Ausbreitung des Coronavirus in Argentinien
Inzwischen sind mehr als sieben Monate vergangen, seit Präsident Alberto Fernández per Dekret eine nationale verpflichtende soziale Isolierung ausrief. Diese wurde seither mehr als zehn Mal in Form von Videobotschaften, Pressekonferenzen und Ansprachen aus verschiedenen Teilen des Landes verlängert. Auch wenn diese Strategie zu Beginn der Epidemie den Kollaps des Gesundheitssystems im dicht besiedelten Buenos Aires abwenden konnte, sind die gegenwärtigen statistisch erfassten Neuinfektionen und Sterberate keineswegs erfreulich. Im Gegenteil: Trotz des wirtschaftlich gesehen fatalen Lockdowns belegt Argentinien momentan mit insgesamt 32.520 durch Covid-19 hervorgerufene Todesfälle (Stand: 5. November 2020) den 12. Platz im internationalen Vergleich, was die Sterberate pro Millionen Einwohner anbelangt. Mit rund 65.000 durchgeführten Tests pro Millionen Einwohner befindet sich das Land im regionalen Vergleich weit hinter Brasilien (ca. 100.000/Mio. Einwohner), Peru (ca. 140.000 Tests/Mio. Einwohner) und Chile (ca. 225.000 Test/Mio. Einwohner). Momentan werden in Argentinien etwa zehntausend Covid-19-Neuinfektionen und dreihundert Todesfälle pro Tag registriert – Schätzungen zufolge ist die Dunkelziffer allerdings mehr als doppelt so hoch. Auch wenn im Ballungsraum Buenos Aires aufgrund gezielter Tests inzwischen eine leichte Senkung der Infektionskurve trotz der schrittweisen Aufhebung des Lockdowns erreicht werden konnte, hat sich der Virus inzwischen unkontrolliert in vielen Teilen des Landes ausgebreitet. Insbesondere die Provinzen Santa Fe und Córdoba und die Region Patagonien sind stark betroffen. Erste regionale Krankenhäuser meldeten bereits einen Notstand an Beatmungsgeräten und Betten auf den Intensivstationen. Der Negativtrend liegt Forscheraussagen zufolge vor allem in der Fehlkoordination der staatlichen Behörden untereinander, der unzureichenden Ansteckungskettenverfolgung sowie in der Vernachlässigung der Hygiene- und Schutzmaßnahmen begründet.
Um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen und eine weitere Infektionswelle wie momentan in Europa vorzukommen, hat die argentinische Regierung 25 Millionen Dosen des russischen Sputnik V-Impfstoffes bestellt. Dieser soll zwischen Dezember und Januar zunächst Sicherheits- und Lehrkräften, dem Gesundheitspersonal, über 60-Jährigen sowie Vorerkrankten gespritzt werden und somit eine Immunisierung zwei Drittel der Bevölkerung herbeiführen. Bis Dezember sollen hierfür allein in Buenos Aires mehr als fünftausend staatliche Impfstellen für die Impfkampagne mit Sputnik V ausgestattet werden. Die Staatssekretärin für Gesundheitswesen Carla Vizzoti war Ende Oktober überraschend nach Russland gereist, um sich vor Ort ein Bild von der Wirksamkeit des Impfstoffes zu verschaffen. Der Stückpreis beträgt Medienberichten zufolge zehn US-Dollar pro Dosis und ist somit mehr als doppelt so teuer wie der Impfstoff, an dem die Slim-Stiftung gemeinsam mit dem Labor Astra Zeneca und der Oxford-Universität forscht. Letzterer soll nach dem Abschluss der Testphasen im ersten Quartal 2021 in Argentinien und Mexiko produziert werden.
Vermehrte Landbesetzungen in verschiedenen Teilen Argentiniens
Der Konflikt um die Privatgrundstücke in Guernica (wir berichteten), aber auch die Besetzung eines Landguts in der Provinz Entre Ríos infolge eines politisierten Erbfolgestreits der Großgrundbesitzerfamilie Etchevehere, das Eindringen in leerstehende Ferienhäuser an der Atlantikküste sowie die Belagerung mehrerer Landhäuser in Patagonien heizten die ohnehin gereizte soziale Stimmung weiter an. Zudem offenbarte er Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungsallianz Frente de Todos: Während sich der Sicherheitsminister der Provinz Buenos Aires Sergio Berni beispielsweise klar für den Schutz des Privateigentums aussprach, verkündete die amtierende nationale Sicherheitsministerin Sabina Frederic, dass die Landbesetzungen ihrer Meinung nach kein Sicherheitsproblem seien. Präsident Fernández äußert sich ambivalent zu dem Thema: zum einen appellierte er an die Rechtsstaatlichkeit, zum anderen verwarf er aber die Idee einer Agrarreform nicht, für die sich der Kirchner-nahe Juan Grabois, Anführer der Arbeiterbewegung MTE, tatkräftig einsetzt. Die katholische Kirche, für die sich Grabois nach seiner Ernennung durch Papst Franziskus 2016-2017 ehrenamtlich als Berater des päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden engagiert hatte, verurteilte in einem offenen Brief die unrechtmäßige Besetzung von Privateigentum, Plünderungen und Gewaltanwendung, und distanzierte sich somit vom Konflikt. Auch wenn die Polizei Ende Oktober die mehrfach aufgeschobene Räumung der besetzten Privatgrundstücke in Guernica auf richterliche Anweisung hin letztendlich vollziehen konnte, ist das Grundsatzproblem der Landbesetzungen nach wie vor nicht gelöst. Im Fall von Guernica sollen staatliche Zuwendungen, Umsiedlungen und Notunterkünfte zunächst Abhilfe schaffen.
Einem Bericht der BBC zufolge haben sich die Belagerungen von Privatgrund seit Präsident Alberto Fernández´ Amtsantritt und dem Einbruch der Pandemie unkontrolliert vervielfacht. Allein in der Provinz Buenos Aires seien seit Beginn des Jahres über 1.800 Vorfälle gemeldet worden, in manchen Distrikten sogar täglich. Auch im Nordosten des Landes, wie zum Beispiel in den Provinzen Chaco und Corrientes, käme es immer häufiger zu illegalen Besetzungen. Hintergrund derselben seien nicht immer ökonomische Interessen, sondern auch Verzweiflungstaten arbeits- und obdachloser Familien sowie Arbeitsunfähiger. Auch wenn Argentinien verhältnismäßig dünn besiedelt ist, lebt die Mehrheit der Bewohner in dicht besiedelten Ballungsräumen, häufig in prekären Verhältnissen. Viele Migranten, die sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben vom Land in die Stadt begeben, gelingt es nicht einen formellen Arbeitsplatz zu finden, sodass sie in den Teufelskreis der Armut verfallen. Angaben der staatlichen Statistikbehörde INDEC befanden sich im ersten Semester des Jahres 40,9 Prozent der argentinischen Bevölkerung unterhalb der Armutslinie – 5,5 Prozentpunkte mehr als im Vorjahr. Die andauernde Wirtschaftsrezession und der pandemiebedingte Stellenabbau, vor allem in der Schattenwirtschaft, haben die Lage weiter verschärft: immer mehr Familien leben inzwischen auf der Straße. Die staatliche Hilfe kommt bei ihnen oftmals nicht an. Diese wird in Argentinien nämlich häufig von „Vermittlern“ beantragt. Viele der eigentlichen Empfänger haben daher noch nie eine staatliche Behörde betreten und sind meist Opfer von Betrügern, die einen Großteil der staatlichen Hilfsleistungen als „Kommission“ einkassieren und zudem den Eindruck verschaffen, dass diese nur als Gegenleistung für politischen Aktivismus erhalten und nicht direkt beantragt werden könnten. Folglich kommt nur ein Bruchteil bei vielen Empfängern an. Dadurch wird ein irrtümlicher Zwiespalt zwischen den Bedürftigen und den Behörden aufgetan.
Spannungen innerhalb der Regierungs- und Oppositionsallianz
Der Konflikt um die Besetzung des Amts des Generalsstaatsanwalts, die Landbesetzungen sowie der offene Brief von Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner (CFK) anlässlich des zehnten Todestags von Präsident Néstor Kirchner (2003-2007) manifestierten sowohl die Unstimmigkeiten innerhalb der Regierungsallianz Frente de Todos, als auch innerhalb der Oppositionsallianz Juntos por el Cambio.
In ihrem Schreiben vom 26. Oktober äußert sich CFK zum Krisenmanagement der Pandemie, ihren Beweggründen, Alberto Fernández (Frente de Todos) im Mai 2019 zum Präsidentschaftskandidaten zu ernennen, zur von der Macri-Regierung aufgenommenen Auslandsverschuldung beim Internationalen Währungsfond (IWF) sowie zur juristischen und in ihren Augen politischen Verfolgung (lawfare) ihrer Person durch Oppositionsvertreter und die führenden Medien des Landes. Ferner leugnete sie auf die Regierungsentscheidungen von Präsident Fernández Einfluss zu nehmen. Hervorzuheben ist ihr Aufruf zu einem nationalen, überparteilichen Dialog. Darüber hinaus erkannte sie die Problematik der Dollarisierung der argentinischen Wirtschaft an. Abschließend hob sie Errungenschaften der Präsidentschaft ihres verstorbenen Mannes hervor.
Die Wogen des veröffentlichten Briefs schlugen hoch. Meinungsführende Journalisten interpretierten es als eine Distanzierung von den Regierungsgeschäften sowie der Forderung nach personellen Konsequenzen infolge der bisherigen Fehlentscheidungen beim Handhaben der Pandemie. Regierungsnahe Vertreter hingegen sprachen von einer Rückendeckung des Präsidenten. Letzterer dementierte unmittelbar nach der Veröffentlichung des Schreibens, dass Wechsel in seinem Kabinett anstünden oder es sich gar um eine Kritik an seinem Führungsstil halte. Nichtsdestotrotz herrscht Medienberichten zufolge seit mehr als vier Wochen Funkstille zwischen dem Staatsoberhaupt Alberto Fernández und seiner Vize. Die Distanzierung wurde besonders durch die Abwesenheit von CFK und ihrem Sohn Máximo Kirchner, dem Fraktionsvorsitzenden von Frente de Todos im Abgeordnetenhaus, bei der Gedenkzeremonie anlässlich des zehnten Todestags von Néstor Kirchner im nach ihm benannten Kulturzentrum in Buenos Aires deutlich.
Der ehemalige Präsident Mauricio Macri (PRO) stellte unmittelbar nach der Veröffentlichung des Briefs in einem Tweet Bedingungen für den überparteilichen Dialog auf, zu dem CFK eingeladen hatte. Zu den Voraussetzungen gehören unter anderem das Abstandnehmen von der eingeleiteten Justizreform (wir berichteten) und Ernennung des nominierten Generalstaatsanwalts Daniel Rafecas. Dessen Nominierung hatte bereits im Vorfeld zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen Macri und der Vorsitzenden der CC-ARI, Elisa Carrió, die Mitglied der Oppositionsallianz Juntos por el Cambio ist, geführt. Die Unstimmigkeit wurde durch ein Treffen der Allianzpartner im Landhaus von Carrió ohne Macri verschärft. An der besagten Besprechung nahmen der Fraktionsvorsitzende des Abgeordnetenhauses der Coalición Cívica, Maximiliano Ferraro, die Abgeordnete Maricel Etchecoin sowie die ehemalige Gouverneurin der Provinz Buenos Aires, María Eugenia Vidal (PRO), und den amtierenden Bürgermeister der PRO-regierten Stadt Buenos Aires Horacio Rodríguez Larreta teil. Larreta profiliert sich durch seine Dialogbereitschaft und politisches Geschick immer mehr zum zukünftigen Präsidentschaftskandidaten der Opposition für die Wahlen 2023. Jedoch genießt Macri weiterhin den Rückhalt einer Vielzahl der PRO-Mitglieder. Eine innerparteiliche Stichwahl kommendes Jahr ist daher nicht auszuschließen.
Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in Argentinien möchte allen Interessierten einen besseren Zugang zu den politischen Ereignissen des Landes ermöglichen. Dafür veröffentlichen wir monatlich ein kurzes Briefing mit den wichtigsten Nachrichten aus dem Land.
Susanne Käss
Leiterin des Auslandsbüros Argentinien / Leiterin des Auslandsbüros Brasilien (kommissarisch)