluralismus wird dadurch gestärkt. Viele Südafrikaner verbinden damit die Hoffnung auf notwendige Reformen und mehr soziale und politische Teilhabe.
Für Deutschland sind die Wahlen in Südafrika von erheblicher Bedeutung. Die Regenbogennation ist wirtschaftlich und politisch ein Gigant auf dem für Deutschland immer bedeutsamer werdenden afrikanischen Kontinent. Wirtschaftlich verfügt Südafrika über die größte und am stärksten industrialisierte Volkswirtschaft in Afrika. Das Land ist unser wichtigster Handelspartner auf dem Kontinent mit einem jährlichen Handelsvolumen von über 20 Mrd. Euro. Über 600 deutsche Unternehmen sind in Südafrika tätig und haben zuletzt besonders in der Automobilindustrie langfristige Investitionen getätigt. Gleichzeitig sind Deutschland und Südafrika durch eine ausgeprägte „people-to-people“ Beziehung stark miteinander verbunden: Südafrika ist ein beliebtes Reiseziel deutscher Touristen (außerhalb Europas).
Politisch tritt das Land als Sprachrohr des sogenannten globalen Südens in Erscheinung. So engagiert sich Südafrika als Vermittler und Unterstützer vieler Friedensmissionen innerhalb Afrikas und ist für Deutschland auch deshalb wichtiger Ansprechpartner in der Region. Gleichzeitig distanziert sich Südafrika außenpolitisch zunehmend von westlichen Partnern. Die Genozid-Anklage am Internationalen Gerichtshof gegen Israel, die traditionell engen Verbindungen zu Russland (die auch nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine aufrechterhalten wurden) sowie die Kooperation mit Staaten wie dem Iran im erweiterten BRICS Format bringen auch die Beziehungen Deutschlands und Südafrikas an einen Scheideweg.
Neue Parteien für enttäuschte Wähler?
Im Jahr 2022 gaben über 80 % der Südafrikaner in einer landesweiten Umfrage an, dass sich das Land ihrer Meinung nach in die falsche Richtung bewege.[4] Gleichzeitig sinkt das Vertrauen in politische Parteien und Politiker rapide. Für viele Südafrikaner entsteht deshalb der Wunsch nach politischen Alternativen, was in den vergangenen Jahren zur Gründung neuer Parteien geführt hat. Bisher galten im Mitte-Rechts Spektrum die Democratic Alliance (DA) und die Inkatha Freedom Party (IFP) als Alternativen zum ANC. Die DA (Wahlergebnis Nationalparlament 2019: 20,8 %) hat besonders in der Provinz des Westkaps eine erfolgreiche Regierungsbilanz vorzuweisen. National wird die Partei jedoch nach wie vor als Klientelpartei der weißen Minderheit wahrgenommen.[5] Zudem hat die DA aufgrund ihrer pro-israelischen Haltung in den vergangenen Monaten in Teilen ihrer Wählerschaft an Zustimmung eingebüßt. Der zweite bedeutende Mitbewerber im Mitte-Rechts Spektrum, die KAS-Partnerpartei IFP (Wahlergebnis Nationalparlament 2019: 3,4 %), vertritt hingegen ein konservativ-traditionelles Gesellschaftsbild und ist sowohl marktwirtschaftlich als auch föderalistisch ausgerichtet. Die in der Provinz KwaZulu-Natal stark verankerte Partei erfährt seit den letzten Lokalwahlen 2021 ein kontinuierliches Wachstum an Zustimmung. Doch nun haben neue, direkte Konkurrenten die politische Bühne betreten: Bereits vor der letzten Lokalwahl 2021 wurde die Partei ActionSA gegründet. Angeführt durch den ehemaligen Bürgermeister Johannesburgs, Hermann Mashaba, hat sich die Partei seitdem besonders in der Provinz Gauteng etabliert. ActionSA setzt prominent auf die Themenbereiche Innere Sicherheit und Freie Marktwirtschaft. Build One South Africa (BOSA), die im Jahr 2022 durch Mmusi Maimane, dem ehemaligen DA-Vorsitzenden gegründete Partei begann als Basisbewegung unabhängiger Kandidaten. BOSA hat sich selbst zum Ziel gesetzt, moderne Arbeitsmarkt- und Bildungsreformen umzusetzen. Besonders in den urbanen Ballungszentren Südafrikas gewinnt die im April 2023 gegründete Partei Rise Mzansi zunehmend an Popularität. Diese ist programmatisch zwar der DA und ActionSA ähnlich, zielt in ihrer Kommunikation jedoch viel stärker auf strukturell benachteiligte Bevölkerungsgruppen ab. Das verfängt bei vielen Menschen und macht die Partei im Spektrum der politischen Mitte vor allem unter jungen Wählern zum vielversprechendsten „Newcomer“ dieser Wahl.
Im Mitte-Links Spektrum ist es bisher zu mehreren Abspaltungen vom ANC gekommen. Besonders beachtenswert sind hierbei die radikal-linkspopulistischen Economic Freedom Fighters (EFF), welche im Jahr 2013 unter der Führung des ehemaligen Vorsitzenden der ANC-Jugendorganisation, Julius Malema, gegründet wurden, sowie die Ende 2023 gegründete Partei Umkhonto we Sizwe (MK). Die MK wird durch den ehemaligen Staatspräsidenten Jacob Zuma angeführt und ist nach dem früheren militärischen Flügel des ANC benannt.[6] Der 82jährige Zuma selbst war aufgrund massiver Korruption im Amt und gezielter Untergrabung staatlicher Institutionen (Ära der sog. State Capture) angeklagt, im Jahre 2021 wegen Missachtung des Gerichts sogar kurzfristig inhaftiert. Er erlangte aber durch einen Erlass des aktuellen Staatspräsidenten Cyril Ramaphosa im vergangenen Jahr Straffreiheit. Von guten Umfragewerten getragen, hat sich die MK in kürzester Zeit als ernsthafter Konkurrent von ANC und EFF, aber auch gegenüber der IFP etabliert. Vor allem in der Provinz KwaZulu-Natal genießt Zuma als ehemaliger Staatspräsident und Zulu noch immer große Popularität (Stichwort: ethnische Komponente als Wahlfaktor). Inhaltlich setzt die Partei auf Enteignung ohne Kompensation, Verstaatlichung und die Stärkung traditioneller Führer zulasten demokratischer Institutionen. Damit steht Zuma für all das, was das Land in der Krise am wenigsten braucht, nämlich Korruption, Klientelismus, Diebstahl, mögliche Gewalt und Anti-Rechtsstaatlichkeit. Die MK stellt den ANC und das gesamte Land vor eine Zerreißprobe. Dabei geht es nicht nur um die Frage der möglichen Mehrheitsbeschaffung für den ANC nach den Wahlen. Mit seinem „Racheprojekt“ will Zuma offenbar auch seinem Erzfeind Ramaphosa, der ihn vor sechs Jahren aus dem Amt gedrängt hatte, nachhaltig politischen Schaden zufügen. Es ist nicht auszuschließen, dass MK-Anhänger zu gewaltsamen Mitteln greifen, sollten ihre Wahlziele nicht erreicht werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Angst vor möglichen politischen Unruhen oder sonstiger Gewalt im Wahlkampf in Südafrika ist vor allem durch das „Phänomen“ MK-Partei Teil der öffentlichen Debatte geworden.[7]
Im Wettbewerb um die 400 Sitze des Nationalparlaments bewerben sich 51 Parteien. Anders als in Deutschland gibt es keine festgelegte, prozentuale Sperrklausel. Weiterhin können sich erstmalig auch unabhängige Kandidaten zur Wahl der Nationalversammlung bewerben. Ermöglicht wird dies durch eine umfassende Reform des Wahlrechts im April 2023.[8] Vor allem aufgrund hoher Zulassungshürden und mangelhafter finanzieller Ausstattung von Einzelkandidaten treten landesweit letztendlich nur sechs unabhängige Kandidaten in allen neun Provinzen für die nationale Wahl an.[9]
Stellen die neuen Parteien eine wirkliche Alternative für enttäuschte Wähler da?
Die ideologische Ausrichtung der Wähler zwischen dem Mitte-Rechts und Mitte-Links Spektrum bleibt weitgehend unverändert. So kommen nach aktuellen Umfrageergebnissen der ANC (~41 %), die EFF (~12 %) und die MK (~10 %) auf aggregierte Zustimmungswerte, die ungefähr dem Wahlergebnis des ANC aus dem Jahre 2014 entsprechen. Die DA bleibt national hingegen konstant im Spektrum 20 – 25 %, was auf die starke Mobilisierungsfähigkeit der Partei im eigenen Wählerlager zurückzuführen ist. Allerdings scheint die DA darüber hinaus offensichtlich keine neuen Wählergruppen zu erschließen, zumindest nicht im großen Ausmaß. Weiterhin ist auffällig, dass in den wirtschaftlich starken Provinzen Gauteng, KwaZulu-Natal und dem Westkap (die zusammen etwa zwei Drittel der Wirtschaftskraft Südafrikas ausmachen) die traditionell starken Parteien ANC und DA an Zustimmung verlieren. Die erstmalig auf nationaler Ebene antretenden Parteien MK, ActionSA, BOSA und Rise Mzansi profitieren hiervon vor allem regional. Sie kannibalisieren gleichzeitig andere Kleinstparteien ihres Parteienspektrums. Im linken politischen Lager wiederum scheint eine Wählerwanderung vom ANC und den EFF hin zur MK-Partei zu erfolgen.
Für welche Partei der Wähler seine Stimme gibt, hängt, wie in anderen Ländern auch, immer stärker vom Spitzenkandidaten ab. Denn als Folge der oftmals programmatischen Übereinstimmung der im linken und rechten Lager untereinander konkurrierenden Parteien, wird der Wahlkampf zunehmend personalisiert. Ob Ramaphosa für den ANC, Malema für die EFF, Zuma für die MK-Partei oder im Falle der IFP sogar der im vergangenen Jahr verstorbene Parteigründer Prinz Mangosuthu Buthelezi: Charismatische Führungspersönlichkeiten dominieren die Berichterstattung im Wahlkampf. Aspekte der regionalen Identität wirken hierbei verstärkend.
Bisher konnten Oppositionsparteien nicht in einem hohen Maße von dem steten Niedergang der Regierungspartei profitieren und damit eine glaubwürdige und kompetente Alternative zum ANC bieten. Persönliche Befindlichkeiten von Parteivertretern der Opposition überlagerten zumeist inhaltliche Schnittmengen. Umso positiver hervorzuheben ist die im Sommer 2023 gegründete Multi-Party-Charter For South Africa (MPC): Unter Federführung der DA unterzeichneten mehrere Parteien aus dem Mitte-Rechtslager (darunter die IFP und ActionSA) eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit auf Grundlage gemeinsamer Werte und Prinzipien sowie sich überschneidender Politikinhalte. Sie stellt eine Art Sondierungsvereinbarung vor den Wahlen und einen Versuch dar, eine wählbare Regierungsalternative zum ANC zu bieten. Denn nach geltender Gesetzeslage sind nur 14 Tage vorgesehen, um nach dem Urnengang eine Regierung zu bilden. Auch wenn die MPC zweifelsohne ein Schritt in die richtige Richtung ist, um die politische Kultur- und Koalitionsfähigkeit unter Oppositionsparteien zu stärken, so darf dabei nicht übersehen werden, dass (zumindest bisher) Oppositionsparteien wie Rise Mzansi oder BOSA dem Bündnis nicht angehören und die MPC es laut aktueller Umfragen auf etwa 35 % aggregierter Zustimmungswerte bringt. Man ist folglich auf nationaler Ebene weit von einer Mehrheit zur Regierungsbildung entfernt. Auch aufgrund der fehlenden Regierungsperspektiven haben die Fliehkräfte innerhalb der MPC zuletzt zugenommen. So haben sowohl die DA als auch die IFP (welche aktuell bei ungefähr 4-5 % in den Umfragewerten liegt) kürzlich unter dem Schlagwort „Regierung der nationalen Einheit“ (ähnlich wie unter Mandela im Jahre 1994) öffentlich darüber spekuliert, ob man mit dem ANC eine Koalition eingehen müsse, um eine linkspopulistische Regierung aus ANC und EFF zu verhindern.
Südafrika am Wahltag
Knapp 27,8 Millionen Südafrikaner und somit fast 68 % aller Wahlberechtigten haben sich für die kommenden Wahlen zur Nationalversammlung und den Provinzparlamenten registriert. Vor dem Hintergrund der seit Jahren abnehmenden Wahlbeteiligung wird, trotz der Bedeutsamkeit dieser Wahlen und der beschriebenen Parteineugründungen, mit keiner Kehrtwende gerechnet. Denn die über Jahre gewachsene Politikverdrossenheit ist zu sehr in der Gesellschaft verfestigt.
Die südafrikanische Wahlkommission (IEC) gilt allgemeinhin als wahlerprobt, unabhängig und nach Meinung vieler Südafrikaner als überwiegend vertrauenswürdig, trotz der Herausforderung, dass die IEC über wenig finanzielle Mittel verfügt. Dennoch beschreibt diese Wahl für die IEC einen wichtigen Stresstest: Die beschriebene Ausgangslage der Regierungspartei (möglicher Verlust der absoluten Mehrheit des ANC und damit verbunden ein knappes Wahlergebnis, das eine Koalitionsregierung aller Wahrscheinlichkeit nach erforderlich macht), der Reformierung des Wahlrechts im Jahr 2023 sowie die öffentlich und gerichtlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten mit politischen Parteien (vor allem mit der MK-Partei über eine mögliche Zulassung Zumas zur Wahl) führen dazu, dass die Arbeit des IEC diesmal unter ganz besonderer Beobachtung steht. Dennoch gehen Experten davon aus, dass die IEC ihren Anforderungen gerecht wird und im Sinne der südafrikanischen Demokratie einen geordneten und validen Wahlprozess gewährleistet. Wie in vielen Ländern dieser Welt gilt es zudem, das wichtige Thema „fake news/Desinformationskampagnen“ zu beachten, denn leider wird auch dieser Wahlkampf hiervon nicht verschont.[10]
Mögliche Szenarien bzgl. des Wahlausgangs
Trotz aller Prognosen: Die Effizienz der Kampagnenführung und damit die Mobilisierungsstärke des ANC insbesondere in der heißen Wahlkampfphase sind nicht zu unterschätzen. Zum einen ist die Partei stark im vorpolitischen und ländlichen Raum vertreten, zum anderen hat sie den Staatsapparat auf ihrer Seite und Schlüsselpositionen in Politik und Verwaltung mit loyalen Anhängern (Stichwort: „cadre deployment“) besetzt. Darüber hinaus ist Cyril Ramaphosa noch immer der beliebteste Politiker Südafrikas, auch wenn der Präsident zuletzt stark an Popularität eingebüßt hat. Selbst Ramaphosa-kritische ANC-Politiker - wie etwa der ehemalige Staatspräsident Thabo Mbeki - haben erkannt, was auf dem Spiel steht und betreiben intensiv Wahlkampf für den ANC. Der erneute Gewinn der absoluten Mehrheit mit knapp über 50 % der Stimmen kann zwar nicht ausgeschlossen werden, ist aber aus heutiger Sicht unwahrscheinlich. Die Höhe der Wahlbeteiligung wird ein entscheidender Faktor sein. Bei einer niedrigen Wahlbeteiligung (besonders unter jungen Wählern) und gleichzeitig hoher Mobilisierung in ländlichen Regionen können die Zustimmungswerte des ANC höher ausfallen als von den meisten Demoskopen bisher prognostiziert. Die in der Folge dargestellten Szenarien gehen deshalb davon aus, dass der ANC am 29. Mai 2024 auf nationaler Ebene zwar ein weiteres Mandat über fünf Jahre vom Souverän erhalten wird, aber dennoch seine absolute Mehrheit verliert. Die Regierungspartei wird deshalb zukünftig auf einen oder mehrere Koalitionspartner angewiesen sein.[11] Auch gilt es unter Experten als nahezu ausgeschlossen, dass gegen die ehemalige Befreiungsbewegung auf nationaler Ebene eine Regierung gebildet werden kann. Wenn man diese Prämissen voraussetzt, so wird die zukünftige Regierungsbildung entscheidend davon abhängen, in welchem Ausmaß die Dauerregierungspartei an Zustimmung verlieren wird und wie sich nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses die innerparteilichen ANC-Dynamiken entwickeln. Bei einem sehr schlechten Wahlergebnis könnten die altbekannten Flügelkämpfe des ANC erneut aufbrechen und Cyril Ramaphosa möglicherweise durch einen innerparteilichen Konkurrenten (hier wird über die Person des stellvertretenden Präsidenten Paul Mashatile spekuliert) ersetzt werden.
Szenario 1: ANC knapp unter 50 %
Die Partei wird sich in einer Regierungskoalition über die 50 % retten, indem kleinere Parteien oder unabhängige Abgeordnete durch Ämtervergabe an den ANC gebunden werden. Ähnlich wird zum Teil bereits auf lokaler Ebene (wie beispielsweise im Johannesburger Stadtrat) verfahren. Anstatt notwendige Reformen umzusetzen, wird in solch einer Konstellation der Status quo zementiert. Dies führt voraussichtlich zu einem fortschreitenden wirtschaftlichen Verfall und steigender sozialer Instabilität des Landes. Der ANC wird in dieser Koalition nur schwerlich in der Lage sein, sich institutionell grundlegend zu erneuern, was den weiteren Abwärtstrend der Partei bedeutet. Bliebe Cyril Ramaphosa in dieser Regierungskoalition Präsident, würde er den Niedergang des ANC voraussichtlich nicht verhindern, sondern lediglich hinauszögern.
Szenario 2: Ein deutlich geschwächter ANC wird sich auf eine Koalition mit den EFF (und möglicherweise auch mit der MK-Partei) einlassen
In diesem, von der DA bezeichneten „Weltuntergangs-Szenario“ wird Ramaphosa voraussichtlich nicht mehr Präsident des Landes sein und moderate Kräfte innerhalb des ANC weiter zurückgedrängt werden. Dieses radikal linkspopulistische Parteienbündnis würde aller Voraussicht nach auf Verstaatlichung setzen (u.a. von Banken und Minen), Enteignungen ohne Kompensation - besonders in der Agrarwirtschaft - vornehmen und Investoren durch eine Ausweitung staatlicher Eingriffe in die Privatwirtschaft massiv abschrecken. Armut und Ungleichheit würden in Südafrika weiter ansteigen. Zudem wäre solch ein Bündnis für den gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalt des Landes fatal: Die EFF lehnt die versöhnliche Politik der Post-Apartheid-Ära ab und wettert häufig gegen einzelne Bevölkerungsgruppen innerhalb Südafrikas. Außenpolitisch würde die Zusammenarbeit mit Russland und China ausgeweitet.
Szenario 3: Koalition der Mitte (ANC mit DA und/oder IFP bzw. mit MPC-Parteien)
Diese - unter Präsident Ramaphosa geführte - breite Koalition wäre in der Lage, verkrustete Strukturen aufzubrechen und Reformen in die Wege zu leiten, die auf Wachstum und Beschäftigung setzen. Hieraus würde eine echte Chance für das Land entstehen. Außenpolitisch würde sich diese Koalition vom Westen nicht weiter entfernen. Um ein solches Bündnis jedoch zu realisieren, müssten politische Akteure persönliche und inhaltliche Gräben überwinden. Dies gilt insbesondere bei einer möglichen Zusammenarbeit zwischen ANC und DA, die programmatisch weit auseinander liegen und keine Vertrauensbasis haben. Die IFP würde sich in einer Koalition der Mitte als Juniorpartner anbieten, denn: Beide Parteien haben - trotz ihrer gewaltsamen Konflikte Anfang der 90er Jahre - während der Einheitsregierung nach 1994 bereits auf nationaler Ebene sowie in der Provinz KwaZulu-Natal zusammen regiert. Solch eine Regierungskoalition wäre allerdings nur dann stabil, wenn es der IFP gelingt, den ANC zu einer Reformbereitschaft in zentralen Politikfeldern zu bewegen und die in der bisherigen Regierung grassierende Korruption einzugrenzen. Der ANC könnte hiervon auch langfristig profitieren, da eine Koalition der Mitte den linken Dauerrivalen EFF von den Machtapparaten fernhielte und damit möglicherweise langfristig schwächt. Denn Julius Malema würde als Vorsitzender der EFF in der Bevölkerung zunehmend als dauerhafter Oppositionspolitiker ohne Aussicht auf Regierungsbeteiligung wahrgenommen und so auf der nationalen Bühne nachhaltig an Glanz verlieren.
Trotz der zahlreichen Herausforderungen, vor denen das Land steht, könnten insbesondere das dynamische, miteinander konkurrierende Parteienwesen den Anstoß geben, um notwendige Reformen durchzusetzen, von denen nicht nur das Land, sondern auch die Parteien selbst profitieren. Ausgewählte Oppositionsparteien, die an Provinzregierungen (zum Beispiel Gauteng und KwaZulu-Natal) beteiligt wären, würden neue Reformimpulse setzen, Regierungserfahrung sammeln und Wähler von ihrem Politikstil und ihrer Problemlösungskompetenz im Alltagsgeschäft überzeugen. Für viele Oppositionsparteien ist das eine große Chance, um in den Lokalwahlen 2026 und den übernächsten Wahlen zum Nationalparlament und den Provinzparlamenten 2029 weiter an Zustimmung zu gewinnen. Andererseits besteht die Gefahr, dass ein sich diversifizierendes Parteienspektrum die Regierungsbildung durch Kompromissunfähigkeit erschwert und die politische Handlungsfähigkeit im Koalitionsalltag beeinträchtigt. Denn bis auf die von Mandela 1994 gebildete „Regierung der nationalen Einheit“ gibt es auf höchster staatlicher Ebene in Südafrika bisher keine Erfahrungen in der Koalitionsbildung.
Alle oben beschriebenen Szenarien erlauben den Schluss, dass Südafrika nach den Wahlen in eine neue Zeit aufbricht. Als junge Demokratie kann das Land dabei bereits jetzt auf starke staatliche Institutionen und eine stabile Verfassung bauen, welche als Legitimationsfaktor und, wo notwendig, als Korrektiv dienen. Ein absoluter Trumpf für das Land am Kap!
Stand: 10.05.2024
[1] Department of Statistics South Africa (2024): Media Release – Embargo: Tuesday 05 March 2024.
[2] Department of Statistics South Africa (2024): Media Release – Embargo Tuesday 20 February 2024.
[3] Während der Wahl zur Nationalversammlung 2019 lag die offizielle Wahlbeteiligung bei 66 % (vgl. Henning Suhr: Südafrika hat gewählt: ANC verliert an Zuspruch – Ramaphosa nicht, KAS Länderbericht, Wahlbericht Südafrika 2019 (kas.de)).
[4] The Brenthurst Foundation (2022): South Africans Overwhelmingly Favour a National Coalition to Govern the Country – Electoral Survey, South Africans Overwhelmingly Favour a National Coalition to Govern the Country – Electoral Survey | The Brenthurst Foundation.
[5] Das Westkap ist die einzige der neun Provinzen Südafrikas, in dem die Opposition regiert. In den anderen acht Provinzen hat der ANC die absolute Mehrheit.
[6] Nach jüngsten Entwicklungen, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts noch nicht gänzlich einzuschätzen sind, ist es ebenfalls möglich, dass Jacob Zuma aufgrund interner Flügelkämpfe aus der MK-Partei gedrängt wird.
[7] Bereits im Juli 2021 kam es zu schweren sozialen Unruhen in KwaZulu-Natal, nachdem Jacob Zuma wegen Missachtung des Gerichts (Verweigerung der Aussage vor der State Capture Commisson) inhaftiert wurde, welche anschließend auch auf die Provinz Gauteng übergriffen.
[8] IEC (2023): Electoral Commission welcomes the signing of the Electoral Amendment Bill into law by President Cyril Ramaphosa, Electoral Commission : News Article (elections.org.za).
[9] Nur einem von ihnen, Zacki Achmat, ein bekannter früherer Anti-Apartheid und LGBTQI+-Aktivist, der sich seit Jahren vor allem für Aidskranke einsetzt, werden ernsthafte Chancen eingeräumt, in das Nationalparlament einzuziehen.
[10] Beispielsweise zirkulierte in den sozialen Medien im März 2024 ein Video, welches fälschlicherweise Donald Trump als Unterstützer der MK-Partei ausgab (vgl.: van Damme (2024): How can we safeguard South Africa’s hard-won free and fair elections in the age of disinformation? Disinformation, governance and the South African election - ISS African Futures).
[11] Es gibt ohne Zweifel noch andere denkbare („Zwischen-)Szenarien, wie etwa die Tolerierung einer ANC-Minderheitsregierung durch bestimmte Oppositionsparteien. Auf deren Beschreibung wird in diesem Bericht aufgrund der notwendigen Komplexitätsreduzierung verzichtet.
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