1. Schweden war lange bekannt für eine sehr liberale Zuwanderungspolitik. Im Jahr 2016 kam es unter sozialdemokratischer Führung jedoch zu einem Kurswechsel hin zu einer restriktiveren Politik, der aus der politischen Mitte heraus getragen wurde. Können Sie diesen Kurswechsel, der ja auch bis heute gesellschaftlich und politisch verhandelt wird, beschreiben?
Das Jahr 2016 stellt eine Zäsur dar. In den Jahren 2015 und 2016 erfolgte eine sehr hohe Fluchtzuwanderung nach Schweden. 160.000 Asylbegehrende kamen in nur einem Jahr. Für ein Land wie Schweden, das nur circa zehn Millionen Einwohner hat, ist das sehr viel. Das Land musste damals feststellen, dass es mit einer Zuwanderung in einer solchen Größenordnung schlicht überfordert war. Die damals regierenden Sozialdemokraten erklärten daraufhin, dass sie einen Kurswechsel in der Asylpolitik vollziehen wollten. Dieser wurde in der politischen Mitte ausgehandelt und materialisierte sich dann in neuer, restriktiverer Gesetzgebung. In Teilen trat diese bereits 2016 als Übergangsgesetz in Kraft, 2021 dann als reguläres Gesetz. So bekommen Personen mit Schutzanspruch nun beispielsweise nicht mehr direkt unbefristete Aufenthaltserlaubnisse, sondern zunächst nur Aufenthaltserlaubnisse für ein oder drei Jahre.
2. Wie ist dieser Politikwechsel im schwedischen politischen Kontext einzuordnen? Was sind seine tiefer liegenden Ursachen?
Die Tragweite dieses Kurswechsels muss man sich vor Augen halten: Vor 2016 hatte sich Schweden noch als „humanitäre Weltmacht“ gesehen, auch begründet auf einer sehr liberalen Zuwanderungs- und Integrationspolitik. Der Knackpunkt hinsichtlich des Politikwechsels war insbesondere die Integration. Denn es wurde offensichtlich, dass die Integration in den Arbeitsmarkt nicht gut gelang und dass dies den Wohlfahrtsstaat belastet. Konkrete Einschnitte bei staatlichen Leistungen beispielsweise in der Bildung oder bei der Gesundheitsversorgung begannen die Bürger unmittelbar „am eigenen Leib“ zu spüren. Auch wurde die Gangkriminalität mit ihren steigenden Opferzahlen zunehmend präsent und es wurde deutlich, dass es sich zu einem ernst zu nehmenden Problem migrantischer Milieus entwickelt hatte. Viele Bürger begannen, für die Missstände und Fehlentwicklungen die bisherige liberale Politik verantwortlich zu machen. Während die Forderung nach einem restriktiveren Kurs in der Asyl- und Integrationspolitik vor 2015/16 eigentlich nur das Thema der Schwedendemokraten gewesen war, begann nach 2015/16 die Bevölkerung, ihre Haltung zu ändern und auch die anderen Parteien näherten sich sukzessive den Positionen der Schwedendemokraten an. Interessant ist aus deutscher Perspektive, dass die Schwedendemokraten schon lange vor allem argumentiert hatten, dass die erfolgende Fluchtmigration den schwedischen Wohlfahrtsstaat schwäche. Rassistische Argumente standen nicht im Vordergrund ihrer Argumentation.
3. Mit der letzten Wahl im vergangenen Jahr kam es zu einem Regierungswechsel in Schweden. Die neue Regierung wird von den konservativen Moderaten angeführt. Inwiefern setzt die Regierung neue Akzente in der Zuwanderungspolitik? Gibt es eine weitere Schärfung des restriktiven Kurses?
Nachdem der Kurswechsel von 2016 bereits den Effekt hatte, dass die Zuzugszahlen deutlich sanken, warben die heute regierenden konservativen Moderaten und die Christdemokraten bereits im Wahlkampf damit, den Kurs bei der Migration und Integration noch weiter verschärfen zu wollen. Seit die neue Regierung im Amt ist, erfolgen in schnellem Tempo entsprechende Gesetzesänderungen und Vorhaben. Diese Vorhaben werden von den anderen Parteien sowie der Gesellschaft in weiten Teilen mitgetragen. So ist seit November beispielsweise ein neues Gesetz in Kraft getreten, dass einen Mindestverdienst für diejenigen Migranten fordert, die auf regulärem Wege und zu Erwerbszwecken nach Schweden einreisen wollen. Hier geht es darum, negative fiskalische Effekte für den Wohlfahrtsstaat, die durch ein niedriges Einkommen von Arbeitsmigranten entstehen, zu vermeiden. In der Entwurfsphase ist derzeit außerdem ein Gesetz, das den Familiennachzug weiter einschränken soll. So soll der Kreis derjenigen, die zur Familie gezählt werden, enger gefasst werden und der bereits in Schweden befindliche Schutzberechtigte muss die finanzielle Verantwortung für den Zuziehenden übernehmen sowie bereits eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung besitzen. Ebenso in der Entwurfsphase befinden sich Gesetze, die es verlangen, dass Asylbewerber künftig nicht mehr in Wohnungen, sondern ausschließlich in Wohnheimen untergebracht werden, bis zum Entscheid über ihr Asylverfahren. Ausreisepflichtige, nicht schutzberechtigte Personen, sollen künftig bis zu ihrer Ausreise in Ausreisezentren wohnen. Außerdem wird eine Verschärfung bei der Vergabe der Staatsbürgerschaft geplant: Voraussetzungen hierfür werden erhöht und die Wartefrist von fünf Jahren auf acht Jahre hochgesetzt. Der restriktivere Kurs der neuen Regierung zeigt sich auch darin, dass sie in den Haushalt für 2024 für den Bereich Asyl 200 Millionen Euro weniger eingestellt hat als im Vorjahr verausgabt wurden. Es gibt jedoch noch einen weiteren aktuellen Trend, der durchaus bemerkenswert ist. Man kann derzeit beobachten, dass sich Dänemark, Finnland und Schweden in ihrer Zuwanderungs- und Integrationspolitik zunehmend angleichen und austauschen. Teilweise wurden in Finnland ähnliche oder sogar die gleichen Gesetzesentwürfe verabschiedet, wie sie in Schweden vorliegen.
4. Im Gegensatz zu Dänemark, wo eine migrationspolitische Kursverschärfung durch die Sozialdemokraten die Rechtspopulisten erheblich geschwächt hat, sind die rechtspopulistischen Schwedendemokraten in Schweden derzeit zweitstärkste Kraft, durchaus auch mit Einfluss auf die Minderheitsregierung. Gibt es Erklärungsansätze für diese gegenläufigen Entwicklungen und können daraus Lehren für Deutschland gezogen werden?
Die dänischen Sozialdemokraten haben bereits vor Jahren ihre liberale Zuwanderungspolitik geändert und einen restriktiven Kurs eingeschlagen. Mit der Übernahme von Themen der Rechtspopulisten gelang es so, die Rechtspopulisten zu marginalisieren. Bei den letzten Wahlen konnten diese nur noch Stimmen im unteren einstelligen Bereich gewinnen. In Schweden jedoch hat man sich mit der restriktiven Wende schwerer getan. Diese wurde zwar auch unter sozialdemokratischer Führung vollzogen, aber deutlich später. In der Zwischenzeit avancierten die Schwedendemokraten zu einer starken politischen Kraft und zu einer festen Größe im Parteiensystem. Noch heute schreiben die Wähler vor allem ihnen die größte Kompetenz in Sachen Migrationspolitik zu. Dies gibt ihnen Auftrieb. Die Schwedendemokraten sind derzeit in Umfragen die stärkste Kraft und liegen mit 22 Prozent deutlich vor den regierenden konservativen Moderaten, die aktuell nur auf 16 Prozent kommen. Es ist vorstellbar, dass die Schwedendemokraten nach den nächsten Wahlen regieren werden. In Finnland sahen wir eine ähnliche Entwicklung und hier sind die Rechtspopulisten sogar aktuell an der Regierung beteiligt. Sowohl in Schweden als auch in Finnland kooperieren konservative heute in Sachfragen mit den rechtspopulistischen Parteien. Vor allem in Finnland findet dies auch in Sachfragen jenseits von Zuwanderung und Integration statt. Für Deutschland stellt sich insbesondere die Frage, wie es gelingen kann, dass Parteien der Mitte höhere Kompetenzzuschreibungen im Bereich Migration und Integration erlangen als die AfD. Auch wird man beobachten müssen, ob und inwiefern die AfD davon profitieren kann, wenn sich Rechtspopulisten in Schweden und Finnland als pragmatische politische Akteure mit Kompetenz in Sachfragen etablieren würden.
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Über diese Reihe
In unserer Reihe "Interviews" werden Gespräche und Diskussionen mit Expertinnen und Experten der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. zu unterschiedlichen Themen geführt.
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