Freude und Leid lagen am Wahlabend des 24. November eng beieinander. Während die Anhänger des Linksbündnis Frente Amplio (FA) an zentralen Straßenkreuzungen Montevideos fahnenschwenkend ihren Wahlsieg feierten, war im Kommando der Regierungskoalition Katerstimmung angesagt. Zu deutlich hatte ihr Kandidat, Álvaro Delgado, von der bürgerlichen Partido Nacional (PN) in der Stichwahl um das Präsidentenamt gegen den FA-Kandidaten Yamandú Orsi verloren. Nach 98,7 Prozent der ausgezählten Stimmen lag der Kandidat der Opposition mit 49,8 Prozent fast vier Prozentpunkte vor dem Vertreter des Regierungslagers, der auf 45,9 Prozent der Stimmen kam. Damit fiel das Wahlergebnis deutlicher aus als die meisten Umfragen, die ein extrem enges Rennen vorausgesagt hatten. Es war sogar für möglich gehalten worden, dass man mit der endgültigen Bestätigung des Wahlsiegers noch einige Tage warten müsste. Doch noch am Wahlabend gratulierte Álvaro Delgado dem gewählten Präsidenten Yamandú Orsi und erklärte, für gemeinsame Projekte im nationalen Interesse zur Verfügung zu stehen. Auch der amtierende Präsident Lacalle Pou (Partido Nacional) gratulierte seinem designierten Nachfolger und kündigte eine geordnete Amtsübergabe an.
Orsi selbst apellierte im Stile eines Staatsmanns an alle Uruguayer: “Dieses Land muss sich in Richtung Wohlstandes bewegen und ich werde der Präsident des Wachstums sein, des Landes, das nach vorne schaut - und dazu lade ich alle ein“, versprach er vor seinen jubelnden Anhängern.
Nach den drei Regierungsperioden zwischen 2005 und 2020 unter den Präsidenten Tabaré Vázquez und José Mujica kehrt die Linke also nach nur einer Periode in der Opposition an die Regierungsverantwortung zurück. Die Frente Amplio ist ein seit 1971 existierendes Linksbündnis, unter dessen Dach sich eine Vielzahl linker Parteien und Gruppierungen wie die Kommunistische Partei, die Sozialisten, aber auch deutlich gemäßigtere Strömungen sammeln. Der 57-jährige Orsi selbst gilt als maßvoll und dialogbereit. Im Wahlkampf gelang es ihm weitestgehend, inhaltliche Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner zu meiden, bei programmatischen Aussagen vage zu bleiben und nur wenig Medienauftritte zu absolvieren. Besonders mit kritischen Journalisten mied der künftige Präsident Uruguays den Kontakt. Im Bewusstsein, dass er nicht der beste Redner ist, verließ sich Orsi ganz auf die Mobilisierung der Basis der Frente Amplio und auf zahlreiche persönliche Begegnungen mit den Wählern. In einer einzigen gesetzlich vorgeschriebenen Debatte ging er praktisch nicht auf seinen Gegenkandidaten Delgado ein und las seine Programmvorschläge mehr oder minder roboterhaft vor.
Der ausgebildete Geschichtslehrer Orsi gilt bisher auf nationaler Ebene als eher unbeschriebenes Blatt. Allerdings hat er sich seit 2015 als erfolgreicher und beliebter Gouverneur der zweitgrößten Provinz Uruguays, Canelones, einen Namen gemacht. Sein großer politischer Ziehvater ist der ehemalige Präsident José Mujica, dessen parteiinterner Strömung Orsi angehört.
Mit dem Versprechen, allen Uruguayern ein „ruhiges Leben“ bescheren zu wollen, nutzte er als Wahlslogan einen Auszug aus der uruguayischen Nationalhymne: „Sabremos cumplir“ - übersetzt etwa „wir werden Wort halten“. Einige Akzente versuchte er insbesondere bei den Themen Wirtschaft, Sicherheit und sozialer Zusammenhalt zu setzen. Dazu zeichnete seine Kampagne ihn in Videos mit hochgekrempelten Ärmeln und mit dem in Uruguay unvermeidlichen Mate-Tee in der Hand als volksnahen Kandidaten.
Trotz positiver Regierungsbilanz in die Wahlniederlage
Die Wahlniederlage ist für die Regierungskoalition umso schmerzhafter, da die Regierungsbilanz mehr als vorzeigbar ist. So kann sie auf ein erfolgreiches Pandemiemanagement zurückblicken, konnte zu einer Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage und einer deutlichen Inflationsreduktion beitragen und hat den Ausbau der Infrastruktur erheblich vorangetrieben. Die Zustimmungswerte für Präsident Lacalle Pou liegen stabil bei um die 50 Prozent, während nur rund 33 Prozent seine Arbeit negativ beurteilen.
Dem eigenen Naturell entsprechend hatte sich der Präsidentschaftskandidat der Partido Nacional, Álvaro Delgado, im Wahlkampf vor allem als konsensorientierter Regierungspragmatiker präsentiert. Seine wichtigste Botschaft im Wahlkampf war die der Kontinuität der erfolgreichen Regierung des scheidenden Präsidenten Luis Lacalle Pou, welche er als Präsidialamtsminister an wichtiger Stelle mitgestaltete. Delgado setzte ganz auf präsidentiellen Habitus und Institutionalität statt auf programmatische Unterschiede zum politischen Gegner. Er fand so nie wirklich in seine Rolle als Wahlkämpfer. Mit dieser Strategie gelang es ihm nicht, seinen Gegenkandidaten irgendwie aus der Ruhe oder in Verlegenheit zu bringen. Warnungen, diese extrem präsidiale Strategie könnte anhand der nie wirklich überzeugenden Umfragewerte Delgados nicht genug sein, verfingen in seinem Wahlkampfteam offenbar nicht.
Delgado trat so nicht nur nie aus dem Schatten seines übermächtigen Vorgängers Luis Lacalle Pou, sondern versuchte vor allem mit diesem Schatten die Wahl zu gewinnen. Sein einziges Wagnis ging dabei nach Meinung vieler Analysten nach hinten los: Die Wahl der ehemaligen aus dem linken Lager stammenden Gewerkschaftsfunktionärin Valeria Ripoll statt der in den internen Vorwahlen der Partei zweitplatzierten Laura Raffo als Vizepräsidentschaftskandidatin führte in der eigenen Partei zu unnötigen Spannungen und brachte Delgado offensichtlich keine Stimmen aus dem linken Lager.
Unter dem Slogan „Un país en marcha“ (Ein Land in Bewegung) wollte Delgado an die vorsichtigen Reformbemühungen der bisherigen Regierung anknüpfen und versprach, den Ausbau der Infrastruktur, die vorsichtigen Liberalisierungen und die Öffnung des uruguayischen Markts weiterzuführen. Offenbar war all dies zu wenig, um die uruguayische Bevölkerung wachzurütteln und auf einen Programmwahlkampf einzuschwören. Man könnte in gewisser Hinsicht sagen, dass das Regierungslager trotz bester Voraussetzungen, einer beliebten Regierung und einer insbesondere erfolgreichen wirtschaftspolitischen Bilanz gewissermaßen im Schlafwagen in die Niederlage schlitterte.
Die große Schwierigkeit, die enorm starke Stammwählerschaft der Frente Amplio zu besiegen, zeigt sich auch daran, dass selbst der ungleich bessere Kandidat Luis Lacalle Pou nach einer unbeliebten Regierung seinen damaligen Gegenkandidaten 50,8 zu 49,2 Prozent der Stimmen gewann. Es muss in Uruguay also alles zusammenkommen, um die Frente Amplio zu schlagen.
Demokratisches Musterland
Die an Kompromiss und Ausgleich gewöhnte politische Kultur des Landes lässt erwarten, dass trotz des am 1. März 2025 stattfindenden Regierungswechsels eher mit einem moderaten Umsteuern und mit graduellen Anpassungen zu rechnen ist. Auch die schwierigen Mehrheitsverhältnisse im Parlament werden die Frente Amplio immer wieder zwingen, auf die Opposition zuzugehen.
Wie in den vorherigen drei Regierungsperioden der FA ist eine Regierung zu erwarten, die in der Wirtschaftspolitik eher mittig operieren, aber bei einigen sozialpolitischen Themen einen identitätspolitisch-linken Kurs einnehmen wird, für den insbesondere die neue Vizepräsidentin und ehemalige Ministerin sowie Bürgermeisterin von Montevideo, Carolina Cosse, steht. Die vorsichtigen und so dringend notwendigen Strukturreformen der Regierung dürften zumindest nicht weiter vertieft werden. So läuft Uruguay Gefahr, dass die Strukturen weiter verkrusten, der Sozialstaat aufgeblasen wird und die Staatsquote steigt. Wie auch in den vergangenen Frente-Amplio-Regierungen ist in der Außenpolitik eine größere Nähe zu linksautoritären Regimes der Region zu erwarten. Wenn auch eher passiv, so ist Yamandú Orsi doch Mitglied der Grupo de Puebla, einer Gruppe von linken Politikern, die autokratische Narrative aufnimmt und die Regime in Kuba und Venezuela verteidigt. Auch eine freundliche Haltung zu China ist von der neuen uruguayischen Regierung zu erwarten.
Nichtsdestotrotz wird sich an der demokratischen Verfasstheit des Landes nichts ändern. Zweifelsohne ist ein verfassungsgemäßer Regierungswechsel und ein respektvoller Umgang mit den demokratischen Institutionen zu erwarten. Dies zeigte sich am Wahlabend in den wertschätzenden Äußerungen der Spitzenkandidaten über den politischen Gegner. Mit dieser Kultur ragt Uruguay als demokratisches Musterland turmhoch aus einem Kontinent, in dem die Zustimmung zur Demokratie immer weiter abnimmt.
Die künftige Opposition wird sich die Frage stellen müssen, warum es ihr nicht gelungen ist, auf den Erfolgen der Regierung ein an den Urnen erfolgreiches Projekt aufzubauen und wie sie sich programmatisch erneuern kann. Diese Reflexion wird letztlich darüber entscheiden, welche Art von Opposition sie sein wird. Es ist zu erwarten, dass Álvaro Delgado zwar als Senator eine wichtige Stimme bleiben wird, aber andere nach der Niederlage ihren Platz an der Parteisonne beanspruchen könnten. Auch die Frage, ob sich die Koalition aus der bürgerlichen Partido Nacional, der städtisch-liberalen Partido Colorado, der rechtsnationalen Cabildo Abierto und der auf christdemokratische Wurzeln zurückgehende Partido Independiente in ein festes Bündnis verwandeln wird, bleibt offen. Immerhin hat die Opposition bereits jetzt einen Präsidentschaftskandidaten für das Jahr 2029. Praktisch alle politischen Beobachter erwarten, dass Präsident Luis Lacalle Pou dann wieder seinen Hut in den Ring werfen wird. Kurioserweise könnten die Chancen für ihn, die Regierung aus der Opposition heraus wiederzuerringen größer sein, als dies nach einer farblosen Delgado-Regierung gewesen wäre. Aber bis dahin wird noch viel politisches Wasser durch den La-Plata-Fluss an der uruguayischen Küste vorbeifließen.
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