Neuigkeiten aus der argentinischen Justiz
Am 4. Februar erschütterte der Tod von Bundesrichter Claudio Bonadio einen Großteil der argentinischen Justiz und Gesellschaft. Der Bundesrichter starb im Alter von 64 Jahren an einem Hirntumor. Nur wenige wie er waren so vertraut mit den Höhen und Tiefen der argentinischen Politik. Während seiner 26-jährigen Karriere machte sich Richter Bonadio einen Namen unter anderem durch die Strafverfolgung der ehemaligen Präsidentin und amtierenden Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner (CFK). Der Bundesrichter leitete auch Ermittlungen im ungeklärten Todesfall des Sonderstaatsanwalts Alberto Nisman ein, welcher der damaligen Präsidentin CFK Kollusion mit der iranischen Regierung vorwarf und somit auch eine mögliche Verwicklung in den Bombenanschlag auf das Gebäude des jüdischen Verbands AMIA. Allein im vergangenen Jahr lud Bonadio CFK an nur einem Tag ganze sieben Mal vor, ordnete eine neuntägige Untersuchungshaft an, gefolgt von Anträgen an den Kongress, ihre Immunität aufzuheben. CFK beschuldigte ihn der politischen Verfolgung. Außerdem zog Richter Bonadio zog ebenfalls kirchneristischen Beamte wie den Infrastrukturminister Julio de Vido zur Rechenschaft, welcher aufgrund der Veruntreuung öffentlicher Mittel, die für die Erneuerung der S-Bahnen bestimmt waren, für ein tragisches Unglück am Bahnhof Once in Buenos Aires im Jahr 2012, welches 51 Todesopfer forderte, eine Mitschuld trug.
Präsident Alberto Fernández sprach angesichts der Verurteilung mehrerer Beamter und Unternehmer während der Amtszeit von Präsident Macri von einem „Oligopol von Richtern“ und bezichtigt die Opposition der Ernennung befreundeter Richter sowie der Justizmanipulation. Infolgedessen ordnete er eine Justizreform an, die unter anderem die Vereinheitlichung der Strafgerichte in der Autonomen Stadt Buenos Aires vorsieht (was bedeutet, dass Fälle statt unter 12 Bundesrichtern unter 70 Strafrichtern ausgelost werden sollen), die Schaffung eines Rats zur Stärkung der Justizverwaltung, bestehend aus Akademikern und Spezialisten und die Stärkung des Strafverfolgungssystems mit dem Ziel Menschenhandel, Geldwäsche und Drogenhandel effektiver zu untersuchen und härter nachzugehen. Weitere Punkte sind die Optimierung der Arbeitsweise des Obersten Gerichtshofs, die Verbesserung der Arbeit des Rats der Magistratur, die Einführung von Geschworenenprozessen, eine Modernisierung des Strafgesetzbuchs und der Stärkung der Staatsanwaltschaft. Die Opposition reagierte hierauf mit Skepsis. Bisher gab Präsident Fernández keine detailliertere Erläuterung der Reformen und Implementierung der genannten Änderungen bekannt.
Für weitere Unstimmigkeiten in der Justiz und im Auswärtigen Amt sorgte auch die angekündigte Rentenreform, die die Schere zwischen den Mindestrenten und den Pensionen verkleinern sowie die Ausgaben der Rentenkasse verringern soll. Zurzeit befindet sich ein entsprechender Gesetzentwurf in parlamentarischer Debatte. Dieser sieht unter anderem Veränderungen des Renteneintrittsalters, der Rentenberechnung sowie der Höhe der Beiträge, unter anderem für rund 8.000 hochrangige Beamte der Justiz und des Außenministeriums, vor. Die Beamten befürchten mit der Verabschiedung des Gesetzes 20 bis 40 Prozent der ihnen derzeit zustehenden Pension einzubüßen und durch die Anhebung des Mindestalters für den Ruhestand von 60 auf 65 gegenüber ihren Vorgängern benachteiligt zu werden. Mehr als 300 Justizbeamte drohten daher bereits mit ihrem Rücktritt. Über 50 Staatsanwälte und Richter ließen diesen Drohungen bereits Taten folgen und beantragten ihren Ruhestand bzw. traten von ihren Ämtern zurück. In den Augen der Opposition soll durch die Maßnahme die Justiz lahmgelegt werden. Die Regierung dementierte diese Absicht jedoch.
Streit über das Aussetzen des Gesetzes zur Förderung von wissensbasierten Unternehmen
Die Fernández-Regierung beschloss das einstimmig vom Parlament verabschiedete Gesetz zur Förderung von wissensbasierten Dienstleistungsunternehmen im Bereich der Naturwissenschaften, Softwareentwicklung, Luft-, Raumfahrt-, Nano- und Gentechnik, künstlichen Intelligenz, Robotik, audiovisuellen Produktion, etc., kurz so genannten „Wissensgesellschaften“, auszusetzen. Dieses hätte bereits am 1. Januar in Kraft treten sollen. Durch Anreize wie Mehrwertsteuerbefreiungen, konstante Gebühren und Zölle, Abzüge bei den Arbeitgeberbeiträgen, Umsatzsteuerguthaben, einen erniedrigten Gewinnsteuersatz sowie Ertragssteuererleichterungen sollten Anreize für die Wettbewerbsfähigkeit und Expansion der Branche geschaffen werden. Bis 2030 sollten etwa 400.000 neue Arbeitsplätze kreiert, die Exporteinnahmen, der Exportanteil und die Wertschöpfung verdoppelt, der Handelsüberschuss vervielfacht und die jährliche Lohnsumme vermehrt werden. Zudem sollte die Abwanderung von Fachkräften ins Ausland dadurch verringert werden. Argentinien ist eines der zehn Länder mit dem höchsten Wachstumspotential im zukunftsweisenden Sektor der wissensbasierten Güter und Dienstleistungen und exportierte 2018 insgesamt sechs Milliarden US-Dollar an Produkten. Momentan sind rund 430.000 Personen in diesem Bereich tätig. Das entspricht etwa acht Prozent der formellen Beschäftigung. Zudem handelt es sich um die drittwichtigste Exportbranche des Landes.
Aufgrund der zahlreichen Proteste gegen die Suspension des Gesetzes legte das Produktionsministerium schließlich am 19. Februar dem Kongress einen neuen Gesetzesentwurf vor. Dieser behält die Steuerbegünstigungen im Fall der Arbeitgeberbeiträge, insbesondere im Fall der Anstellung weiblicher Fachkräfte, sowie Gewinnsteuererleichterungen eingeschränkt bei und beabsichtigt durch das Senken der minimalen Standards im Bereich der Entwicklung, Weiterbildung und Exportfähigkeit, die ausschlaggebend für die Einordnung eines Unternehmens als Wissensgesellschaft sind, kleinen und mittelständischen Unternehmen einen besseren Zugang zu diesen Vorteilen erleichtern. Die geplante Einführung eines Beschäftigungslimits für die Arbeitgeberbeitragssubvention sowie das Streichen der konstanten Zölle und Gebühren benachteiligt vor allem Großunternehmen wie das eBay-ähnliche „Mercado Libre“, die für die Ausarbeitung einer langfristigen Strategie Finanzstabilität und Rechtssicherheit benötigen. Mercado Libre ist das wertvollstes an der US-Börse notierte argentinische Unternehmen. Der CEO der Firma kritisierte in einer Pressemitteilung die geplanten Gesetzesänderungen scharf und kündigte an seinen Tätigkeiten in Zukunft vom Nachbarland Uruguay aus nachzugehen. Angesichts zahlreichen Steuererhöhungen und der verschärften Devisenkontrolle, die vor allem Exportunternehmen trifft, und den wissensgesellschaftsfreundlichen Bedingungen in Uruguay, hatte der frisch gewählte Präsident Uruguays Lacalle Pou bereits argentinische Fachkräfte angeworben. Das Inkrafttreten der geplanten Gesetzesänderungen könnte das Abwandern ganzer Unternehmen verursachen und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit Argentiniens im Bereich der Wissensindustrie langfristig negativ beeinflussen.
Makroökonomische Entwicklungen
Einem Bericht der Katholischen Universität Argentiniens (UCA) zufolge erreichte die multidimensionale Armut, ein Maß, das neben dem Einkommen das Fehlen einiger grundlegender Rechte zusammenfasst, im Jahr 2019 37,5 Prozent und betraf somit 15,75 Millionen Menschen in den argentinischen Großstädten. Ein Jahr zuvor hatte dieser Indikator 31,4 Prozent der argentinischen Bevölkerung umfasst. Dies bedeutet, dass seit dem letzten Jahr 1,43 Millionen Argentinier mehr unter die Armutsgrenze fielen. Den Anstieg der Armut begründet die Studie unter anderem durch den Kaufkraftverlust angesichts der hohen Teuerungsrate der Güter und Dienstleistungen des alltäglichen Gebrauchs sowie durch die verschlechterte Beschäftigungslage im Jahr 2019. Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit bei 9,7 Prozent. Davon betroffen sind vor allem junge Erwachsene: Ein Fünftel der unter 29-Jährigen ist laut Berechnungen der staatlichen Statistikbehörde INDEC arbeitslos. Ein weiterer auffälligerer Indikator hat mit dem Defizit bei dem Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten zu tun, das sich innerhalb von zwölf Monaten um vier Prozentpunkte verschlechterte. Die Inflation, die im Jahresvergleich 2019/2020 die 50-Prozent-Marke überschritt, fiel im Januar dieses Jahres mit 2,3 Prozent deutlich niedriger als der monatliche Durchschnittswert im letzten Jahr. Ein Grund dafür sind die von der Regierung neu ausgehandelten Referenzpreise (Programm „Precios Cuidados“) mit ausgewählten Lebensmittelherstellern und Produzenten von Gütern des alltäglichen Gebrauchs sowie die Verschärfung der Devisenkontrollen.
Argentiniens etwaiger Schuldenschnitt
Angesichts des Besuch einer technischen Kommission des Internationalen Währungsfonds (IWF) Mitte Februar waren die Verhandlungen Argentiniens mit dem IWF in der öffentlichen Diskussion sehr gegenwärtig. Dabei stand unter anderem der Begriff „Schuldenschnitt“ im Raum. Vor einem halben Jahr war das Expertenteam des IWF noch von Argentiniens Fähigkeit, die an den bewilligten 57 Milliarden US-Dollar-Kredit gekoppelten Bedingungen zu erfüllen. Seitdem verlor der argentinische Peso gegenüber dem US-Dollar trotz der eingeführten Devisenkontrollen mehr als 40 Prozent an Wert, die Wirtschaft schrumpfte stärker als erwartet und die Währungsreserven gingen um mehr als 20 Milliarden US-Dollar in wenigen Monaten zurück. Zudem erhält der argentinische Staat angesichts des hohen Länderrisikos und der Rechtsunsicherheit an den Kapitalmärkten längst keine Devisen mehr. Ebenso verhält es sich mit einem Großteil der ausländischen Direktinvestitionen.
Im Anbetracht der andauernden Rezession begrüßten die Fachkräfte des IWF in ihrer Pressemitteilung, dass die neue Regierung an den Devisenkontrollen und den armutslindernden Maßnahmen festgehalten hat. Ferner räumten die Vertreter des IWF ein, dass es angesichts der aktuellen Lage schwierig sei einen Haushaltsüberschuss zu erzielen. Diesen bräuchte das Land, um die Schulden in US-Dollar tilgen zu können. Das argentinische Parlament hatte im Januar bereits eine Umstrukturierung der Staatsschulden bewilligt. Die Abstimmungen im Abgeordnetenhaus und Senat erfolgten unmittelbar nach den Auslandsreisen von Präsident Fernández und Wirtschaftsminister Guzmán. Deren zahlreichen Staatsbesuche, bilaterale Gespräche im Rahmen multilateraler Foren und Vorträge hatten zum Ziel gehabt ein positives Klima für die Umschuldung und einen etwaigen Schuldenschnitt zu schaffen. Letzterer müsste bei den Forderungen der privaten Gläubiger und Investmentfonds erfolgen. Diese wollen jedoch zunächst einen konkreteren Wirtschaftsplan sehen. Die in den USA und im argentinischen Parlament vorgestellten vagen Plänen des Wirtschaftsministers Guzmáns enttäuschten die bisherigen Erwartungen. Zu den wichtigsten Unbekannten gehören die Finanz-, Inflations- und Wachstumsziele, die sich die nationale Regierung für die nächsten Jahre gesetzt hat; welche Gläubiger an der Umschuldung beteiligt sein sollten und die "Richtlinien" Guzmán, die dem Kabinett vorlegen wird, um die gewünschte Tragbarkeit der Schulden zu erreichen.
Trotz der vielen Unbekannten bekräftigte die IWF-Vorsitzende Georgieva beim G20-Finanzministertreffens in Riad, Saudi-Arabien, weiterhin ihre Unterstützung für Argentinien und lobte die Bemühungen der argentinischen Regierung um die Stabilisierung der Wirtschaft und die Verringerung der Armut. Im März sollen die Verhandlungen fortgesetzt werden. Ferner ist ein weiterer Besuch einer technischen Mission geplant. Diese wird sich in Buenos Aires mit Vertretern der Politik, Gesellschaft und Wirtschaft treffen, um die aktuelle Lage zu analysieren und dem Board eine entsprechende Handlungsempfehlung vorzulegen.
Aitana Ackermann, Rafael Bogdanski, Olaf Jacob
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Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in Argentinien möchte allen Interessierten einen besseren Zugang zu den politischen Ereignissen des Landes ermöglichen. Dafür veröffentlichen wir monatlich ein kurzes Briefing mit den wichtigsten Nachrichten aus dem Land.
Susanne Käss
Leiterin des Auslandsbüros Argentinien / Leiterin des Auslandsbüros Brasilien (kommissarisch)