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Top-Kandidaten
der Präsidentschaftswahl 2018 in Brasilien
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Insgesamt wurden dem Obersten Wahlgericht bis zum 15. August 2018 13 Kandidaturen gemeldet, die höchste Anzahl seit der Redemokratisierung Brasiliens. 1989 wurden 21 Kandidaturen registriert. Nachfolgend werden die in den Umfragen aussichtsreichsten Kandidaten in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt (Bearbeitungsstand ist der 12. September 2018).
GERALDO ALCKMIN
(*1952), PSDB, gelernter Anästhesist, gilt mit über 40 Jahren Erfahrung in verschiedenen Wahlämtern der Exekutive als Bürgermeister, Vize-Gouverneur von São Paulo (1995-2001) und schließlich Gouverneur (2001-2002, 2003-2006, 2011-2014, 2015-2018) sowie in der Legislative als Stadtrat (1973-1977), Mitglied im Parlament des Bundesstaates von São Paulo (1983-1987) und des brasilianischen Abgeordnetenhauses (1987-1995) sowohl in der Landes- als auch der Kommunalpolitik als erfahrener und souveräner Politiker. Nachdem er seine Parteikarriere in der MDB begonnen hatte, zählte er zu den Mitbegründern der PSDB, deren Vorsitzender er seit Dezember 2017 ist. Den bevölkerungsreichsten Bundesstaat São Paulo regierte Alckmin bis April 2018 sehr erfolgreich und genoss als Gouverneur positive Zustimmungswerte. Dabei zeichnete sich der aus einer ländlichen Region des Bundesstaates São Paulo stammende Präsidentschaftskandidat, der 2006 an einem ersten Versuch in den Präsidentenpalast einzuziehen scheiterte, durch Sachverstand sowie eine besonnene und ruhige Handlungsweise aus. Kritiker legen ihm seine ruhige Art hingegen als langweilig und unauffällig aus (portugiesisch: picolé de chuchu). Angesichts des fragmentierten Kongresses ist Verhandlungsgeschick für die Regierbarkeit der größten Demokratie Südamerikas unabdingbar. Alckmin traut man zu, in dem zersplitterten Kongress Mehrheiten zu organisieren und so die Regierbarkeit Brasiliens in den kommenden Jahren zu gewährleisten. Der Anteil seiner neun Parteien zählenden Wahlkampfkoalition von 44% an der kostenfreien Werbezeit im Fernsehen und im Radio ist ein großer Trumpf. Obwohl er sich dazu mit zum Teil nachweislich korrupten Vertretern des sogenannten ''Centrão'', also dem großen Parteienblock des Mitte-rechts Spektrums im Kongress, zusammengetan hat, beweist die Bildung der größten Koalition für den Wahlkampf Alckmins Vermögen, möglichst viele politische Kräfte der fragmentierten Parteienlandschaft zu integrieren. Doch die Liste der Herausforderungen für den moderaten Kandidaten ist lang: Nicht nur hat das Ansehen seiner Partei durch Korruptionsvorwürfe gegenüber dem ehemaligen Parteivorsitzenden Aécio Neves stark gelitten, auch wird Alckmins Name selbst in Verbindung mit Unregelmäßigkeiten bei der Wahlkampffinanzierung genannt. Zudem muss er den Eindruck abschütteln, er mache als Teil der ''velha política'' „politics as usual“. Auch dass der ehemalige Bürgermeister von São Paulo, João Doria, der nun das Amt des Gouverneurs von São Paulo anstrebt, den Bürgermeisterposten nach nur 15 Monaten verlassen hat, könnte mit Blick auf dessen Glaubwürdigkeit nicht nur problematisch für Doria selbst werden, sondern auch für Alckmin. Letzterer hat Doria immer unterstützt. Mit Ernsthaftigkeit sowie Management-Kapazitäten und einer tendenziell liberalen Wirtschaftspolitik, einschließlich der Entbürokratisierung, punktet Alckmin vor allem bei Wählern mit höheren Einkommen.
JAIR BOLSONARO
(*1955), PSL, ehemaliger Hauptmann des brasilianischen Militärs, wirbt mit dem Motto „Brasilien über alles und Gott über alle“ (portugiesisch: „Brasil acima de tudo e Deus acima de todos“). Der das Militär glorifizierende Evangelikale kandidiert erstmalig um das Präsidentenamt und verfügt über keine Erfahrung in einem Wahlamt der Exekutive. Seine politische Karriere startete Bolsonaro 1988 als Stadtrat der Stadt Rio de Janeiro. Seit 1991 ist er gewähltes Mitglied im Abgeordnetenhaus, versäumte jedoch zahlreiche Sitzungen – teilweise unentschuldigt. Obwohl er in sieben Legislaturperioden weniger mit konkreten Gesetzesvorhaben als mit unzähligen polemischen und wechselnden Aussagen auf sich aufmerksam machte und neun verschiedenen Parteien des rechten Spektrums angehörte, nehmen ihn viele Brasilianer als Outsider der ''velha política'', also der traditionellen Politik à la „politics as usual“, wahr. Bolsonaro selbst versucht diese Wahrnehmung aktiv zu steigern, indem er den Eindruck erweckt, er sei in der Vergangenheit – trotz seiner sieben Mandate als Abgeordneter – von der Politik ausgeschlossen worden. Bei der Bekanntgabe seines Vize, dem pensionierten General Mourão, äußerte der homophobe, frauenfeindliche und rassistische Jair Bolsonaro, dass die Generäle durch eine demokratische Wahl in diesem Jahr an die Macht zurückkehrten. Mit 5,4 Millionen Facebook-Fans (zum Vgl.: Lula 3,5 Mio; Marina Silva 2,3 Mio; Alckmin 930.000; Ciro Gomes 310.000, Henrique Meirelles 200.000) und zahlreichen Whatsapp-Gruppen, die als Multiplikatoren dienen, dominiert Bolsonaro den virtuellen Wahlkampf. Obwohl er sich bis Sommer 2018 wenig bei realen Veranstaltungen zeigte, war er dennoch landesweit neben Lula der am meisten bekannte und kommentierte Anwärter auf die Präsidentschaft. Zunehmend nimmt er jetzt auch öffentliche Auftritte wahr. Bei Unwissenheit in Sachgebieten, allen voran der Wirtschaft, bedient er sich gerne einer Fußball-Metapher: Als Präsident würde er sich als Trainer des Landes sehen und die besten Minister als Spieler einsetzen, u.a. aus dem Militär. Trotz bisher kaum vorhandener, bestenfalls vager Politikvorschläge und extremer Aussagen ist Bolsonaro – erneut neben Lula – der einzige Kandidat, der seine Anhänger scheinbar „begeistert“. Dies gelingt ihm, indem er seine Kandidatur als heroische Selbstaufopferung darstellt, seine Sprache durch Reduktion und Provokation einfach und klar hält und extreme Positionen hinter Euphemismen versteckt. Weil die Schuld immer bei „den anderen“ liegt, streichelt er das Selbstbewusstsein seiner Anhänger. Viele derer haben sich jahrelang nicht für Politik interessiert, verteidigen ihn jetzt jedoch vehement, indem sie seine Aussagen relativieren: Wer Bolsonaros Aussagen nicht dechiffrieren könne, dem fehle Humor und die Einsicht, nicht alles wörtlich zu nehmen. Auch das Recht auf freie Meinungsäußerung bietet oftmals einen guten Ausweg. Wird Bolsonaro jedoch Zielscheibe eines vermeintlichen Witzes, endet der Spaß für diesen und seine Anhänger. Es folgt die Inszenierung als Opfer der Presse und aller anderen politischen Lager. Viele Anhänger Bolsonaros fühlen sich „vergessen“ von der Politik und fragen entweder „Was wird mit uns“ in einer globalisierten Welt oder fürchten eine Verschlechterung ihres aktuellen Status Quo. Sie misstrauen nicht nur der Politik und politischen Parteien, sondern ebenso anderen Institutionen. Mit Beginn des Wahlkampfes Mitte August liegt Bolsonaro in aussichtsreicher Position. Es ist nicht klar, ob ein virtueller Wahlkampf und Teilnahmen an TV-Debatten seine schwache Parteibasis, die mit 1% gegen Null gehende kostenlose Werbezeit (ca. 9 Sekunden) und bei aller Unterstützung auch große Ablehnung, vor allem unter den Wählerinnen, aufwiegen können. In einem fragmentierten Kandidatenfeld würde er in aussichtsreicher vorderer Position von vielen Nullstimmen oder Enthaltungen profitieren. Beobachter sehen in Bolsonaro eine Bedrohung für die Demokratie: Auch wenn er nicht Brasiliens neues Staatsoberhaupt werde, habe er extreme Positionen bereits jetzt salonfähig gemacht.
CIRO GOMES
(*1957), PDT, studierter Jurist und Absolvent von Wirtschaftskursen in Harvard, hatte in seiner über 30-jährigen politischen Karriere eine Vielzahl an Ämtern inne. Während er als Mitglied des Parlaments des nordöstlichen Bundesstaates Ceará (1983-1988) sowie des Abgeordnetenhauses (2007-2011) Vertreter der Legislative war, sammelte er als Bürgermeister von Fortaleza (1989-1990) und Gouverneur des nordöstlichen Bundesstaates Ceará (1991-1994) Erfahrung in Wahlämtern der Exekutive. Zudem war er Bundesminister der Finanzen für 117 Tage (1994-1995) unter Fernando Henrique Cardoso und Bundesminister der nationalen Integration (2003-2006) unter Lula da Silva. Beide Versuche, in den Präsidentenpalast einzuziehen, scheiterten (1998, 2002). Im Bundesstaat São Paulo geboren, ist Ciro Gomes Familie in Ceará politisch beheimatet, einer in besonderem Maße von Personalismus geprägten Region. Über die Jahre gehörte Ciro Gomes sieben Parteien an und bewegte sich dabei vom rechten zum linken politischen Spektrum. Beobachter bezeichnen ihn als Opportunisten und als Hitzkopf, der schnell laut werde. Seine Befürworter bescheinigen ihm eine pragmatische Haltung. Implementierte er als Minister noch den Real-Plan zur Bekämpfung der Inflation in Brasilien, setzt er im Wahlkampf 2018 auf eine Offensive von links. Hierzu zählen die Abschaffung der Obergrenze für Staatsausgaben sowie eine Änderung der Arbeitsrechtsreform (bisher ohne konkreten Alternativvorschlag). Die ausstehende Rentenreform soll an ein Plebiszit geknüpft werden. Eine etwaige Privatisierung vom halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras solle rückgängig gemacht werden. Ausländische Investoren verschreckt Gomes durch Aussagen wie diese, dass alle Ölfelder, die seit der Amtsenthebung der ehemaligen Staatspräsidentin Dilma Rousseff an das Ausland verkauft worden seien, enteignet würden. Die Amtsenthebung bezeichnet er als ''golpe'', also als Putsch. Mit der Ankündigung, der Dieselpreis werde mit ihm als Staatspräsident die Marke von 3 BRL (ca. 0,75€) nicht überschreiten, könnte er nach dem Streik der Fernfahrer im Mai 2018 deren Sympathien gewinnen. Gleichzeitig wird die Subventionierung des Dieselpreises an alle Brasilianer weitergegeben. Aufgrund seines Werdegangs äußern Beobachter Restzweifel, ob Ciro Gomes aus strategischen Gründen lediglich wie ein Linker redet oder ob er im Erfolgsfalle seine Offensive von links auch in die Tat umsetzt. In Fernsehdebatten ist seine Sprache oft technisch, voller Daten und Fakten und setzt einen hohen Wissensgrad voraus. Bei öffentlichen Auftritten sicherte er sich zumeist den tosenden Applaus des Publikums, seine Rede vor dem Dachverband der Industrie (portugiesisch: Confederacão Nacional de Indústria, CNI) brachte ihm hingegen Buhrufe ein. Der Zusammenschluss des linken Lagers ist Ciro Gomes missglückt. Obwohl seine Partei im Gegensatz zu den Parteien von Marina Silva und Jair Bolsonaro über eine Struktur und eine Basis verfügt, wird er den Wahlkampf isoliert bestreiten müssen. Seine TV-Zeit beträgt 37 Sekunden pro Werbeblock. Die Zeitschrift Veja zeigte im August, dass 40% der Brasilianer nicht wüssten, wer Ciro Gomes ist.
FERNANDO HADDAD
(*1963), PT-Mitglied seit 1983, studierter Jurist, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler sowie Professor an der Universität von São Paulo und seit dem 11. September 2018 als offizieller Präsidentschaftskandidat der Arbeiterpartei beim TSE gemeldet, ersetzt den von der Obersten Wahlgerichtsbarkeit für unwählbar erklärten Lula da Silva. Den Ausschluss von Lulas Kandidatur begründeten die Richter des Wahlgerichts mit sechs zu einer Stimme mit dem Gesetz der sogenannten Ficha Limpa. Demnach ist ein durch ein Richterkollegium strafrechtlich verurteilter Kandidat für einen Zeitraum von acht Jahren unwählbar, auch wenn der betroffene Kandidat noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft hat. Da die PT die vom Wahlrecht vorgesehene Frist von zehn Tagen zur Nachnominierung eines Kandidaten bis zum letzten Tag ausgenutzt hat, bleiben dem bisherigen Vize-Kandidaten Haddad weniger als 30 Tage bis zum 1. Wahlgang am 7. Oktober, um sich der Wählerschaft als offizieller Präsidentschaftskandidat zu präsentieren. Die späte Nachnominierung war ein Teil der Strategie der PT, um den Namen Lula längst möglich im Rennen zu halten und um bestenfalls sogar sein Foto in die elektronische Wahlurne einzuspeisen. Der Plan B der PT, namentlich Fernando Haddad mit seiner Vize-Kandidatin Manuela D´Avila, bewirbt sich zum ersten Mal um das höchste Staatsamt. Er übernimmt dafür den Wahlslogan des bisherigen Kandidaten Lula: „Brasilien wieder glücklich“ (portugiesisch. „O Brasil Feliz de Novo“). Als Bürgermeister von São Paulo (2013-2016) sammelte Haddad Erfahrung in einem Wahlamt der Exekutive auf kommunaler Ebene. Der Versuch seiner Wiederwahl scheiterte 2016: Der Kandidat der PSDB, João Doria, gewann den ersten Wahlgang mit der absoluten Mehrheit der Stimmen. Vor seinem Amt als Bürgermeister arbeitete Haddad ab 2003 den für Planung und für Bildung zuständigen Bundesministern als Sonderberater und als Staatssekretär zu. Als Bildungsminister (2005-2012) war Haddad schließlich Teil der Regierung Lula. Der im Sommer 2018 vielen Wählern Lulas (noch) unbekannte Haddad macht spätestens seit der offiziellen Registrierung Lulas am 15. August bei dem Obersten Wahlgericht einen schwierigen Spagat: Auf der einen Seite ist er darauf angewiesen, einen erheblichen Teil der Stimmen der treuen Lula-Wähler auf sich zu vereinen bzw. zu erben – sein mit Abstand größter Trumpf – denn für viele Anhänger ist Lula die PT in Person. So erscheint sein Name allein in dem 72 Seiten umfassenden Wahlprogramm der PT „O Plano Lula de Governo 2019-2022“ 159 Mal. Ein Stimmentransfer ist jedoch auch nach der offiziellen Inthronisierung durch Lula nicht automatisch garantiert. Bereits die Kandidatur der ehemaligen Staatspräsidentin Dilma Rousseff wurde 2010 von ihrem Vorgänger Lula in Stellung gebracht; Rousseff lag in Umfragen jedoch lange zurück. Der Unterschied zum Jahr 2018 besteht darin, dass Lula nicht gemeinsam mit Haddad auftreten kann. Stattdessen fungiert letzterer als Sprachrohr Lulas. Als Teil von Lulas Anwaltsteam hatte Haddad in den vergangenen Monaten nahezu uneingeschränkten Zugang zum inhaftierten Lula. Bei der offiziellen Verkündung des neuen Präsidentschaftskandidaten Haddad am 11. September 2018 wurde ein von Lula verfasster Brief verlesen. Die Botschaft war eindeutig: Der Ersatzkandidat Haddad wurde von Lula persönlich ausgewählt. Es handele sich nicht um eine Entscheidung der Partei. Auf der anderen Seite muss der Kandidat von Lulas Gnaden sehen, wie und inwiefern er am Wahltag in einem fragmentierten linken Lager – hauptsächlich umkämpft von Haddad, Ciro Gomes und Marina Silva - als eigene Person wiedererkennbar ist. Schließlich erfährt sein Schatten und Mentor Lula nicht nur viel Zuspruch; über ein Drittel der Wähl er lehnte Lula im August in einer Umfrage des Umfrageinstituts Datafolha vehement ab.
Die Kandidatur von LUIZ INÁCIO "LULA" DA SILVA (*1945), PT, wurde vom TSE für unzulässig erklärt (''ficha suja''):
Wegen passiver Korruption und Geldwäsche in zweiter Instanz – und somit noch nicht rechtskräftig - zu einer über zwölfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, trat der ehemalige Staatschef (2003-2010) die Haft im April 2018 an. Auf dem Parteitag, der ihn im August 2018 als Kandidaten bestimmte, war er abwesend, sodass sich die Delegierten Lula-Masken überstreiften. Bei allen Präsidentschaftswahlen seit der Redemokratisierung Brasiliens war der Name Lula präsent: 1989, 1994 und 1998 verlor er, 2002 und 2006 ging er siegreich aus den Wahlen hervor und inthronisierte 2010 seine Nachfolgerin Dilma Rousseff. Die siegreiche Rousseff unterstützte er ebenso 2014. Den Präsidentenpalast verließ Lula mit hohen Zustimmungswerten. In dem zersplitterten Kongress verstand er es, Mehrheiten zu organisieren und so die Regierbarkeit Brasiliens zu gewährleisten. Seine Amtszeit ist bis heute mit den Jahren des Rohstoff-Booms, dem - zumeist auf den Konsum begrenzten und wenig nachhaltigen - Aufstieg vieler Brasilianer in die Mittelschicht sowie Brasiliens Wahrnehmung als internationalem Player auf der Weltbühne verbunden. Der aus dem nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco stammende Lula wurde im Alter von zehn Jahren alphabetisiert und besuchte eine Pflichtschule. Als Metallarbeiter wurde er 1975 zum Vorsitzenden der Gewerkschaft São Bernardo do Campo e Diadema gewählt. Die Frage, ob der ehemalige Staatschef Straftäter oder politisch Verfolgter ist, spaltet die Brasilianer und polarisiert das Land. Am 31. August 2018 hat das Oberste Wahlgericht (TSE) seine Kandidatur für unzulässig erklärt. Die Arbeiterpartei hat die Strategie verfolgt, Lula längst möglich im Rennen zu halten. Der ehemalige Bildungsminister (2005–2012) und Bürgermeister von São Paulo (2013-2016), Fernando Haddad, wurde ursprünglich als Lulas Vize nominiert. Seine Funktion ist mit der eines Sprachrohrs für den inhaftierten Kandidaten vergleichbar, weil er ihm außerhalb des Gefängnisses eine Stimme verleihen soll. Seit dem 11. September 2018 ersetzt der ursprüngliche Vize-Kandidat Lula. Der Wahlkampfkoalition stehen knappe zwei Minuten und 20 Sekunden Werbezeit zu.
HENRIQUE MEIRELLES
(*1945), MDB, ehemaliger Präsident der Brasilianischen Zentralbank (2003-2011) und Finanzminister (2016-2018) in dem Kabinett von Michel Temer, stellt sich erstmalig zur Wahl für ein Amt der Exekutive. Bis zur Registrierung seiner Kandidatur stagnierte er in allen Umfragen bei 1%. Gegen einen eigenen Präsidentschaftskandidaten der MDB – und somit gegen seine Kandidatur – gab es lange parteiinternen Widerstand, vor allem von den sogenannten Caciques (wörtlich: Häuptlinge, gemeint sind Parteiführer) aus dem Nordosten. Den Brasilianern und den internationalen Märkten ist Meirelles als Technokrat bekannt, der vernünftige und solide Wirtschaftsreformen umsetzt. Dazu zählen in seiner Zeit als Finanzminister die Einführung einer Obergrenze für Staatsausgaben sowie die umstrittene Arbeitsreform. Mit dem Slogan „Chama o Meirelles“ (deutsch: „Ruf Meirelles“) will er sich als Politiker präsentieren, der sich auch in schwierigen Zeiten der Verantwortung stellt. Weil er im Wahlkampf Distanz zu dem im Volk historisch unbeliebten Staatspräsidenten Temer sucht, stellt er seine Erfolge als Finanzminister - dass er Brasilien mit dringend benötigten Reformen durch die schwerste Rezession in der Geschichte des Landes manövrierte - seit Sommer 2018 eher in den Hintergrund. Stattdessen betont er immer öfter, dass er als Präsident der Zentralbank unter dem damaligen, beliebten Präsidenten Lula die Wirtschaftspolitik gestaltete, infolge derer viele Millionen Brasilianer in die Mittelklasse aufstiegen. Trotz dieser Bestrebungen ist Meirelles (wahrgenommene) Nähe zu Temer seine größte Hypothek. Zudem ist sein Name der Wählerschaft eher wenig bekannt, nicht zuletzt weil er sich erst ein einziges Mal zu einer Wahl stellte, nämlich im Jahr 2002 zum Abgeordnetenhaus als Kandidat für die PSDB. Viele Jahre war er parteilos, bevor er 2011 der PSD und erst im April 2018 der MDB beitrat. Seine drei stärksten Pluspunkte sind, dass ihm keine Korruptionsvorwürfe anlasten, er über große Expertise in Wirtschafts- und Finanzfragen verfügt und gute Kontakte zum Unternehmertum hat. Er wird knappe zwei Minuten im TV pro Werbeblock und über 153 Werbespots erhalten.
MARINA SILVA
(*1958), REDE, studierte Historikerin evangelikalen Glaubens aus dem nördlichen Bundesstaat Acre, ist im linken Parteienspektrum zu verorten. Als Mitglied der Arbeiterpartei (PT) übte sie diverse politische Ämter aus. So war sie Stadträtin (1989-1990), Abgeordnete des Parlaments von Acre (1991-1995) sowie Senatorin für den Bundesstaat Acre (1995-2011 mit Unterbrechungen). Zwar war Marina Silva durch ihre Ernennung zur Umweltministerin (2003-2008) Teil der Regierung, Erfahrung in einem Wahlamt der Exekutive kann sie jedoch nicht vorweisen. Ihrem Austritt aus Lulas Regierung im Jahr 2008 folgte ein Jahr später ihr Austritt aus der Arbeiterpartei. Dem linken Spektrum gehört sie jedoch bis heute an. Um das höchste Staatsamt kandidierte sie bereits 2010 für die Grüne Partei und 2014 für die PSB. Beide Male belegte sie den dritten Platz. Nun kandidiert sie erstmals für die von ihr 2013 gegründete Partei REDE, welche 2014 noch nicht beim Obersten Wahlgericht registriert war. Im Gegensatz zu Ciro Gomes versucht sich Marina Silva mit einem liberalen Diskurs als wählbare Option für die Märkte zu positionieren. So wolle sie Umwelt, das von ihr hauptsächlich besetzte Thema, und Wirtschaft, einschließlich Agrobusiness, besser miteinander verbinden. Sie spricht sich auch für die Umsetzung der ausstehenden Rentenreform aus, allerdings müsse die Art und Weise noch definiert werden. Obwohl sie für ihre Sache - die Umwelt - eintritt, gilt sie als wenig charismatisch. Nachdem die aus sehr einfachen Verhältnissen stammende Präsidentschaftskandidatin erst im Alter von 16 Jahren alphabetisiert worden ist und in jungen Jahren Hepatitis und andere Krankheiten überwunden hat, sehen darin viele die Grundlage für ihre heutige persönliche Stärke. Angesichts der eher konservativen brasilianischen Gesellschaft und Wählerschaft bezweifeln Beobachter, dass Marina einen Vorteil daraus schöpfen könnte, sich als einzige Frau im Feld der Spitzenkandidaten zu positionieren. Dennoch schneidet sie bei Wählerinnen und jungen Menschen aller Bildungsschichten im Alter von 16-34 Jahren in Umfragen gut ab. Sie ist nicht in den Lava-Jato-Korruptionsskandal verwickelt und erfreut sich in einem Land kontinentaler Ausmaße relativ großer Bekanntheit. Zwei Labels haften ihr an: Zum einen sei sie nur zu den im vier Jahresrhythmus wiederkehrenden Wahlen präsent. An der öffentlichen Debatte in den Zwischenwahljahren nehme sie praktisch nicht teil. Zum anderen habe sie in vielen Fragen keine Meinung oder Haltung. Eine Position nehme sie - wenn überhaupt erst - ein, wenn sich die öffentliche Meinung bereits gebildet habe. Ihre mitunter sehr differenzierten Ansichten bei komplexen Themen, zum Beispiel bei dem Thema Abtreibung in Brasilien, stehen dem zweiten Label allerdings entgegen. Praktisch ohne Parteibasis, mit verschwindend geringer Werbezeit und finanziellen Ressourcen ist es schwierig ihre Sichtbarkeit weiterhin zu gewährleisten. Aus Überzeugung heraus sei sie, wie sie sagt, keine Wahlkampfkoalitionen aus machtpolitischen Erwägungen eingegangen. Damit ist ihre Einstellung als ideell zu bewerten, jedoch dürfte sie sich im Falle eines erfolgreichen Wahlausgangs schwer tun, mit dem zersplitterten Kongress zu arbeiten. Marina Silva setzt darauf, zu den zusätzlichen 20 Millionen Wählern aus den Wahljahren 2010 und 2014 die Stimmen jener einzusammeln, die von der traditionellen Polarisierung zwischen der linken Koalition um die PT und der rechten Koalition um die PSDB müde sind.