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Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Länderberichte mal anders

Palästina Leben am Rand der Gesellschaft

Inklusion weltweit – aktueller Stand aus den Palästinensischen Gebieten

Auf der ganzen Welt sind Menschen mit Behinderungen erschwerten Lebensumständen ausgesetzt, aber in den besetzten Palästinensischen Gebieten multipliziert das Wechselspiel von sozialem Stigma, mangelhafter Regierungsführung, fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven und einer andauernden Konfliktsituation die ohnehin schon prekäre Situation erheblich. Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen hat vor dem Hintergrund der seit mehreren Generationen andauernden politischen Instabilität keine Priorität, gleichzeitig wird ihnen bisweilen auch aufgrund von Vorurteilen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verwehrt.

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Wer ist eingeschränkt?

Das Bewusstsein für die unterschiedlichen Formen der physischen und psychischen Beeinträchtigungen, ebenso wie für die Bedürfnisse der jeweiligen Einschränkungen, ist innerhalb der palästinensischen Gesellschaft wenig ausgeprägt.

Bereits die systematische Erfassung, wie viele Menschen mit Behinderungen überhaupt in den Palästinensischen Gebieten leben, stellt ein Problem dar: Zum einen gibt es ein so starkes Stigma, dass Familien Kinder mit Behinderungen nicht selten verstecken und ihnen so den Zugang zu Grundbildung und Teilhabe verwehren. Zum anderen führen die unterschiedlichen Methodologien der Erfassung und unterschiedliche Maßstäbe für die Wertung von Behinderungen zu abweichenden Ergebnissen: So schätzt das Palestinian Central Bureau of Statistics (PCBS) den Anteil der Menschen mit Behinderungen auf 2,7 Prozent an der palästinensischen Gesamtbevölkerung, bzw. 93.000 Betroffenen (2017), während Organisationen wie Caritas von sieben Prozent mit noch höherer Dunkelziffer ausgehen, und das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) 15 Prozent für die unter ihrer Verwaltung stehenden Flüchtlingslager angibt, wobei der Anteil der Menschen mit Behinderungen im GazaStreifen etwas höher als im Westjordanland ist.

 

Frage des Zugangs zu medizinischer Infrastruktur

Ein weiteres Problem zur Erfassung der Situation von Menschen mit Behinderungen stellt die Fragmentierung der Palästinensischen Gebiete durch Annexion und Besatzung dar: Welcher Zugang zur Gesundheitsinfrastruktur besteht, hängt vom Wohnort ab. Während Ost-Jerusalemer an die international wettbewerbsfähige israelische Gesundheitsinfrastruktur angebunden sind, sind Bewohner des Westjordanlands auf die Versorgung durch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) angewiesen und die Bewohner des Gaza-Streifens auf die der Hamas-Behörden. Die Situation der Palästinenserinnen und Palästinenser mit Flüchtlingsstatus, die auf Hilfeleistungen von UNRWA angewiesen sind, stellt dabei eine weitere Besonderheit dar, da die palästinensischen Flüchtlinge noch weniger Zugang zu vitalen Ressourcen haben und die Situation in den Flüchtlingslagern durch räumliche Beengtheit und Barrieren geprägt ist. So ist bereits die Evaluation der Versorgung fragmentiert und damit die Voraussetzungen, um die spezifischen Bedürfnisse überhaupt einschätzen und notwendige Maßnahmen ergreifen zu können.

 

Mangelhafte staatliche Strukturen in den Palästinensischen Gebieten

Auf staatlicher Ebene ist die Anerkennung der Notwendigkeit verpflichtender Maßnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen unzureichend. Zwar hat sich die Palästinensische Autonomiebehörde mit der Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention und der Unterzeichnung der Agenda 2030 der Ziele für nachhaltige Entwicklung und der Inklusion von Menschen mit Behinderungen verpflichtet, doch rückt die Sozialpolitik vor den politischen Konflikten, dem stetigen Kampf um Machterhalt und den wirtschaftlichen Herausforderungen in den Hintergrund.

Bereits unter der Gesamtbevölkerung der Palästinenserinnen und Palästinenser in den besetzten Gebieten ist der Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung eingeschränkt; Schätzungen der Weltbank zufolge genießen nur 44 Prozent der Bevölkerung eine ausreichende medizinische Versorgung. Fehlende finanzielle Mittel seitens der palästinensischen Behörden, mangelhafte Regierungsführung und die Kontrolle der Einfuhr medizinischer Geräte und Medikamente seitens der israelischen Regierung beeinträchtigen die medizinische Ausstattung. Die erschwerten Lebensbedingungen führen darüber hinaus zu einer Abwanderung (brain drain), die auch qualifiziertes medizinisches Personal betrifft. Die Bewohner des blockierten Gaza-Streifens, wo es an grundlegender medizinischer Infrastruktur mangelt, können nur mit Sondergenehmigung seitens der israelischen Behörden zur medizinischen Versorgung nach Ost-Jerusalem, in das Westjordanland oder in das Ausland ausreisen. In Ost-Jerusalem und im Westjordanland wiederum stellen Blockaden und Checkpoints physische Barrieren für den Zugang zur ohnehin mangelhaften medizinischen Versorgung dar.

Zum einen stellen diese Faktoren für Menschen mit Behinderungen eine noch größere Beeinträchtigung der Grundversorgung dar, zum anderen befördert eine mangelnde Gesundheitsversorgung bleibende Schäden und Behinderungen aufgrund von Krankheitsfällen. Auch die andauernde Konfliktsituation mit Gewaltpotenzial führt immer wieder zu Verletzungen, die bleibende körperliche Schäden hinterlassen. Darüber hinaus gibt es – weder technisch noch personell – kaum spezifische medizinische oder gar psychologische Versorgung für Menschen mit Behinderungen, geschweige denn Rehabilitationsmaßnahmen oder langfristige Therapiemöglichkeiten.

In den letzten Jahren haben die palästinensischen Behörden eine Reihe von Maßnahmen initiiert, die die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen adressieren sollen – unter anderem den National Strategic Plan for the Disability Sector (2012), die Inclusive Education Policy (2014) und eine vom Ministerium für soziale Angelegenheiten ausgestellten Behindertenausweis mit Zugang zu kostenloser Gesundheitsversorgung – doch bleibt die Umsetzung staatlicher Strukturen nach Einschätzung der Weltbank unzureichend und die Reichweite dieser Programme ist bisher nicht systematisch erfasst.

 

Intersektionale Diskriminierung von Menschen mit Behinderung

Während die Tragweite der öffentlichen Maßnahmen angezweifelt wird, verkompliziert sich die Situation gerade für junge Menschen mit Behinderungen. In einem Umfeld, in dem 25 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, es keine effiziente Sozialpolitik gibt und der wirtschaftliche Druck kontinuierlich zunimmt, scheint es kaum Perspektiven zu geben. Die Vulnerabilität erhöht sich, wenn sich die körperlichen oder mentalen Beeinträchtigungen mit anderen Diskriminierungsformen überlagern, wie etwa dem sozialen Milieu – Menschen mit Behinderungen sind stärker von Armut betroffen – oder dem Geschlecht. So sind Frauen und Mädchen in den Palästinensischen Gebiete überproportional oft von häuslicher Gewalt betroffen.

 

Zukunft mit Einschränkungen

Auch für die Jugend sehen die Aussichten schlecht aus. Etwa 20 Prozent der Menschen mit Behinderungen sind unter 18 Jahre alt. Ihnen wird aufgrund mangelnder Ressourcen und sozialer Stigma in besonderem Maße der Zugang zu Bildung vorenthalten. Während die Analphabetenrate bei Menschen zwischen 15-29 Jahren in den Palästinensischen Gebieten bei gerade 0,6 Prozent liegt, liegt sie bei Kindern mit Behinderung über zehn Jahren bei 32 Prozent. Diese Diskrepanz erhöht sich, wenn man auf das Geschlecht blickt: Unter Jungen mit Behinderungen können 20 Prozent nicht lesen und schreiben, bei Mädchen sind es 46 Prozent. Fast jedes zweite Kind mit Behinderung zwischen 6 und 17 Jahren geht nicht zur Schule. Die Gründe dafür sind vielfältig und können von sozialem Scham über wirtschaftlicher Not bis hin zu physischen Barrieren in den Ausbildungsstätten liegen.

Verlässliche Daten über Berufsausbildung und höherer Bildung unter jungen Menschen mit Behinderungen gibt es nicht, aber die Überlagerung von sozialer Stigmatisierung, fehlendem Zugang zu Bildung und mangelnder Umsetzung von Barrierefreiheit erschwert den Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten und damit zum Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit in den Palästinensischen Gebieten liegt schon bei der Gesamtbevölkerung bei fast einem Viertel, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 37,70 Prozent (PCSB, 2022); bei Menschen mit Behinderungen dürfte der Anteil höher sein.

 

Alternative Strukturen für Menschen mit Behinderungen

Vor dem Hintergrund mangelhafter staatlicher Strukturen für Menschen mit Behinderungen tragen Zivilgesellschaft und nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen maßgeblich dazu bei, Grundversorgung zu leisten und die Situation für Menschen in den besetzten Palästinensischen Gebieten zu verbessern.

Schon 1991 hat sich mit der Palestinian General Union of People with Disability eine Interessenvertretung mit etwa 35.000 Mitgliedern gegründet, die sich zum Ziel erklärt hat, für die Umsetzung des palästinensischen Gesetzes zur vollständigen Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (1999) zu kämpfen.

Neben der UNRWA gewährleistet ein umfangreiches Netzwerk karitativer Organisationen, kirchlicher Institutionen und privaten Stiftungen wie Caritas, Lifegate oder Handicap International die Grundversorgung und Ausbildung tausender Menschen mit Behinderungen. Gleichzeitig tragen viele dieser Organisationen auch zur Ausbildung von Lehr- und Pflegepersonal für Menschen mit Behinderungen bei, gibt es sonst doch nur SonderpädagogikProgramme an der Birzeit-Universität und der AlQuds-Universität.

Über die Grundversorgung hinaus haben sich in den vergangenen Jahren auch Zusammenschlüsse und Initiativen gebildet, die bindende Maßnahmen für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen einfordern und Gleichstellung für Menschen mit Behinderungen als grundlegendes Menschenrecht durchsetzen wollen.

So hat sich 2017 mit der Palestinian Disability Coalition eine Koalition von 28 Nichtregierungsorganisationen gegründet, die im Westjordanland inklusive Ost-Jerusalem sowie dem Gaza-Streifen die Institutionalisierung inklusiver Maßnahmen anstreben und auf Regierungsebene Lobbyarbeit für bindende Beschlüsse für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in Hinsicht auf medizinische Zuwendung und grundlegende Barrierefreiheit betreiben.

 

Die Herausforderung gesellschaftlichen Bewusstseins

Über Initiativen für strukturelle Maßnahmen hinaus bleibt die Herausforderung, gesellschaftliche Akzeptanz und personelles Bewusstsein für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen auf breiter Ebene in der palästinensischen Gesellschaft zu schaffen. Das gesellschaftliche, das noch immer verbreitet ist, wird zunehmend auch in öffentlichen Kampagnen adressiert, so etwa bei der von der KAS-geförderten Initiative Bihimitkom vom KASPartner PalVision, die junge Palästinenserinnen und Palästinenser mit Behinderungen unterstützt, am öffentlichen Leben zu partizipieren.

Erst wenn der Diskurs über Menschen mit Behinderungen enttabuisiert und das Stigma der Beeinträchtigung adressiert wird, kann die Grundlage für ausreichend Fürsprache und für nachhaltige Veränderungen geschaffen werden.

 

Kurz gesagt

Die aktuelle Situation von Menschen mit Behinderungen in den Palästinensischen Gebieten ist aktuell so prekär, dass eine Umsetzung der Agenda 2030 und der Ziele für nachhaltige Entwicklung in absehbarer Zukunft unrealistisch erscheint. 

Trotz der zivilgesellschaftlichen Bemühungen einer Vielzahl von Organisationen, die sich für die Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderungen einsetzen, können weitreichende Veränderungen nur mit bindenden Maßnahmen auf staatlicher Ebene umgesetzt werden.

Mit dem wachsenden wirtschaftlichen Druck und absehbar steigendem politischen Druck sowie dem erhöhten Gewaltpotenzial durch die Besatzungssituation könnte sich die Situation von Menschen mit Behinderungen weiter verschlechtern, sollten keine umfassenden Maßnahmen ergriffen werden.

 


Statistiken

  • https://www.pcbs.gov.ps/portals/_pcbs/PressRelease/Press_En_3-12-2019-dis-en.pdf
  • https://disabilityundersiege.org/wp-content/uploads/2021/03/Disability-in-oPt-Analysis-of-2017-PCBS-2017-CensusResults-FINAL.pdf

Kritik an Statistiken

  • https://unstats.un.org/unsd/demographic-social/meetings/2017/oman--disability-measurement-andstatistics/Session%206/State%20of%20Palestine.pdf
  • https://documents1.worldbank.org/curated/en/501421472239948627/pdf/WBG-Disability-Study-Final-DRAFT-forTransmission-Oct-31.pdf

Quellen zur Situation von Menschen mit Behinderungen

  • https://www.hi.org/en/country/palestine
  • https://www.qader.org/about-us/601.html
  • https://www.alhaq.org/advocacy/17185.html
  • West Bank and Gaza - Disability in the Palestinian territories : assessing situation and services for people with disabilities (worldbank.org)
  • https://www.hrw.org/news/2020/12/03/gaza-israeli-restrictions-harm-people-disabilities
  • Human Rights Due Diligence of Meta’s Impacts in Israel and Palestine | Reports | Sustainable Business Network and Consultancy | BSR

 

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Referentin für Inklusionsfragen in der Europäischen und Internationalen Zusammenarbeit

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