Ausgabe: 4/2021
„Zum ersten Mal waren wir nicht getrennt in 2,5 Millionen Einwohner des Westjordanlandes, 2 Millionen Einwohner des Gazastreifens, 2 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft und eine halbe Million Ost-Jerusalemerinnen und Ost-Jerusalemer, nein! Zum ersten Mal waren wir einfach Palästinenserinnen und Palästinenser. 7 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser!“ Haneen, 34, aus Ramallah
Während der letzten kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen im Mai 2021 gingen viele Bilder um die Welt. Meistens zeigten diese die Raketen der Hamas, die von dem Raketenabwehrsystem Israels in der Luft abgefangen wurden, sowie Bilder der Zerstörungen in Israel und Gaza. Aber diese bislang letzte Eskalation brachte auch neue Bilder hervor, die es so lange nicht gegeben hatte. Sie zeigten eine rebellierende palästinensische Jugend, die sich organisierte – in Demonstrationen, bei Protestaktionen und in den Sozialen Medien. Hashtags wie #GazaUnderAttack und #SaveSheikhJarrah gingen viral und bestimmten über Tage die Trends bei Twitter. Prominente wie die Topmodels Gigi und Bella Hadid oder Popstar John Legend solidarisierten sich mit den palästinensischen Protesten.
Im Vergleich zu Demonstrationen der vergangenen Jahre protestierte die Jugend aber nicht ausschließlich gegen die jeweils eigenen lokalen Probleme, wie zum Beispiel in Gaza gegen die Blockade, im Westjordanland gegen den israelischen Siedlungsbau und damit einhergehende Landenteignungen oder in Ost-Jerusalem gegen die Häuserzerstörungen. Stattdessen prägten gemeinsame Slogans wie „End the Occupation“, „Save Sheikh Jarrah“ oder „End the Siege on Gaza“ die Demonstrationszüge. In Ramallah protestierten junge Menschen in Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung Haifas, in Israel in Solidarität mit der Bevölkerung Gazas und in Gaza in Solidarität mit den von Zwangsräumungen bedrohten Bewohnerinnen und Bewohnern in Ost-Jerusalem.
Die Proteste waren zudem mehrheitlich nicht von spezifischen Gruppen oder politischen Parteien organisiert, sondern entstanden häufig spontan, obgleich die Hamas an vielen Orten versuchte, eine prominente Führungsrolle zu übernehmen. Dennoch gingen Palästinenserinnen und Palästinenser in erster Linie mit einem Gefühl der Einheit auf die Straße: Musliminnen und Muslime, Christinnen und Christen, Jung und Alt, studentische, feministische und gewerkschaftliche Gruppierungen, Mitglieder aller politischer Strömungen. Das Gesamtbild, das sich zeichnete, war für viele ein Bild des Aufbruchs.
Und tatsächlich wird die letzte Protestbewegung, die sich deutlich in den Sozialen Medien widerspiegelte, von vielen Palästinenserinnen und Palästinensern, insbesondere der Jugend, als Beginn einer neuen Ära verstanden, als Anfang einer besseren Zukunft. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings schnell klar, dass die protestierende Jugend zwar davon überzeugt ist, dass die Situation so, wie sie ist, nicht bleiben kann. Eine einheitliche und verbindende Vision, die es anzustreben gilt, existiert jedoch nicht. Zudem scheint die Realisierung des möglichen gemeinsamen Nenners der Proteste, wie ein Ende der israelischen Militärbesatzung im Westjordanland und eine Auflösung oder zumindest Reformierung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), aufgrund der bestehenden Machtverhältnisse als Utopie. Ein genauer Blick auf die Lebensrealität, die Herausforderungen und die Hoffnungen der Jugend in den Palästinensischen Gebieten offenbart daher eine vielschichtige Realität der Widersprüche.
Derzeit leben im Westjordanland und im Gazastreifen rund 5,2 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser. Die Bevölkerungszahl hat sich somit in den letzten 25 Jahren nahezu verdoppelt. 66 Prozent der Bevölkerung sind 29 Jahre alt oder jünger, das Durchschnittsalter liegt bei 20,8 Jahren. Der Anteil der Jugend an der Gesamtbevölkerung ist daher dominierend, allerdings spiegelt sich dies nicht in den politischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen wider. Obwohl die 18- bis 29-Jährigen, wie bei den vergangenen Protesten, vermehrt politisch in Erscheinung treten, haben sie bislang keinerlei Einfluss auf die palästinensische Politik geltend machen können. Der Altersunterschied zwischen der Führungselite und dem Durchschnittsalter der Bevölkerung beträgt mehr als 50 Jahre, das Durchschnittsalter des Fatah-Zentralkomitees liegt bei 70 Jahren. Kein Mitglied der palästinensischen Führungsstrukturen ist jünger als 35 Jahre. Die letzten nationalen Wahlen fanden vor 15 Jahren statt. Der Anspruch der jungen Gesellschaft auf politische Partizipation wird somit von der alteingesessenen Elite zurückgewiesen.
„Das Internet ist für uns alles. Wir kommunizieren, lernen und arbeiten über das Internet. Bei Luftangriffen werden wir gewarnt, die Solidarität der internationalen Gemeinschaft hilft uns standzuhalten. Ich wüsste wirklich nicht, wie wir ohne das Internet überleben würden.“ Iyad, 24, aus Gaza
Die palästinensische Jugend ist Bestandteil der universellen Generation Z, verbindet dies jedoch mit ihren ganz eigenen Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen. Als Generation, die nach dem Abschluss der Oslo-Verträge mit der Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde und der kurz darauffolgenden Zweiten Intifada sozialisiert wurde, ist ihr Leben geprägt vom Fortschreiten der israelischen Besatzung, dem innerpalästinensischen Konflikt zwischen Fatah und Hamas sowie dem zunehmenden Autoritarismus der PA. Sie erlebt einerseits die umfassende und stetig ansteigende israelische Kontrolle, lebt aber gleichzeitig unter einer palästinensischen Selbstverwaltung, die mit ihren Institutionen zumindest den Anschein einer Herrschaftsform erfüllt. Diese Parallelität führt innerhalb der palästinensischen Jugend zu widersprüchlichen Wahrnehmungen der Autoritäten, innerhalb derer ihre Bedürfnisse und Wünsche keine tragende Rolle spielen. Zur lokalen Erfahrung der jungen Generation, die zwischen dem Westjordanland, Ost-Jerusalem und Gaza bereits höchst unterschiedlich ist, kommen drei weitere regionale und globale Entwicklungsstränge hinzu: der „Arabische Frühling“, die neue digitale Welt und ihre Möglichkeiten sowie der moderne globalisierte Diskurs unter Jugendlichen.
Der „Arabische Frühling“ offenbarte, dass Widerstand gegen Autoritätspersonen, darunter Eltern, öffentliche Würdenträger und Mitglieder der nationalen Führung, trotz eines hierarchischen Gesellschaftssystems möglich ist. In den Palästinensischen Gebieten kam es im Zuge des „Arabischen Frühlings“ zwar nur zu einer geringen Mobilisierung und letztlich zu keinen politischen Auswirkungen, doch die Ereignisse, insbesondere in Ägypten, und die Konfrontation mit den regionalen Eliten haben einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Hinzu kommen nun die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der digitalen Welt. Die palästinensische Jugend ist mittlerweile den Reizen der westlichen Konsumkultur ausgesetzt. So hat sich im Westjordanland seit wenigen Jahren das Online-Shopping etabliert, wodurch ein Zugang zu Marken und Waren möglich wird, die dort lange durch die Beschränkungen der israelischen Besatzung nicht erhältlich waren. Neue Cafés und Restaurants nach westlichem Vorbild sind zu beliebten Treffpunkten geworden. Das Leben unter den Beschränkungen der Besatzung wird so für viele erträglicher, was den Drang zur Rebellion beschwichtigt. Zudem sind die Sozialen Medien für die palästinensische Jugend das Tor zur Welt geworden.
Dies gilt ganz besonders für die Jugendlichen im Gazastreifen, die aufgrund der seit 2007 bestehenden Blockade kaum Möglichkeiten haben, den Küstenstreifen zu verlassen und in direkten Kontakt mit der Außenwelt zu treten. Innenpolitisch hat die Hamas im Laufe der Jahre zwar gegen abweichende Meinungen hart durchgegriffen, die Lehrpläne der Schulen beeinflusst und ihre islamisch-fundamentalistischen Moralkodizes durchgesetzt. Das Internet wird von der Hamas jedoch mit Ausnahme von pornografischem Material kaum zensiert und bildet damit einen für Gaza ungewohnten Ort der Freiheit.
So kann auch der innerpalästinensische Diskurs, der eine zentrale Rolle für die Aufrechterhaltung und Neugestaltung der palästinensischen nationalen, kulturellen und politischen Identität spielt, nur mithilfe Sozialer Medien über die Grenzen und Checkpoints hinweg ermöglicht werden. Zwar ist es für palästinensische Jugendliche in Gaza in der Regel nicht möglich, Palästinenserinnen und Palästinenser im Westjordanland oder in Israel zu treffen, die Sozialen Medien ermöglichen nun allerdings einen innerpalästinensischen Diskurs, professionelle und künstlerische Kooperationen und sogar den Aufbau von Freundschaften und Beziehungen und wirken somit der Entfremdung durch die Fragmentierung entgegen.
Vor allem aber ist es der palästinensischen Jugend durch das Internet möglich, sich mit dem modernen Jugenddiskurs weltweit zu vernetzen und sich ihrer eigenen Bürger-, Menschen- und Individualrechte bewusst zu werden, die teilweise sogar die Frage nach nationalen Rechten in den Hintergrund rücken. Die Verknüpfung der Menschenrechte für Palästinenserinnen und Palästinenser mit anderen Menschenrechtsbewegungen weltweit wurde vor allem im Zusammenspiel mit der Black-Lives-Matter-Bewegung deutlich, die im Juni 2020 durch den Mord an dem schwarzen US-Amerikaner George Floyd durch einen weißen Polizisten ausgelöst wurde und der sich auch junge Palästinenserinnen und Palästinenser anschlossen. Bis heute ist ein großes Porträt Floyds auf der palästinensischen Seite der israelischen Trennungsmauer in Bethlehem zu sehen, in Ramallah zierten zeitweise Poster die Häuserwände, auf denen George Floyd gemeinsam mit Eyad Hallaq und Razan al-Najjar, zwei palästinensischen Opfern israelischer Polizei- bzw. Militärgewalt, abgebildet war. Für viele junge Palästinenserinnen und Palästinenser sind Floyd, Hallaq und al-Najjar gleichermaßen Opfer rassistischer Staatsgewalt, die es ihrer Meinung nach mithilfe einer globalen Menschenrechtsbewegung zu bekämpfen gilt.
„Wir haben nicht viel von den Ergebnissen der Wahlen erwartet, aber wir waren so aufgeregt, zum ersten Mal an einem demokratischen Prozess teilzunehmen, zu spüren, dass wir eine Stimme haben könnten, die tatsächlich zählt! Stellt euch das vor, ich bin eine 27 Jahre alte Journalistin und habe noch nie in meinem Leben gewählt. Aber als die Wahlen abgesagt wurden, haben meine Freunde und ich komplett das Vertrauen verloren. Nach dieser Enttäuschung weiß ich wirklich nicht, ob sich überhaupt noch jemand für künftige Wahlen registrieren lassen würde.“ Jalaa, 27, aus Nablus
Die Widersprüche der palästinensischen Jugend setzen sich im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext fort. Bildung, Karriere und Internationalisierung werden angestrebt, jedoch von Arbeitslosigkeit, Armut und Reisebeschränkungen konterkariert. Die zunehmende Interaktion über die Sozialen Medien verschafft der palästinensischen Jugend zudem Einblicke und Kontakte in andere, freizügigere und liberalere Kulturen im Vergleich zu den traditionellen Konventionen, die in vielen palästinensischen Familien und im öffentlichen Alltag vorherrschen. Daher überrascht es kaum, dass viele palästinensische Jugendliche von einem kollektiven Erstickungsgefühl, Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit ihren Eltern und einer tiefen Entfremdung von der politischen Führung berichten. Dabei ist nicht nur die Wahrnehmung einer seit Jahrzehnten an der Macht befindlichen Elite mit vorrangig persönlichen Interessen vorherrschend. Die daraus resultierende Distanz führt zu einer steigenden Unzufriedenheit mit den staatlichen Institutionen und den politischen Parteien.
Diese Unzufriedenheit kann bislang nicht in neuen politischen Bewegungen und Parteien kanalisiert werden. Die Fatah-geführte Palästinische Autonomiebehörde wie auch die Hamas im Gazastreifen lassen Neuregistrierungen von Parteien nicht zu, ein Parteiengesetz wurde in beiden Entitäten nie umgesetzt. Nach der Ankündigung von nationalen Wahlen zu Beginn des Jahres 2021 registrierten sich etwa 30 offiziell von den bereits existierenden Parteien unabhängige Wahllisten. Deren Kampagnenfähigkeit hätte sich auf lediglich vier Wochen Wahlkampf beschränken müssen, parteiähnliche Organisationsstrukturen dürfen nicht aufgebaut werden. Gemäß Umfragen ging von diesen Listen, abgesehen von Abspaltungen der Fatah, keine Gefahr für die etablierten Parteien aus, da nur wenige wohl die Sperrklausel von zwei Prozent überstanden hätten.
Letztlich wurden die Wahlen, in denen viele junge Palästinenserinnen und Palästinenser einen neuen Impuls für eine Demokratisierung sahen, unter dem Vorwand der nicht gesicherten Wahlbeteiligung der Ost-Jerusalemer Bevölkerung abgesagt. Dass die regierende Fatah aufgrund von internen Differenzen und angesichts einer stabilen Hamas um ihre Vormachtstellung im Westjordanland fürchtete, war insbesondere für die palästinensische Jugend offensichtlich. Einmal mehr wurden Hoffnungen auf kleine Fortschritte weg von der palästinensischen Gerontokratie zurückgewiesen. Neue Ansätze für eine Öffnung der Führungselite oder gar zur Durchführung von Wahlen werden nach dieser neuerlichen Enttäuschung kaum noch Glaubwürdigkeit entfalten.
Darüber hinaus ist politische Aktivität in den Palästinensischen Gebieten auch nicht ungefährlich. Vermehrt werden Kritiker des Systems von palästinensischen Sicherheitskräften verhört und festgenommen. Zudem kann Aktivismus Probleme mit Israel zur Folge haben, wie Festnahmen oder das Verwehren der Ausreise bzw. die Nichtausstellung von Erlaubnispapieren, Israel zu betreten. Zuletzt zeigte die Tötung des politischen Aktivisten und Systemkritikers Nizar Banat durch palästinensische Sicherheitskräfte, wie hoch der Preis für freie Meinungsäußerung sein kann. Die gewaltvolle Niederschlagung der darauffolgenden Proteste durch den palästinensischen Sicherheitsapparat in vielen Städten des Westjordanlands hatte eine zusätzliche einschüchternde Wirkung.
All dies sind Faktoren, die viele junge Palästinenserinnen und Palästinenser davon abhalten, politisch in Erscheinung zu treten. Die geringen Erfolgsaussichten mit dem gleichzeitig hohen persönlichen Risiko führen bei vielen zu der Entscheidung, stattdessen eher individuelle Ziele zu verfolgen.
„Wenn du nicht der Sohn oder die Tochter von jemandem mit Einfluss bist, wirst du nicht respektiert. Und die Politikerinnen und Politiker, die über dein Leben entscheiden, sind drei- oder viermal so alt wie du. Es gibt die Regierenden und es gibt uns, die Jugend, keine Verbindung dazwischen. Das ist unser politisches System, ein System von alten Männern. Es ist frustrierend für uns.“ Elias, 21, aus Ost-Jerusalem
Junge Palästinenserinnen und Palästinenser sind somit an individueller Entwicklung und Selbstverwirklichung interessiert, haben aber durch die Beschränkungen der israelischen Besatzung und der zunehmend autoritären Palästinensischen Autonomiebehörde kaum Möglichkeiten, diese auch zu verfolgen. Ein Grund dafür liegt im patriarchalischen System, das sich sowohl im gesellschaftlichen Kontext wie auch in der Politik widerspiegelt: Die Ältesten besitzen die Macht und entscheiden mittels eines streng hierarchischen Systems über die Zukunft. Nachwuchskräfte werden weitgehend ausgeschlossen. Insbesondere innerhalb der Fatah spielt das Senioritätsprinzip eine entscheidende Rolle, denn für jedes Jahr der Mitgliedschaft gibt es einen Punkt, deren Summe sodann für hochrangige Positionen qualifiziert. Die palästinensische Gerontokratie kann damit auch als Spiegelbild der internen Organisationsprinzipien der Fatah betrachtet werden.
Die Hamas im Gazastreifen wiederum hat sich zwar in mehreren internen Wahlen seit 2007 einem innerparteilichen Diskussionsprozess gestellt, nach außen hin schränkt sie jedoch Meinungs- und Pressefreiheit stark ein und geht massiv gegen kritische Stimmen vor. Die Beteiligung an den Hamas-Strukturen ist zudem an die bedingungslose Unterstützung für deren islamistische Ideologie geknüpft. Dennoch wächst die Zustimmung zur Hamas vor allem in Zeiten von Krieg bzw. Eskalationen. Von vielen Palästinenserinnen und Palästinensern – selbst jenen, die der Hamas sonst politisch, ideologisch und manchmal sogar religiös fern sind – wird die Hamas in solchen Zeiten oftmals als einzige Kraft wahrgenommen, die Israel etwas entgegensetzen kann. Insbesondere während der Eskalation im Mai 2021 paarte sich diese Einschätzung mit der Enttäuschung vieler über Präsident Mahmoud Abbas und die Palästinensische Autonomiebehörde mitsamt der Fatah, die während der Proteste in allen palästinensischen Städten kaum in Erscheinung trat.
Doch die palästinensische Gesellschaft wird nicht nur von patriarchalischen und hierarchischen Strukturen geprägt. Die anhaltende politische Spaltung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland aufgrund der Rivalität zwischen Hamas und Fatah führt zu einem vertieften Fraktionalismus, der Gräben auch durch Familien hinweg aufreißt. Dennoch folgen mitunter palästinensische Jugendliche dem politischen Beispiel ihrer Eltern, da eine Mitgliedschaft in einer der beiden Parteien zumindest theoretisch eine Chance auf Gehör und einen Arbeitsplatz verspricht. Andererseits werden junge Palästinenserinnen und Palästinenser immer wieder auch aufgrund der politischen Ausrichtung ihrer Familien etikettiert, obgleich sich die politischen Überzeugungen nicht decken mögen. Der Fraktionalismus und die Zugehörigkeit zur Partei eröffnen sodann eine allgegenwärtige Erwartungshaltung gegenüber dem eigenen Lager. Da sowohl Fatah als auch Hamas in ihren jeweiligen Entitäten den öffentlichen Sektor und damit den Hauptarbeitgeber dominieren, ist Korruption alltäglich. Wer sich Vorteile verschaffen möchte, findet an entsprechender Stelle einen Parteifreund. Die meisten palästinensischen Jugendlichen empfinden dies zwar als schädlich, dennoch werden sie häufig, wenn auch ungewollt, mindestens über den Bildungs- oder Arbeitsmarkt in derartige Abhängigkeiten gedrängt.
„Ich habe Sport studiert, ich war Handballspieler des Nationalteams. Aber jetzt arbeite ich als Tagelöhner in Israel. Jeden Morgen überquere ich an einer anderen Stelle die Grenze. Was soll ich tun? Da drüben verdiene ich dreimal so viel Geld wie hier, und ich brauche das Geld, um eine Familie zu gründen. Ich habe keine Wahl.“ Yazan, 29, aus Tulkarem
Denn auch die wirtschaftlichen Aussichten sind düster. Die Beschränkungen der israelischen Besatzung und die teils willkürlich erscheinende Bürokratie der Palästinensischen Autonomiebehörde machen ein Florieren der Wirtschaft oder eine Entfaltung von neuen Unternehmensideen nahezu unmöglich. Dies hat zur Folge, dass viele junge Palästinenserinnen und Palästinenser zunächst ihre Kapazitäten dafür aufbringen müssen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten – politisches Engagement verliert dementsprechend an Priorität.
Der Bildungsgrad in der palästinensischen Gesellschaft gilt zwar im internationalen Vergleich als gut, dennoch sorgt besonders dieser Bereich für eine beachtliche Frustration. Je nach Region besitzen zwischen knapp 14 Prozent (Region Hebron) und 23,4 Prozent (Region Ramallah) der Menschen in den Palästinensischen Gebieten einen Universitätsabschluss. Doch eine Arbeitslosenquote von 53 Prozent unter jungen Absolventinnen und Absolventen, im Gazastreifen gar 72 Prozent, führt aufgrund der enttäuschten Erwartungen an das Leben nach dem Studium und der Realität der Arbeitslosigkeit häufig zu einer schweren persönlichen Krise. Dementsprechend nehmen Phänomene wie Kriminalität, Selbstmord, Prostitution, Drogensucht, Schwierigkeiten bei der Familiengründung, Scheidung und Auswanderung (sofern möglich) insbesondere bei hochgebildeten Personen zu.
Neben einer hohen Quote an Akademikerinnen und Akademikern existiert jedoch auch eine hohe Schulabbrecherquote: 25 Prozent der männlichen 15-Jährigen haben die Schule vorzeitig beendet. Hauptgründe dafür sind einerseits das Fehlen eines anregenden Bildungsumfelds aufgrund eines starren Bildungssystems, ein Mangel an Schulen, der zu beengten Klassenzimmern führt, und Schulunterbrechungen aufgrund von Verhaftungen, die insbesondere männliche Jugendliche treffen. Weiterhin veranlassen die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen viele Schüler, die Schule zu verlassen, um ihre Familien zu ernähren oder um von ihnen unabhängig zu werden. Bei jungen Frauen ist die Frühverheiratung oftmals eine bevorzugte Option, da sie ihre Familien finanziell entlastet. Die geringen Chancen, mit Universitätsabschlüssen einen angemessenen Job zu bekommen, lassen viele Heranwachsende zudem fragen, warum sie überhaupt Geld und Zeit verschwenden sollen, wenn der israelische unqualifizierte oder illegale Arbeitsmarkt höhere Löhne verspricht als eine qualifizierte Arbeit im Westjordanland. So ist es mittlerweile besonders in palästinensischen Städten nahe der israelischen Sperranlage zu einem gut dokumentierten Phänomen geworden, dass junge Palästinenser im Morgengrauen durch Löcher in der Anlage israelisches Gebiet betreten, um dort ohne Genehmigung als billige Arbeitskräfte unter anderem in gastronomischen Betrieben oder auf Baustellen zu arbeiten.
„Die Jugend in Jerusalem hat niemanden, der für sie spricht oder sich für sie einsetzt. Doch in den letzten Monaten hat sie es geschafft, sich selbst eine Stimme zu geben. Sie hat Wege gefunden, sich für ihre Rechte einzusetzen und deutlich zu machen, dass Ost-Jerusalem die Hauptstadt Palästinas ist.“ Rami, 43, aus Ost-Jerusalem
Vor allem das von Israel annektierte Ost-Jerusalem ist während des letzten Krieges erneut in den internationalen Fokus gerückt. Nicht nur, weil die gewaltvollen Zusammenstöße um die Al-Aqsa-Moschee zwischen Palästinenserinnen und Palästinensern auf der einen und der israelischen Armee auf der anderen Seite von der Hamas im Gazastreifen als Vorwand genutzt wurden, um die ersten Raketen auf israelisches Gebiet abzufeuern. Auch nach dem Einsetzen des Waffenstillstands standen die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom immer wieder als nationale und religiöse Symbole der Palästinenserinnen und Palästinenser und auch der muslimischen Menschen weltweit im Fokus von Protesten und Zusammenstößen. Nicht selten waren diese auch provoziert von rechtsradikalen Siedlerorganisationen, die Märsche durch den muslimischen Teil der Jerusalemer Altstadt planten und dabei teilweise von ihnen nahestehenden israelischen Knesset-Abgeordneten unterstützt und begleitetet wurden. Viele palästinensische Israelis aus anderen Städten kamen daraufhin nach Jerusalem, um sich hinter die Bewohnerinnen und Bewohnern Ost-Jerusalems zu stellen und die palästinensische nationale Sache am Felsendom zu verteidigen.
Diese Entwicklung ist bedeutsam, zieht man in Betracht, dass für viele Jugendliche Ost-Jerusalems in den vergangenen Jahren ein Prozess der „Normalisierung“, also der Anpassung an eine von israelischer Politik und Gesellschaft vorgegebene Lebensweise, eingesetzt hat. Dies liegt vor allem an der sich verstärkenden Annahme, dass ein unabhängiger palästinensischer Staat nicht nur nicht entstehen wird, sondern dass sie als Bewohner des von Israel annektierten Ost-Jerusalems ohnehin kein Teil davon sein würden.Abgeschnitten von ihrem palästinensischen Hinterland im Westjordanland, ohne Aussicht auf eine politische Einigung und unter einer allgegenwärtigen Diskriminierung in der israelischen Gesellschaft, ebenso wie am israelischen Wirtschafts- und Justizsystem leidend, sind die Jugendlichen in Ost-Jerusalem gefährlich desillusioniert. Zusammen mit Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Armut und Aggressionen durch israelische Siedlerinnen und Siedler führt dies unter den in Jerusalem lebenden Jugendlichen zu einem bedrohlichen Maß an Hoffnungslosigkeit, was zur Folge hat, dass das individuelle „heroische Märtyrertum“ für eine wachsende Zahl junger Menschen zum Wunsch wird.
Da Ost-Jerusalem seit 1980 von Israel annektiert ist und spätere israelische Regierungen dort aktiv eine Politik der Ansiedlung von eigenen Staatsbürgern durchführten, was sich unter anderem durch Häuserzerstörungen, intensivierten Siedlungsbau sowie Entzug palästinensischer Personalausweise äußert, ist nicht zu erwarten, dass israelische Regierungen absehbar sich der Misere der palästinensischen Jugend in Ost-Jerusalem annehmen bzw. Programme zur Förderung der Jugend entwickeln werden. Die palästinensische Regierung im annektierten Ost-Jerusalem hat hingegen keine Handlungsmacht, sodass die dortige palästinensische Jugend faktisch auf sich allein gestellt ist.
Umso bemerkenswerter ist, dass es Ost-Jerusalem und die politischen Aktivitäten der dortigen Jugend waren, die den Kampf für palästinensische Menschenrechte zurück auf die internationale Agenda brachten. Die protestierenden Anwohner der Stadtteile Sheikh Jarrah und Silwan erfuhren eine zuvor nicht gekannte Prominenz. Die von Zwangsräumungen bedrohten Geschwister Mona und Mohammad al-Kurd wurden zu neuen Ikonen der palästinensischen Jugendbewegung, nahezu alle großen internationalen Nachrichtenprogramme berichteten über sie. Ob diese Welle der Solidarität aber tatsächlich auch langfristig für politische Veränderungen vor Ort sorgen wird, das ist momentan die Frage, die viele palästinensische Aktivisten Ost-Jerusalems beschäftigt.
„Allein schon die letzten Monate waren sehr hart. Es ist schwierig, hoffnungsvoll zu bleiben und das Gefühl zu haben, ich könnte etwas verändern. Besonders wenn so viele Elemente außerhalb meiner Kontrolle liegen. Meine Freunde und Gleichaltrige sind diejenigen, die mir jeden Tag beibringen, dass wir als Palästinenserinnen und Palästinenser die Macht haben, unsere Stimme zu gebrauchen. Wir werden weitermachen, bis wir gehört werden.“ Ayat, 25, aus Ramallah
Das widersprüchliche Bild, das sich zeichnet, wenn man sich die Lebensrealität der palästinensischen Jugend in den Palästinensischen Gebieten anschaut, lässt erahnen, warum es für viele junge Palästinenserinnen und Palästinenser bislang noch als bessere Option erscheint, sich innerhalb ihres jeweiligen Systems (israelische Militärbesatzung, Zuständigkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde, Hamas-Regime) zu arrangieren, anstatt dagegen zu rebellieren. Trotz der Möglichkeiten des Internets, untereinander und mit der Außenwelt in Kontakt zu treten und sich über die eigenen Rechte zu informieren, erschweren die geografische Trennung und die unterschiedlichen Herrschaftsformen noch immer die Möglichkeit, im großen Stil gemeinsam politisch aktiv zu werden. Gleichzeitig fühlen sich junge Menschen angesichts der Macht, Stärke und partiellen Gewaltbereitschaft des israelischen Militärs, der palästinensischen Sicherheitskräfte und der Hamas wehrlos und von der internationalen Gemeinschaft, die nicht in der Lage ist, sie bei dem Schutz ihrer Grundrechte zu unterstützen, allein gelassen.
Trotz dieser sehr düsteren Lage schafft die palästinensische Jugend es dennoch immer wieder, durch Optimismus, Tatendrang und Kreativität zu überraschen. Nicht nur gelten Palästinenserinnen und Palästinenser im globalen Vergleich als sehr gebildet, auch hat in den vergangenen Jahren die Anzahl an Neugründungen von Unternehmen zugenommen. Die palästinensische Jugend schafft es, junge Menschen überall auf der Welt für die Legitimität der Forderung nach Menschenrechten zu begeistern. Für viele junge Palästinenserinnen und Palästinenser gilt außerdem das bloße Bleiben und eine Entscheidung gegen das Auswandern immer noch als höchste Form des Widerstands, gemäß dem weit verbreiteten Slogan „Existence is Resistance“.
Die Tatsache, dass dies trotz der harten und ungerechten Lebensrealitäten der Fall ist, erlaubt Grund zur Hoffnung, dass die palästinensische Jugend den Traum eines würdevollen Lebens noch nicht aufgebeben hat. Doch klar ist auch: Mit der israelischen Besatzungspolitik und mit einem fortgesetzten gerontokratischen Herrschaftssystem der Palästinensischen Autonomiebehörde sowie dem repressiven Handeln der Hamas wird der Traum auf eine bessere Zukunft sich so bald nicht erfüllen.
Steven Höfner ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Palästinensischen Gebiete mit Sitz in Ramallah.
Alena Jabarine ist Projektmitarbeiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Palästinensischen Gebiete.
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