Verlängerung der sozialen Isolierung und innenpolitische Spannungen
Argentinien befindet sich hinsichtlich der sozialen Isolierung in der dritten von fünf Phasen, erklärte Präsident Alberto Fernández in einer Videobotschaft am Abend des 25. April. In diesem Moment verkündete er die Verlängerung der verpflichtenden Quarantäne bis zum 10. Mai. Lediglich in Städten und Gemeinden, die weniger als 500.000 Einwohner verzeichnen, in denen es keine Verbreitung des Coronavirus’ gegeben hat und wo sich die Infektionszahlen nur innerhalb von 15 bis 25 Tagen verdoppeln, dürfen erste Lockerungen in die Wege geleitet werden. Konkret bedeutet dies, dass die Verantwortung hinsichtlich der schrittweisen Rückkehr in den Alltag nun auch auf den Schultern der Gouverneure und Bürgermeister lastet. Als “geografische Segmentierung” wird diese Phase im Schema von Präsident Fernández bezeichnet. Für Verwirrung sorgte zunächst die Ankündigung, dass einstündige Spaziergänge im Umkreis von 500 Metern des Wohnsitzes ähnlich wie in Spanien erlaubt werden sollten. Diese Aussage revidierte das Staatsoberhaupt am darauffolgenden Montag zur Enttäuschung vieler Familien und Naturliebhaber. Auch die Ausgänge sind an die oben genannten Bedingungen gekoppelt, weswegen knapp die Hälfte der argentinischen Bevölkerung weiterhin ihren Wohnsitz nur zum Einkaufen, Pflegen eines Familienangehörigen oder zur Arbeit in einem der systemrelevanten beziehungsweise ausgenommenen Sektoren verlassen dürfen. Der öffentliche Nahverkehr soll dabei gemieden werden. Die Öffnung der Geschäfte, Fabriken, Kindergärten, Schulen und Universitäten sei mittelfristig ebenfalls nur unter Auflagen möglich. Ferner besteht inzwischen zusätzlichen zu den Hygieneempfehlungen und vorgeschriebenen Sicherheitsabständen eine Behelfsmaskenpflicht. Die zertifizierten Masken sind dabei der Gesundheitsbranche vorbehalten.
Ein Großeinkauf solcher Masken für das städtische Sicherheits- und Gesundheitspersonal wurde der Stadt Buenos Aires zum Verhängnis: 15.000 P95-Masken waren hier zum dreifachen Wert des marktüblichen Preises bestellt worden. Für Empörung sorgte jedoch nicht nur der Anschaffungswert, sondern auch, dass die ersten 1.600 gelieferten Schutzmasken seit vier Jahren abgelaufen waren. Der bis dato in der staatlichen Datenbank unbekannte Verkäufer und Zwischenhändler bot inzwischen an, die fehlerhaften Masken nicht mehr in Rechnung zu stellen und den Kaufvertrag schnellstmöglich aufzulösen. Personell zog die Stadtregierung in dieser Hinsicht jedoch bereits Konsequenzen: der Untersekretär der Verwaltung des Gesundheitssystems Nicolás Montovio gab seine Rücktritt bekannt. Bürgermeister Horacio Rodríguez Larreta (PRO) nahm diesen an. Ebenso trat der Vorsitzende der Tourismusbehörde Gonzalo Robredo zurück. Er war für die Verfügbarkeit von Hotelzimmern für die Rückkehrer aus dem Ausland mit Wohnsitz in der Stadt Buenos Aires zuständig, die gemäß einer städtischen Verordnung die verpflichtende, zweiwöchige Quarantäne in den ihnen zugewiesenen Hotels verbringen mussten. Grund für den Rücktritt von Robredo war der Mietvertrag mit einem Hotel, in dem die Schwester des regierenden Bürgermeisters beschäftigt ist. Stadtchef Rodríguez Larreta versicherte hiervon nichts gewusst zu haben. Auf das Image des Oberhaupts der Autonomen Stadt Buenos Aires wirkte sich auch eine geplante Genehmigungspflicht für über 70-Jährige für Einkäufe, Arzt- und Bankbesuche negativ aus. Angesichts des massiven Unmuts in der öffentlichen Meinung ruderte Rodríguez Larreta zwar zurück und erläuterte, dass es sich lediglich um eine Empfehlung handele, um ältere Mitbürger bei der Kontaktaufnahme über die Hilfsprogramme der Stadt aufzuklären. Weiterhin sorgte das Vorhaben, die Gehälter der städtischen Beamten in Raten zu zahlen, bei den Gewerkschaften und Angestellten für Unmut. Über diese und weitere Maßnahmen im Rahmen eines etwaigen Wirtschaftsnotstands soll nun im Stadtrat abgestimmt werden. Durch die geplante Ratenzahlung der Gehälter soll der Stadt angesichts der Einkommenseinbußen von mehr als 70 Prozent Spielraum eingeräumt werden, um ihren Verpflichtungen innerhalb eines Kalendermonats unter Berücksichtigung der verzögerten Steuereinnahmen nachzukommen. Mit Hilfe der Nationalregierung kann die Stadt Buenos Aires kaum rechnen. Auch an Steuererhöhungen zur Kostendeckung ist angesichts des wirtschaftlichen Zerfalls derzeit nicht zu denken. Derzeit spenden leitende Angestellte der Stadtregierung daher freiwillig rund 25 Prozent ihrer Zuwendungen für das Krisenmanagement.
Auch in der Nationalregierung sorgten Einkäufe des Ministeriums für soziale Entwicklung für Ärgernis: sieben Mal wurden hier Lebensmittel für bedürftige Familien in Millionenhöhe angeschafft, deren Stückpreis teilweise doppelt so hoch war, wie die staatlich fixierten Maximalpreise. Letztere sollten unter anderem von den Gemeinden kontrolliert werden, so Präsident Fernández wenige Tage vor dem Skandal. Aufgrund des öffentlichen Drucks forderte Minister Daniel Arroyo den Sekretär für sozialpolitische Koordination, Gonzalo Calvo, der für die Verteilung der Lebensmittel zuständig war, dazu auf, seinen Rücktritt einzureichen. Ihm folgten weitere vierzehn Funktionäre.
Umstritten ist auch die Einführung einer Reichensteuer, über die das Parlament gemäß des Wunsches von Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner (Frente de Todos) virtuell abstimmen soll. Ihr Sohn, der Vorsitzende der Frente de Todos-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Máximo Kirchner, bereitete einen entsprechenden Gesetzesentwurf gemeinsam mit dem Abgeordneten Carlos Heller vor. Sollte er bewilligt werden, müssten rund 12.000 Argentinier, deren jährliches Einkommen drei Millionen argentinische Pesos (etwa 43.000 Euro) überschreitet, eine vorerst einmalige Sonderabgabe an den Staat leisten, die für die Anschaffung von medizinischer Ausrüstung zur Bekämpfung der Pandemie ausgegeben werden soll. Der Ausgang der Abstimmung ist noch unklar. Für weiteren Unmut sorgte darüber hinaus das Vorhaben der Regierung Häftlinge aus den überfüllten Gefängnissen zu entlassen, um das Ansteckungsrisiko in den Einrichtungen zu senken. Derzeit sind die Kapazitäten der Justizvollzugsanstalten mehr als ausgelastet, weswegen Untersuchungshäftlinge teilweise in Kommissariaten untergebracht sind. Die Maßnahme sieht vor Ältere, Schwangere, Frauen, die mit ihren Kindern inhaftiert sind, Vorerkrankte sowie Häftlinge, die noch nicht verurteilt wurden, in den Hausarrest zu verweisen. Mörder, Vergewaltiger, Menschen- und Drogenhändler sowie Gewalttätige seien davon ausgenommen. Vertreter der Opposition befürchten, dass so auch der Korruption verurteilte Politiker freikommen könnten. Ferner seien nicht genügend elektronische Fußfesseln verfügbar, die das Einhalten des Hausarrests gewährleisten würden. Im Vorfeld kam es in mehreren Justizvollzugsanstalten des Landes zu gewalttätigen Ausschreitungen.
Steigende Armutsraten bei anhaltender Schuldenkrise und Spannungen mit dem MERCOSUR und Nachbarland Chile
Die ohnehin krisengebeutelte argentinische Wirtschaft wird von der Pandemie besonders hart getroffen. Allein zwischen dem 15. März und 15. April waren rund 300.000 Arbeiter von den wirtschaftlichen Folgen betroffen: mehr als 12.000 verloren trotz gesetzlichem Kündigungsverbot ihren Arbeitsplatz, zahlreiche Arbeitsverträge wurden suspendiert sowie Löhne und Gehälter um bis zu 25 Prozent gekürzt. Besonders betroffen sind die Tourismus- und Unterhaltungsbranche, aber auch die Erdöl- und Erdgasförderung sowie das Metall- und Stahlgewerbe. Unter anderem infolgedessen leben laut Berechnungen der Katholischen Universität Argentiniens rund 45 Prozent der Argentinier unterhalb der Armutsgrenze. Sollten die soziale Isolierung und die damit verbundenen wirtschaftlichen Einschränkungen andauern, könnten es bald mehr als 50 Prozent sein. Aus diesem Grund kündigte Präsident Fernández einen weiteren Bonus für Sozialhilfe- und Arbeitslosengeldempfänger an sowie eine Aufstockung des Budgets des Ministeriums für soziale Entwicklung für die Versorgung der sozial benachteiligten Haushalte mit Produkten des alltäglichen Gebrauchs. Zudem soll ein Spezialfond für Genossenschaften mit einem Budget von rund 200 Milliarden argentinischen Pesos (rund 2,86 Milliarden Euro) geschaffen werden. Im Rahmen der Maßnahmen wurden auch die Maximalpreise der Güter des alltäglichen Gebrauchs für weitere 30 Tage eingefroren. Die Regelung war in Ansprache mit den Produzenten am 6. Januar in Kraft getreten. Inzwischen sorgt sie jedoch für Unmut. Zwar sind ihre Einkommenseinbußen im Vergleich zu anderen Sektoren geringer, doch auch die Rentabilität ihrer Geschäfte ist angesichts der steigenden Inflation, die Mehrkosten innerhalb der Wertschöpfungsketten durch die Abwertung der argentinischen Landeswährung und den insgesamt rund 20 Prozent gestiegenen Fixkosten bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen gefährdet.
Auch die Schuldenkrise ist weiterhin nicht vom Tisch. Wirtschafts- und Finanzminister Martín Guzmán gelang es bisher nicht sich mit den privaten Gläubigern auf ein Angebot zu einigen. Der Minister hatte einen Erlass von 62 Prozent der Zinsen, 5,4 Prozent des Kapitals und eine Zahlungspause von drei Jahren vorgeschlagen. Der Ökonom und UN-Berater Jeffrey Sachs lobte den Umstrukturierungsplan. Er sei “intelligent, ausgeglichen und realistisch”. Zahlreiche Anleger lehnten das Angebot jedoch bereits ab und kritisierten das unilaterale Vorgehen der Regierung. Nichtsdestotrotz sei man gewillt gemeinsam einen Lösungsweg zu suchen. Sollte es dennoch zu keiner Einigung kommen, droht Argentinien zum 22. Mai die neunte Staatspleite der Geschichte. Hinsichtlich der Umstrukturierung der Schulden beim Internationalen Währungsfond (IWF), bei dem Argentinien einen 45 Milliarden US-Dollar hohen Kredit aufgenommen hatte, bat Präsident Alberto Fernández am 29. April telefonisch Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel um Unterstützung.
Am Abend des 24. Aprils gab Präsident Fernández weiterhin den Rücktritt Argentiniens aus den künftigen Verhandlungen über Freihandelsabkommen des MERCOSUR bekannt. Dies betreffe allerdings nicht die Gespräche in Bezug auf die Umsetzung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union und auch keine bereits abgeschlossenen Verträge. Unmittelbar vor der Bekanntmachung hatte unter anderem Brasilien die Verhandlungen mit Südkorea, Singapur, dem Libanon, Kanada und Indien innerhalb des Blocks vorangetrieben. Angesichts der wirtschaftlichen Rezession und den Folgewirkungen der Pandemie müsse Argentinien die nationale Produktion vor dem internationalen Wettbewerb schützen, erläuterte der argentinische Außenminister Felipe Solá am 27. April. Die Mitgliedsländer des MERCOSUR Brasilien, Uruguay und Paraguay sowie die Vertreter von Juntos por el Cambio kritisierten den Entschluss: gerade in wirtschaftlich turbulenten Zeiten sei das Erschließen neuer Märkte unabdingbar.
Neben den Spannungen mit dem MERCOSUR, musste Präsident Fernández im April auch die Wogen mit Chiles Präsidenten Sebastián Piñera glätten. Bei einem Treffen der Puebla-Gruppe hatte sich der argentinische Staatschef kritisch gegenüber des chilenischen Krisenmanagements geäußert, woraufhin ihn Präsident Piñera der Einmischung in die inneren Angelegenheiten bezichtigte.
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Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in Argentinien möchte allen Interessierten einen besseren Zugang zu den politischen Ereignissen des Landes ermöglichen. Dafür veröffentlichen wir monatlich ein kurzes Briefing mit den wichtigsten Nachrichten aus dem Land.
Susanne Käss
Leiterin des Auslandsbüros Argentinien / Leiterin des Auslandsbüros Brasilien (kommissarisch)