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Auslandsinformationen

Editorial der Ausgabe: "NATO. Die unverzichtbare Allianz"

Die NATO wird 75 und wieder mehr Menschen als noch vor wenigen Jahren erkennen sie hierzulande als das, was sie ist: die unverzichtbare Allianz für unsere Sicherheit. Was können wir tun, um die Vereinigten Staaten im nordatlantischen Bündnis zu halten? Welche Rolle kann und sollte die NATO im Indopazifik und an ihrer Südflanke spielen? Und warum ist ihre Partnerschaftspolitik von Asien bis nach Lateinamerika wichtig? Antworten gibt es in dieser Ausgabe der Auslandsinformationen.

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Liebe Leserinnen und Leser,

„heute herrscht im euro-atlantischen Raum Friede und das Risiko eines konventionellen Angriffs auf NATO-Gebiet ist gering“. So steht es im Strategischen Konzept des nordatlantischen Bündnisses – dem von 2010. Dieser eine Satz reicht, um zu verdeutlichen, wie viel sich in den vergangenen nicht einmal 15 Jahren verändert hat. Wenn die NATO in diesem Sommer beim Gipfeltreffen in Washington ihr 75-jähriges Bestehen feiert, dann wird sie das mit einem neuen Strategischen Konzept tun, das der massiven Verschlechterung der Sicherheitslage Rechnung trägt, die wir seither erlebt haben.

Eine Folge dieser Entwicklung ist, dass die hiesige Öffentlichkeit wieder stärker über Verteidigungspolitik diskutiert und deutlich mehr Menschen die NATO als das erkennen, was sie ist: die unverzichtbare Allianz für unsere Sicherheit. In diesem Zusammenhang müssen wir dringend darüber sprechen, wie wir die USA in Europa halten und die verteidigungspolitischen Anstrengungen Deutschlands und Europas stärken können. In dieser Ausgabe der Auslandsinformationen wollen wir zudem auch Aspekte und regionale Blickwinkel in die Debatte einbringen, die sonst weniger im Scheinwerferlicht stehen.

„Zurück in die Zukunft“ – diese Wendung wurde in der jüngeren Vergangenheit verschiedentlich auf die NATO bezogen. Nach Jahrzehnten relativer weltpolitischer Ruhe sei die Allianz heute im Grunde wieder dort angekommen, wo sie 1949 gestartet war: als Bollwerk gegen die Bedrohung aus Moskau. Wahr daran ist, dass die Bündnisverteidigung und die Abschreckung Russlands heute tatsächlich und völlig zurecht wieder zur Priorität geworden sind, wie der deutsche Botschafter bei der NATO, Géza Andreas von Geyr, im Interview mit den Auslandsinformationen verdeutlicht.

Gleichzeitig gibt es jedoch eine ganze Reihe gravierender Unterschiede im Vergleich zur Zeit des Kalten Krieges. In gewisser Weise ist die Situation für die NATO heute noch herausfordernder – jedenfalls komplexer und unübersichtlicher – als damals. So sind die Aufgaben und Probleme, die die vergangenen drei Jahrzehnte geprägt haben, nicht aufgrund unserer erneuten Beschäftigung mit Moskau verschwunden. Die Gefahr des islamistischen Terrorismus, instabile Staaten in Nordafrika, dem Sahel sowie im Nahen und Mittleren Osten: All das ist immer noch da und wird durch Russlands Ziel, diese Regionen zu destabilisieren, zunehmend verstärkt. Trotz der Bedrohung durch Russland in Europa dürfen wir daher die „Südflanke“ der NATO nicht vergessen, betont Lucas Lamberty in seinem Beitrag zur NATO-Beratungsmission im Irak.

Auch ist die Rolle Russlands in Europa und im internationalen System heute eine andere als die der Sowjetunion bis 1991. War diese in Europa eine Status-quo-Macht, will Russland heute Grenzen gewaltsam verändern und nutzt dabei die Drohung mit Atomwaffen als Druckmittel. Gleichzeitig ist der Kreml angesichts des Aufstiegs eines immer aggressiveren Chinas nicht mehr der alleinige Gegenspieler und damit auch nicht mehr die strategische Priorität der Vereinigten Staaten als wichtigstem NATO-Mitglied. Hieraus ergibt sich für die nordatlantische Allianz und insbesondere für deren europäischen Teil die schwierige Frage, welche Rolle sie im Indopazifik spielen kann und soll. Denn wenn der NATO-Generalsekretär wie zuletzt in Washington beschwört, dass die USA die Herausforderungen durch Russland und China nicht trennen dürften, um sich einseitig auf China zu konzentrieren, dann gilt auch der Umkehrschluss: Wir Europäer können die Herausforderung durch China – insbesondere politisch und wirtschaftlich – nicht einseitig den USA überlassen.

Ein probates Mittel ist in diesem Zusammenhang die in den 1990er-Jahren etablierte Partnerschaftspolitik der NATO mit Staaten außerhalb des Bündnisgebiets: ein Instrument, das in Zeiten des globalen Systemkonflikts neue Bedeutung erhalten hat, und das nicht nur in Asien. Ein gutes Beispiel für den – beidseitigen – Nutzen dieser Partnerschaftspolitik ist auch die Kooperation zwischen der NATO und Kolumbien, die Stefan Reith in seinem Artikel analysiert. Aber auch die Partnerschaften mit den sogenannten AP4 – den „Asia-Pacific Four“ Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland – haben einen hohen Wert. Sie sind für diese Staaten ein willkommenes politisches Signal, eint sie doch der sorgenvolle Blick auf Pekings Vormachtstreben in der Region. Deutlich wird bei der Lektüre der Beiträge von Stephen Nagy zur japanischen sowie von Bertil Wenger und Justin Burke zur australischen Perspektive auf die NATO aber auch: Eine wie auch immer geartete Ausdehnung der NATO-Sicherheitsgarantien auf den Indopazifik wird in Tokio oder Canberra weder erwartet noch gewünscht.

Auch, aber nicht nur mit dem Aufstieg Chinas hängt der offensichtlichste und meistdiskutierte Unterschied zwischen der heutigen Situation und dem Kalten Krieg zusammen: die Rolle der Vereinigten Staaten in der NATO. Weder zur Zeit der Blockkonfrontation noch danach war fraglich, ob die USA im Fall der Fälle zu ihren Verpflichtungen aus Artikel 5 des Nordatlantikvertrags stehen würden. Das ist angesichts dessen, was der wahrscheinliche republikanische Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen 2024 regelmäßig zur NATO von sich gibt, nicht mehr eindeutig der Fall. In der Diskussion zur künftigen Rolle der USA im Bündnis konzentrieren wir uns aber zu häufig auf Dinge, die wir nicht beeinflussen können, und zu wenig auf das, was in unserer Hand liegt. Natürlich können wir jetzt noch bis zur Wahl im November gebannt über den Atlantik starren und die regelmäßigen Einwürfe Donald Trumps empört kommentieren. Am Ende aber werden wir, die wir das Schauspiel von Europa aus verfolgen, weder wahlberechtigt noch Teil der nächsten US-Administration sein.

So unterschiedlich die möglichen Szenarien mit Blick auf Washington sein mögen: Wenn wir uns fragen, was wir tun können, um die Vereinigten Staaten in Europa zu halten und unsere eigene Sicherheit zu erhöhen, kommt immer dasselbe heraus: mehr deutsche und europäische Verteidigungsanstrengungen. Die Forderung nach einer gerechteren Lastenteilung innerhalb der NATO kommt seit Jahren sowohl von republikanischer als auch demokratischer Seite; und das wird so bleiben, unabhängig davon, wer der 47. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein wird, wie Peter Rough in seinem Artikel unterstreicht. Sollte Trump die Wahl gewinnen, dürften konkrete Fortschritte bei den europäischen Verteidigungsausgaben – nicht moralische Empörung – das aussichtsreichste Mittel sein, um seine Regierung von einer Fortsetzung des US-Engagements in und für Europa zu überzeugen. Und obwohl wir Europäer das Abschreckungspotenzial der USA nie vollwertig werden ersetzen können, wären starke europäische Verteidigungskapazitäten natürlich auch und gerade im schlimmsten Szenario eines expliziten oder impliziten Rückzugs der USA aus der NATO essenziell. Die von vielen Deutschen über Jahrzehnte gerne genutzte Option – Sicherheitsgarantien ohne ausreichende Eigenanstrengungen – wird dagegen nicht mehr zur Verfügung stehen.

„Tun wir genug?“, fragen Christina Bellmann und Alexander Schuster vor diesem Hintergrund in ihrem Artikel. Die Antwort lautet leider: nein. Und das hängt auch damit zusammen, dass die Debatte, die in Deutschland oft unter der Überschrift „Zeitenwende“ geführt wird, nach wie vor den Ernst der Lage nicht ausreichend widerspiegelt. „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, hatte der Bundeskanzler am 27. Februar 2022 kurz nach Russlands Angriff auf die Gesamtukraine konstatiert. Für die deutsche Verteidigungspolitik gilt das nur bedingt. Ja: Es ist kurzfristig deutlich mehr Geld im System, und das ist auch gut so. Aber es hakt in Deutschland nicht nur beim Materiellen. Woran es uns – auch im Vergleich zu unseren Verbündeten – nach wie vor mangelt, ist die Bereitschaft und Fähigkeit, in Politik und Gesellschaft echte strategische Debatten darüber zu führen, welche Interessen wir auf welchen Wegen verfolgen wollen und welche Partner und materiellen Ressourcen wir dafür benötigen.

Und es hat auch nicht lange gedauert, bis die hergebrachten innenpolitischen Mechanismen wieder zu greifen begannen. Mehr Verteidigungsausgaben, ja gerne – solange alle weiteren politischen Projekte unangetastet bleiben und für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger die Welt im Alltag so bleiben darf wie davor. Am Ende aber wird sich unsere Verteidigungspolitik nicht daran messen müssen, ob wir uns im Rahmen unserer innenpolitischen Möglichkeiten ganz gut geschlagen haben. Entscheidend wird eine einzige Frage sein: Hat es gereicht, um Russland abzuschrecken? Und von der Antwort auf diese Frage wird abhängen, ob wir uns über andere – eigentlich viel wünschenswertere – Aufgaben und Ausgaben überhaupt noch so frei und in Frieden Gedanken machen können, wie wir das seit 75 Jahren gewohnt sind.

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

Ihr

Dr. Gerhard Wahlers ist Herausgeber der Auslandsinformationen (Ai), stellvertretender Generalsekretär und Leiter der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung (gerhard.wahlers@kas.de).

 

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