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Länderberichte

Präsidentschaftswahlen in Algerien

von Matthias Schäfer, Adel Ourabah

Erwarteter Sieg auf unerwartete Art und Weise

Am 7. September 2024 waren 24,3 Millionen Menschen, fast jeder zweite Algerier, aufgerufen, den Präsidenten für die Jahre 2024 bis 2029 zu wählen. Die ersten Präsidentschaftswahlen seit dem Hirak, der politischen Bewegung, die im Jahr 2019 eine fünfte Amtszeit des damaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika verhinderte, endeten mit dem erwarteten Erfolg des amtierenden Präsidenten Abdelmadjid Tebboune im ersten Wahlgang. Insbesondere die Höhe der Wahlbeteiligung gibt Anlass zu Spekulationen, denn diese liegt nach den ersten von der Wahlbehörde veröffentlichten Ergebnissen nur bei 23 % und ist damit die geringste in der Geschichte Algeriens. Obwohl sich Präsident Tebboune zweifellos auf eine Unterstützung in Teilen der algerischen Bevölkerung stützen kann, bleibt die politische Legitimation seines Mandats eine bleibende Unbekannte.

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Ein Wahlkampf mit mehreren Kandidaten ohne Konkurrenz

Bei den Wahlen am 7. September 2024, die ursprünglich für Dezember 2024 angesetzt waren und aus nicht näher veröffentlichten Gründen um vier Monate vorverlegt wurden, reichten insgesamt 16 Kandidaten ihre Wahldossiers bei der Unabhängigen Nationalen Wahlbehörde (ANIE) ein. Die ANIE ließ jedoch nur drei Kandidaten zur Wahl zu, darunter den amtierenden Präsidenten Abdelmadjid Tebboune. Abgelehnt wurden unter anderem Zoubida Assoul, Vorsitzende der Partei Union für Wandel und Fortschritt und prominente Aktivistin des Hirak und Vertreterin des Nationalen Komitees für die Befreiung der Gefangenen (CNLD), sowie Saida Neghza, Vorsitzende des Verbands der algerischen Unternehmen (CGEA). Neghza beschuldigte die Nationale Unabhängige Behörde für Wahlen (ANIE) des Wahlbetrugs und behauptete, die Ablehnung ihrer Kandidatur sei Teil eines umfassenderen politischen Manövers. In der Folge wurde Neghza der Fälschung von Unterstützerunterschriften ihrer Kandidatur beschuldigt und unter gerichtliche Kontrolle gestellt. Außerdem wurden Mitglieder ihres Wahlkampfteams inhaftiert.

Nach den Beratungen des Verfassungsgerichts wurden abschließend drei Kandidaten zur Teilnahme an den Wahlen zugelassen: Der erste war der amtierende Präsident Tebboune, der sich als unabhängiger Kandidat präsentierte. Als Kandidat der Vertreter des Pouvoir, die im Hintergrund Geschicke des Landes bestimmen, sicherte er sich die Unterstützung einer breiten Koalition aus 17 politischen Parteien, insbesondere derjenigen, die über eine parlamentarische Mehrheit verfügen, wie der Front de Libération Nationale (FLN), dem Rassemblement National Démocratique (RND), dem Mouvement El-Binaa, sowie mehrerer Organisationen der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft.

Zwei Kandidaten traten bei der Wahl gegen Tebboune an: Zum einen Youcef Aouchiche, der Erste Sekretär der Front des Forces Socialistes (FFS), ein 41-Jähriger Journalist, Abgeordneter im Parlament der Wilaya Tizi-Ouzou. Der FFS ist vor allem unter der kabylischen Bevölkerung die bestimmende politische Kraft. Er vertritt eine demokratisch-progressive Ausrichtung, die Programmatik ist links und laizistisch und wurde in direkter Opposition zum ersten Präsidenten Ahmed Ben Bella gegründet. Zum anderen kandidierte Abdelaali Hassani Cherif, Führer der Bewegung für Gesellschaft und Frieden (MSP), ein 57-jähriger Ingenieur. Die MSP, der algerische Arm der islamistischen Muslimbrüder und im Jahr 1990 mit der Einführung des pluralistischen Parteiensystems gegründet, bezeichnet sich selbst als moderate Opposition und hat den Regierungsparteien FLN und RND stets eine parlamentarische Mehrheit ermöglicht.

Im Wahlkampf setzen sich die beiden Kandidaten programmatisch kaum vom Präsidenten Tebboune ab. Dominierende Themen waren die Stabilität und Sicherheit Algeriens sowie die sozialen Fragen des Kaufkraftverlustes und der mangelnden Arbeitsplätze. Erwähnenswert neu an den Diskussionen war zudem die Ankündigung, in der kommenden Wahlperiode den regionalen und lokalen Einheiten mehr Rechte einzuräumen.

Beide Oppositionskandidaten kritisierten im Wahlkampf das Fehlen fairer Rahmenbedingungen für eine wirklich gleiche Wahl an. Diese Mängel sind in erster Linie auf die Vorzugsbehandlung zurückzuführen, die Tebboune durch seinen Zugriff auf staatliche Mittel seines Wahlkampfs und die umfangreiche Berichterstattung der staatlichen Medien erfuhr. Sie rechtfertigten ihre Teilnahme jedoch mit der Notwendigkeit, sich trotz der vorherrschenden Herausforderungen auf der politischen Bühne zu engagieren. Für die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS), die älteste Oppositionspartei Algeriens, die für ihren häufigen Wahlboykott bekannt ist, könnte diese Teilnahme ein strategischer Schachzug sein, um sich in der politischen Landschaft Algeriens neu zu positionieren und ihre Rolle im Land zu rehabilitieren.  Die Bewegung der Gesellschaft für den Frieden (MSP) rechtfertigte ihre Teilnahme mit den unklaren Ergebnissen ihrer früheren Boykotte der Präsidentschaftswahlen 2014 und 2019.

Trotz der ungleichen Wettbewerbsbedingungen, die tendenziell Kandidaten des herrschenden Regimes begünstigen, ist Tebbounes Beliebtheit in bestimmten Teilen der Gesellschaft unbestreitbar. Obwohl er sein Amt in einem angespannten und kontroversen Umfeld während der Hirak-Proteste 2019 antrat und seine Regierung in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit durch die Auswirkungen von Covid-19 bestimmt wurde, ist es Tebboune gelungen, seine Popularität schrittweise zu steigern. Dieser Popularitätsanstieg ist weitgehend auf seine expansive soziale Umverteilungspolitik zurückzuführen, die insbesondere Wohnungsbauprogramme, Lohnerhöhungen, die Einführung von Arbeitslosenunterstützung und die Beibehaltung großzügiger Subventionsprogramme umfasst.

Diese Politik wurde durch die seit 2021 anhaltend hohen Ölpreise auf dem internationalen Markt erheblich unterstützt. So stellt der Staatshaushalt 2024 mit 113 Mrd. USD das größte Budget in der Geschichte Algeriens dar. Bei einem Bruttoinlandsprodukt von 195 Mrd. USD (2022) wird die Staatsbezogenheit der algerischen Wirtschaft deutlich.

 

Der Streit um die Wahlbeteiligung und die Glaubwürdigkeit der Wahlen

Obwohl der Sieg von Tebboune unbestritten ist, ist hat der gesamte Ablauf die Glaubwürdigkeit dieser Wahlen belastet. Der Präsident der Nationalen Unabhängigen Wahlbehörde (ANIE), Mohamed Chorfi, sprach zunächst von einer „durchschnittlichen Wahlbeteiligung“ von 48 %, anstatt die tatsächlichen Zahlen der Wahlbeteiligung zu nennen. Die auf der ANIE-Website gleichzeitig veröffentlichten Wählerdaten deuten demgegenüber auf eine Wahlbeteiligung von höchstens 24 % hin. Darüber hinaus wiesen die von Chorfi am Tag nach der Wahl bekannt gegebenen vorläufigen Ergebnisse Unstimmigkeiten und Widersprüche in Bezug auf die Wahlbeteiligung und die Auszählungsberichte in vielen Provinzen auf. Den ersten Ergebnissen zufolge erhielt Tebboune 94,65 % der Stimmen, gefolgt von Abdelaali Hassani Cherif mit 3,17 % und Youcef Aouchiche mit 2,16 %.

In einem beispiellosen Schritt schloss sich die Wahlkampfleitung von Tebboune den beiden anderen Kandidaten an und gab eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie „Unregelmäßigkeiten und Widersprüche bei den verkündeten Ergebnissen“ anprangerte.  Die ANIE gab daraufhin eine Erklärung ab, in der sie einräumte, dass sie nicht alle Berichte über die Stimmenauszählung aus allen Provinzen erhalten habe.

Dies veranlasste die beiden unterlegenen Kandidaten, die Ergebnisse mit der Begründung anzufechten, dass sie erheblich von den offiziellen Auszählungsberichten abweichen würden, die von verschiedenen Wahlzentren im ganzen Land übermittelt wurden. Das vom Verfassungsgericht nahezu zwei Wochen nach den Wahlen verkündete Endergebnis sorgte für weitere Unklarheiten. Demnach wurde Tebboune mit 7.976.291 Stimmen gewählt, was nun 84,30 % der Stimmen entspricht. Der Kandidat Abdelaali Hassani Cherif erhielt 904 642 Stimmen, 9,56 %, während der Kandidat Youcef Aouchiche 580 495 Stimmen erhielt, also 6,14 %. Darüber hinaus verdoppelte sich die Wahlbeteiligung erneut und erreichte 46,10 %. 

Die erhebliche Diskrepanz zwischen den von der ANIE verkündeten vorläufigen Ergebnissen und den vom Verfassungsgericht verkündeten Ergebnissen hat die Legitimität des gesamten Wahlprozesses in Zweifel gezogen. Eine mögliche Ursache für die Entscheidung kann darin liegen, dass die Wahlkampfkosten der Kandidaten nach dem algerischen Wahlgesetz nur erstattet werden, wenn der Kandidat über 5 % der Stimmen erzielt. Somit würden sich mit dem vom Verfassungsgericht festgestellten Ergebnis alle Kandidaten zufriedengeben können.

Unabhängig von diesem Ablauf ist die Höhe der Wahlbeteiligung eine Hypothek. Realistischerweise beträgt sie 24 % und ist damit die niedrigste in der Geschichte der algerischen Präsidentschaftswahlen. Diese Wahlbeteiligung macht die Wahl nicht ungültig, stellt aber einen Rückschlag für Tebbounes politische Agenda dar, insbesondere angesichts der großen Koalition, die seine Kandidatur unterstützt. Darüber hinaus hat Tebboune nur 300.000 Stimmen mehr erhalten als bei der Wahl 2019, was einen minimalen Zuwachs bedeutet.

Die Wählerabstinenz legt zwei Dynamiken nahe: Erstens haben die seit 2020 durchgeführten politischen Reformen das Vertrauen der Öffentlichkeit in die gewählten Institutionen nicht (wieder-) herstellen können. Dieser Mangel an öffentlichem Vertrauen wurde auch durch die niedrige Wahlbeteiligung sowohl beim Verfassungsreferendum 2020 als auch bei den Parlamentswahlen 2022 deutlich, wichtige Meilensteine in Tebbounes Reformagenda. Auch hat der Ansatz des Präsidenten nicht verfangen, sich als unabhängiger Kandidat zu präsentieren, zivilgesellschaftliche Organisationen auf Kosten der traditionellen Parteien mit staatlichen Mitteln zu umhegen und damit die Teilhabe speziell der jungen Generation zu mobilisieren.

Zweitens unterstreicht das schlechte Abschneiden auch der beiden algerischen Oppositionsparteien, die mit eigenen Kandidaten angetreten sind, eine Zersplitterung und zunehmende Abkopplung der parteipolitischen Alternativen Algeriens. Es ist ihnen in fünf Jahren nicht gelungen, aus dem Schwung des Jahres 2019 Kapital zu schlagen und eine überzeugende Alternative zu präsentieren, die die Algerier politisch mobilisieren könnte. Selbst wenn anzuerkennen ist, dass das restriktive politische und mediale Umfeld, in dem die Oppositionsparteien agieren, einen politischen Wettbewerb erschwert, so ist auch diesen Akteuren keine Verbindung zur Bevölkerung und der algerischen Zivilgesellschaft gelungen.

 

Was ist von Tebbounes zweiter Amtszeit zu erwarten?

Von der Wiederwahl Tebbounes für eine zweite Amtszeit gehen zwei wesentliche Signale aus, die repräsentativ für das aktuelle politische System Algeriens sind, in dem das Militär der Einflussfaktor auf die strategische Ausrichtung des Landes ist.

Erstens dürfte der innenpolitische Status quo fortbestehen, so dass weitergehende demokratische Reformen nicht zu erwarten sind. Bei seinem Amtsantritt im Jahr 2019 erklärte Tebboune, dass seine Amtszeit als Übergangsphase dienen würde, um die Macht von der alten politischen Generation, die das Land seit der Unabhängigkeit regierte, auf eine neue Generation politischer Führungspersonen zu übertragen. Seine ausgehende Amtszeit signalisiert jedoch, dass das bestehende Regierungssystem keine wirkliche Absicht oder Vorstellung davon hat, die Macht zu teilen. Es ist nicht zu erwarten, dass die kommende Legislaturperiode den Weg für eine neue Generation von politischen Führungspersönlichkeiten ebnen wird, weder auf Ebene der Verwaltung noch im Parteiensystem. Im Gegenteil, Gesichter, die für eine Veränderung, sei es aus der Mitte oder auch von außerhalb des Systems stehen könnten, wurden vor allem während des Wahlkampfs eingeschränkt oder gemieden.

Während seiner Wahlkampagne erklärte Präsident Tebboune, dass seine zweite Amtszeit eine „der wirtschaftlichen Entwicklung par excellence“ sein wird, was darauf hindeutet, dass der Prozess der politischen und institutionellen Reformen abgeschlossen ist.  Um den Status quo aufrechtzuerhalten, wird das Regime seine Umverteilungspolitik intensivieren, wie die Wahlversprechen Tebbounes zur Aufrechterhaltung massiver sozialer Subventionen, insbesondere in Form von Wohnungsbauprogrammen und Arbeitslosenunterstützung, bereits zeigen. Diese Versprechen sind mit erheblichen öffentlichen Ausgaben verbunden, die von den weiterhin hohen Ölpreisen auf dem Weltmarkt abhängen. Darüber hinaus deutet dieser Ansatz auf einen weiteren Aufschub bei der Umsetzung von Strukturreformen hin, die für die Diversifizierung der algerischen Wirtschaft und die Abkehr vom Rentiermodell unerlässlich sind - ein System, das nicht nur sozioökonomische Herausforderungen im Hinblick auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und neue Wertschöpfungsketten der algerischen Wirtschaft hat, sondern das auch den Übergang zu einer ressourcenschonenderen Produktion und Energieversorgung erschwert. Darüber hinaus kann die Umverteilungspolitik zwar zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens beitragen, doch das Fehlen einer erkennbaren wirtschaftsreformerischen Ausrichtung in Tebbounes Programm kann zu Spaltungen innerhalb der ohnehin heterogenen politischen Koalition und der gesellschaftlichen Gruppen führen, die seine Regierung unterstützen.

Zweitens ist auf außenpolitischer Ebene zu erwarten, dass die selbstbewusste Außenpolitik, die Tebbounes erste Amtszeit kennzeichnete, fortgesetzt wird, insbesondere angesichts der sich verschlechternden Beziehungen zu Frankreich, die jüngst durch die pro-marokkanische Positionierung in der Westsahara-Frage weiter verschärft worden sind. Die Verbesserung der komplexen und zunehmend angespannten Beziehungen zu den wichtigsten Staaten der Sahelzone, insbesondere Mali und Niger, wird eine weitere Priorität auf Tebbounes diplomatischer Agenda sein. In diesem Zusammenhang wird es von Bedeutung sein, wie Algerien das heikle Gleichgewicht zwischen einerseits der Aufrechterhaltung seiner Beziehungen zu Russland und der Türkei und deren militärischer Beteiligung an den Junta-Regierungen in Mali und Niger, und anderseits den damit zunehmend verbundenen eigenen Sicherheitsrisken an Algeriens südlicher Grenze, austarieren wird.

Letztlich ist davon auszugehen, dass die selbstbewusste diplomatische Rhetorik nicht nur eingesetzt wird, um die strategischen Interessen Algeriens auf internationaler Ebene zu formulieren, sondern weiterhin ein zentrales Instrument zur inneren Legitimierung des Regimes bleiben wird.

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