Buenos Aires-Briefing August und September 2022
gesprochen von Linus Hingst
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Argentinien unter Schock: Gescheiterter Attentatsversuch auf Vizepräsidentin
In der Nacht zum 1. September wurde ein Attentat auf Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner verübt, welches sich am Eingang von ihrer Wohnung im Stadtteil Recoleta in Buenos Aires ereignete. Der mutmaßliche Angreifer versuchte mehrfach, mit einer Pistole auf die Politikerin zu schießen, die jedoch keinen Schuss abgab. Er wurde von den Sicherheitskräften direkt nach dem Attentatsversuch festgenommen. Nach Angaben der argentinischen Behörden handelt es sich um Fernando Andrés Sabag Montiel, einen 35-jährigen Brasilianer, der in den Sozialen Medien durch Systemkritik und Nähe zu extremistischen und rechten Gruppierungen auffiel. Die Behörden verhafteten auch seine Freundin Brenda Uliarte. Sie fanden zudem Dutzende von Nachrichten zwischen dieser und ihrer Freundin Agustina Díaz, in denen die beiden den Anschlag organisiert haben sollen. Die Freundin des mutmaßlichen Attentäters bestritt jedoch die Beteiligung an dem Angriff. Gingen die Behörden zunächst von einem Einzeltäter aus, vermuten sie inzwischen ein Netzwerk von mehreren Tatverdächtigen. Bisher wurden vier Personen festgenommen: der Hauptbeschuldigte Sabag Montiel in der Nacht des versuchten Anschlags, seine Freundin Brenda Uliarte drei Tage später sowie Agustina Díaz und Gabriel Carrizo. Dieser wird derzeit verdächtigt, der Anführer der Gruppe zu sein.
Präsident Alberto Fernández kündigte in der Nacht des Attentatsversuchs einen Feiertag für den nächsten Tag an, um ein symbolisches Zeichen gegen Hass und Gewalt zu setzen. Die politischen Parteien – sowohl die Regierungs- als auch die Oppositionsallianz – verurteilten das Attentat. Der Präsident machte die Opposition für das angespannte politische Klima verantwortlich. Ihm widersprach die Parteivorsitzende der “Propuesta Republicana“ (PRO), Patricia Bullrich: „Der Präsident spielt mit dem Feuer: Anstatt einen schwerwiegenden Vorfall ernsthaft zu untersuchen, beschuldigt er die Opposition und die Presse und verordnet einen Feiertag, um die Anhänger zu mobilisieren." Auch der ehemalige Präsident Mauricio Macri äußerte sich kritisch: „Der Kirchnerismus nutzt den Angriff auf eine Art und Weise für eine Jagd auf Feinde wie die Justiz und die Presse.“ Die Wahrnehmung der Gesellschaft ist sehr unterschiedlich: Zum einen gibt es Gerüchte, dass der Attentatsversuch ein Vorwand sei, um von den Korruptionsvorwürfen gegen Cristina Fernández de Kirchner abzulenken. Die argentinische Justiz beschuldigt die Vizepräsidentin der Korruption während ihrer Amtszeit als frühere Präsidentin (2007- 2015) und fordert eine Haftstrafe von zwölf Jahren. Zum anderen solidarisierte sich ein Teil der Gesellschaft mit der Vizepräsidentin. Am Tag nach dem gescheiterten Attentat kam es landesweit zu großen Solidaritätsbekundungen.
Die Ereignisse lösten auch eine Diskussion über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Argentinien aus. Einige Tage nach dem Anschlag veröffentlichte der Komiker ,,Nik" eine Karikatur über die Geschehnisse. Die Anwälte der Vizepräsidentin reichten eine Beschwerde ein. Der Karikaturist verteidigte sich mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Die unterschiedlichen Reaktionen und Kontroversen auf den Anschlagsversuch in Politik und Gesellschaft zeigt, wie konfliktreich die aktuelle politische Situation im Land ist.
Besuch des Wirtschaftsministers in den USA: Treffen mit Internationalen Währungsfonds (IWF) und Werbung um neue Investoren
Sergio Massa, Wirtschaftsminister seit August 2022, trat mit einer argentinischen Delegation eine einwöchige Reise (6. bis 13. September) in die USA an. Während der Reise wurden nicht nur Gespräche über das Problem der hohen Inflation geführt. Ökonomen schätzen, dass die aktuelle Inflation von 78,5 Prozent bis Ende 2022 bei 100 Prozent liegen könnte im Vergleich zum Vorjahr. Der Minister betonte zudem die großen Potenziale des argentinischen Marktes, insbesondere des Energiesektors. Bei einem Treffen in der US-Handelskammer diskutierte Sergio Massa mit nordamerikanischen Unternehmen verschiedener Branchen über mögliche Maßnahmen, ausländische Investitionen in Argentinien zu erleichtern.
Das wichtigste Treffen fand am letzten Tag seines Besuchs mit Kristalina Georgieva, der geschäftsführenden Direktorin des IWF, statt. Aufgrund der hohen Verschuldung ist Argentinien in hohem Maße von Krediten der internationalen Organisation abhängig. Nach mehreren Sitzungen genehmigte der IWF die zweite Revision des Kredit-Abkommens, welches im März dieses Jahres unterzeichnet wurde. Gemäß dem Abkommen wird Argentinien Zugang zu fast vier Milliarden US-Dollar erhalten. Die endgültige Genehmigung durch das Exekutivdirektorium des IWF wird für die kommenden Wochen erwartet. Der Kredit ist an mehrere Bedingungen geknüpft. Zwei wichtige Bedingungen sind eine Erhöhung der Nettoreserven um 9,8 Milliarden US-Dollar zwischen 2022 und 2023 und die Absenkung des Staatsdefizits auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in 2022 und 1,9 Prozent in 2023. Zum ersten Mal werden dabei die Bedingungen des Kredits bis Ende 2023 festgeschrieben, was die makroökonomische Stabilität des Landes stärken soll.
Mit 47 Milliarden US-Dollar ist Argentinien derzeit der größte Kreditnehmer (Schuldner) des IWF, auf den 29 Prozent aller Kredite entfallen.
Präsident Alberto Fernández spricht vor den Vereinten Nationen
Am 20. September nahm Präsident Fernández zum ersten Mal in Person an der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York teil. Das Treffen der Staats- und Regierungschefs der Welt findet jedes Jahr statt, um globale Probleme zu bekämpfen. Präsident Fernández wies auf die Möglichkeiten Argentiniens hin, einen Beitrag zur Lösung aktueller Probleme leisten zu können. Aufgrund des Ressourcenreichtums des Landes könnte Argentinien eine bedeutende Rolle etwa in der Nahrungsmittel- und Energiesicherheit in der Welt spielen. Außerdem hat sich Argentinien erneut zu dem Schutz der Menschenrechte bekannt. Zum Schluss forderte Alberto Fernández die internationale Gemeinschaft auf, die Blockade gegen Kuba und Venezuela aufzuheben und bekräftigte die Souveränität Argentiniens über die umstrittenen Falklandinseln/Malwinen.
Gewerkschaftsstreik in der Reifenindustrie mit wirtschaftlichen Folgen
Der anhaltende Streik der Sutna, der argentinischen Gewerkschaft der Arbeiter der Reifenindustrie, hat gravierende Folgen für die Automobilindustrie des Landes. Seit Monaten scheitern Tarifverhandlungen zwischen der Gewerkschaft und der Regierung, in deren Zuge sogar ein Sitz des argentinischen Arbeitsministeriums von den Gewerkschaftern besetzt wurde. Das Ziel der Arbeiter ist die Anhebung der Löhne, insbesondere an den Wochenenden.
Der Konflikt führte nach 35 gescheiterten Tarifverhandlungen zur gänzlichen Einstellung der Reifenproduktion der Hersteller Pirelli, Bridgestone und Fate, was momentan einen Lieferrückstand von über 1,3 Millionen Reifen für die nationale Industrie und den Export bedeutet. Infolgedessen stellte Ford Argentinien bereits die Produktion ein und auch Volkswagen und Renault kündigten an, ihre argentinischen Werke bis Ende September schließen zu müssen. Auch die Hersteller von Landwirtschaftsmaschinen sehen sich gezwungen, trotz eines bestehenden Abkommens mit den nationalen Herstellern nun Reifen aus dem Ausland zu importieren.
Ausblick für Oktober 2022
› National: Der Peronismus feiert am 17. Oktober den "Tag der Loyalität". An diesem Tag fand 1945 in Buenos Aires ein großer Protest der Arbeiterbewegung statt, welche die Freilassung von Juan Domingo Perón forderte. Durch den Druck ließ die Regierung Perón frei, der im folgenden Jahr die Wahlen gewann und als Präsident die argentinische Politik für viele Jahre prägte. Daher wird der 17. Oktober als Geburtsstunde der peronistischen Bewegung bezeichnet.
› Regional: Argentinien blickt gespannt nach Brasilien, seinem wichtigsten Wirtschaftspartner. Im Oktober finden dort Präsidentschaftswahlen statt. Es wird erwartet, dass ein Sieg des Herausforderers Luiz Inácio "Lula" da Silva über den derzeitigen Präsidenten Jair Bolsonaro die Integration zwischen Brasilien und der Region, vor allem im Mercosur, verbessern könnte.
› International: Am 7. Oktober dieses Jahres werden die Vereinten Nationen über die Fortsetzung der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in Venezuela abstimmen. Es wird erwartet, dass Argentinien dafür stimmen wird. Gleichzeitig will Präsident Alberto Fernández jedoch Argentiniens Beziehungen zu Venezuela nicht gefährden.
Trivia: Der Film Argentina 1985 ist als Kandidat für die Oscarverleihung 2023 als bester internationaler Film nominiert. Er handelt von einem Gerichtsprozess gegen die Verantwortlichen der letzten Militärdiktatur unmittelbar in den Anfangsjahren der argentinischen Demokratie.
© Fotos: La Nación, Casa Rosada
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Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in Argentinien möchte allen Interessierten einen besseren Zugang zu den politischen Ereignissen des Landes ermöglichen. Dafür veröffentlichen wir monatlich ein kurzes Briefing mit den wichtigsten Nachrichten aus dem Land.
Susanne Käss
Leiterin des Auslandsbüros Argentinien / Leiterin des Auslandsbüros Brasilien (kommissarisch)