Ausgabe: 582/2023
Die immer „nachwachsende“ Zeitgeschichte verschiebt stets die Perspektiven der Narration: Dieser Bewegung folgt Horst Möller, indem er keine deutsche Geschichte „des 20. Jahrhunderts“ mehr schreibt, sondern eine der „letzten hundert Jahre“. Damit verabschiedet er die Figur vom „kurzen“ 20. Jahrhundert (1919– 1989/91), das auf ein „langes“ 19. Jahrhundert (1789–1918) gefolgt sei, und betont die Kontinuitäten, sowohl im Blick zurück als auch nach vorn: Das 20. Jahrhundert, dessen Voraussetzungen weit zurück in der Frühen Neuzeit, speziell in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und dann über das 19. Jahrhundert hinweg, entstanden seien, hält auch im 21. Jahrhundert an: ein „langes 20. Jahrhundert“ also. Vielleicht seien die Jahre 1989/91 „gar nicht die umfassende Epochenwende“ gewesen, als die sie optimistisch charakterisiert wurden, und die Zeit danach „nur eine freundliche Atempause“ (S. 587).
Kennzeichnend für das „lange 20. Jahrhundert“ wäre dann nicht der katastrophengesäumte Weg zum letztendlichen „Sieg“ der westlichen Demokratie – Stichwort „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) –, sondern ein Dauermodus der Krise, der genau jenen „Sieg“ in den beiden ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts infrage stellte. Erstrebenswert wäre, dieses anhaltende Krisenjahrhundert zu beenden und „tatsächlich, wie schon 1989/91 erhofft, ein neues Kapitel aufzuschlagen“ (S. 588). Möller ist überzeugt: Aus der Geschichte lässt sich lernen; ob die Menschheit wirklich aus ihr lernt, ist allerdings fraglich. Möllers Buch jedenfalls ist ein wichtiger Beitrag zum Lernen aus der Geschichte, nicht zuletzt deswegen, weil es von drängenden Fragen der Gegenwart her geschrieben ist und diese Fragen in ihre historische Tiefendimension stellt, ohne billige „rückwärtsgewandte Prophetien“ zu betreiben.
Der deutsche Weg der letzten hundert Jahre führt, ausweislich des Untertitels, „von Krieg und Diktatur zu Frieden und Demokratie“. Frieden und Demokratie stehen aber im Lichte einer kontinuierlichen Krise, einer „ungeheuerlichen“, „noch keineswegs beendeten“ Modernisierungskrise (S. 13 f.). Damit ist gleichzeitig der wertkonservative Grundtenor des Buches gesetzt: Die rasante Abfolge der vor allem wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Modernisierungen habe – bei allem mit ihnen verbundenen Fortschritt – den alten Traum der Aufklärer von der „Verbesserung des Menschengeschlechts“ nicht erfüllt; an die Stelle Gottes sei im großen Prozess der Säkularisierung die Religion der Wissenschaft, eine „Anthropologie des Rationalen“ getreten, die freilich in die Verabsolutierung des Menschen durch sich selbst im Zeichen eines hybrisbehafteten Willens „zum Absoluten im Diesseits“ (S. 25) geführt habe. Wird das 21. Jahrhundert aus dieser wenig erfreulichen „Botschaft des 20. Jahrhunderts […] die Lehre ziehen?“ (S. 18)
Gläserner Mensch und Massengesellschaft
Die deutsche Geschichte handelt Möller innerhalb dieses Interpretationsrahmens in den Bedingungen von Langfristigkeit und Transnationalität ab. Sie ist insgesamt eingeordnet in die Globalgeschichte der Moderne, steht aber auch exemplarisch für sich: „Auf deutschem Boden ist während des 20. Jahrhunderts jede Staatsform, jedes politische System, jede kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung, Fortschritt und Rückschritt in einer Massivität anzutreffen, die die deutsche Geschichte dieser Epochen mit allen Licht- und Schattenseiten als Laboratorium der Moderne erscheinen lässt“ (S. 36). In diesem Laboratorium schlägt die Geschichte „Purzelbäume“ (S. 37) – vorwärts und rückwärts. Möller treiben vor allem zwei ungelöste und beunruhigende Themen um: „gläserner Mensch“ und entindividualisierte Massengesellschaft. Im Laboratorium der Moderne wird der Mensch auf totale Weise durchschaubar und damit demoskopisch, psychologisch, auch biologisch (Entschlüsselung des Genoms) lenkbar. Der Schrift Gustave Le Bons von 1895 über die Psychologie der Massen kommt hierbei eine visionäre Rolle zu, der erstmaligen Ausstellung eines „gläsernen Menschen“ 1930 im Dresdner Hygienemuseum eine symbolische. Der Durchleuchtung des Einzelnen korrespondiert die Beherrschung der Masse; die klassisch idealistische Idee der Perfektibilität des Individuums in der Sittlichkeit wird abgelöst von der schematischen Gleichheit aller in der Masse. Das sei der Inhalt des „Requiems“ des 20. Jahrhunderts „auf das alte Europa“ (S. 37). Die nationalsozialistische Gleichschaltung und die kommunistische Diktatur des Proletariats sind die extremen Konsequenzen dieser Prozesse. In ihnen liegen jedoch auch die Problemanzeigen begründet, gegenüber denen sich die moderne Demokratie zu bewähren hat.
„Gläserner Mensch“ und Massengesellschaft fordern auf besondere Weise die repräsentative parlamentarische Demokratie heraus, das in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts einzige System, das bewiesen hat, in Verbindung mit einer sozialen Marktwirtschaft Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zuverlässig garantieren zu können. Sie ist bedroht durch den „Kurzschluß“ einer „identitären“ (Carl Schmitt), das heißt plebiszitären Demokratie, die Massen „direkter“ an den politischen Entscheidungen beteiligen zu können. Sie ist aber auch bedroht durch das Streben von Gleichheitsideologien, die „perfekte Abbildung jeder gesellschaftlichen Randströmung“ an die Stelle „effizienter parlamentarischer Entscheidungsbildung für das ganze Wahlvolk“ zu setzen (S. 181). Auf der anderen Seite höhlt der expandierende Interventionsstaat die repräsentative Demokratie aus, indem er als Garant des Wohlstands einerseits Allzuständigkeit beansprucht, andererseits für alles verantwortlich erklärt wird – mit gravierenden Folgen für die Freiheit.
Möller diskutiert diese sehr aktuellen Gefährdungen im Lichte der deutschen Geschichte der letzten hundert Jahre. Dabei gewinnt besonders die Deutung der Weimarer Republik einen neuen Akzent. Sie ist in ihrem Scheitern – das Möller zufolge keineswegs zwangsläufig war, „noch bis 1932/33 bestanden Alternativen“ (S. 183) – keineswegs nur Präludium zur NS-Diktatur und mahnender Kontrapunkt zur Bundesrepublik („Bonn ist nicht Weimar“), sondern ein eigenständiges und in seinen Leistungen durchaus bedeutendes Produkt jenes Moderne-Laboratoriums, in dessen Geschichte sich auf spezifische Weise eine jüngst wieder aktuell gewordene Gefahr für moderne Demokratien realisierte, nämlich die der Zerstörung von innen.
Potenzial zur Selbstzerstörung
Strukturprobleme der Massendemokratie – dass etwa ein demokratisches Wahlrecht noch längst keine demokratischen Mehrheiten garantiert – lassen sich von ihrem Beispiel ausgehend mit Erkenntnisgewinn erörtern, ohne vorschnelle Parallelführungen zu strapazieren.
Dass die russische Ukraine-Aggression die Vorzeichen mittlerweile wieder etwas verschoben und zumal der Bundesrepublik vor Augen geführt hat, dass die freiheitliche Demokratie auch nach außen hin verteidigungsfähig sein muss, macht den globalen Befund der populistischen Jahre seit Donald Trump nicht besser: Die moderne Demokratie unter den Bedingungen des „gläsernen Menschen“ und der Masse trägt ein beunruhigendes Potenzial zur (Selbst-)Zerstörung in sich. Vor dem Hintergrund dieser, auch nach den Erfahrungen der NS-Diktatur sowie des SED-Regimes nicht beseitigten Strukturprobleme erscheint die Aufbau- und Kontinuitätsleistung der Bundesrepublik umso bemerkenswerter, für die vor allem die großen christlich-demokratischen Kanzler von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, aber auch die Jahre der von einer auf dem Wertefundament der Bundesrepublik angekommenen SPD geführten sozialliberalen Koalition stehen.
Westbindung, europäische Integration und ein im Großen und Ganzen stabiles Menschen- und Gesellschaftsbild unter den Vorzeichen freier und selbstbestimmter Persönlichkeitsentfaltung in sozialer und subsidiärer Verantwortung bilden, wie Möller ausführlich herausarbeitet, wesentliche Garanten dieser Aufbauleistung. Hinzu kommt der historische Sinn, das Bewusstsein der Verantwortung vor der deutschen Geschichte in ihrer europäischen Verflechtung, wie es besonders Helmut Kohl gepflegt habe. Die DDR wird demgegenüber klar als historischer Irrtum, als Unrechtsregime gekennzeichnet (zum Beispiel S. 370, S. 391, S. 515). Sie sei keine „Marginalie der deutschen Geschichte“ gewesen, blieb allerdings weit entfernt von einer „Alternative zur liberalen Demokratie und sozialen Marktwirtschaft“ (S. 398). Mit dieser Feststellung verbindet Möller notabene keinerlei abschätziges Urteil über die Biographien jener Millionen Menschen, die gezwungen waren, unter diesem Zwangsregime und vielfach unter großem Leid ihr Leben zu gestalten.
Durch den Fokus auf die „letzten hundert Jahre“ rücken bei Möller der Erste Weltkrieg und die Revolution von 1918/19 an den Rand, in den Rang von Vorgeschichten. Aber natürlich kann die „Urkatastrophe“ gar nicht außer Acht bleiben; sie wird „wirkungsgeschichtlich“, weniger „ereignisgeschichtlich“ (S. 42) in das Gesamtbild eingebunden. Möller betrachtet die Epoche der Weltkriege in ihrem inneren Zusammenhang „fast“ als einen „neuen dreißigjährigen Krieg“ (S. 40) und ebenfalls unter dem Paradigma des „Kriegs der Massen“ (zum Beispiel S. 50–64). 1918/19 und 1933–1945 werden als zwei revolutionäre Phasen in diese Epoche eingeschrieben; besonders die „Machtergreifung“ erfüllt für Möller „alle entscheidenden Kriterien einer Revolution“ (S. 206). Demgegenüber wird die Wiedervereinigung, das „bedeutendste Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte“, nicht als (friedliche) Revolution erzählt, sondern als folgerichtiger Zusammenbruch eines delegitimierten und bankrotten Systems, dem sich ein politisch moderierter Prozess mit einem nicht minder folgerichtigen Ergebnis anschloss: „erstmals in der Geschichte wurde [die deutsche Frage] ohne Krieg und im schließlich erreichten Einverständnis mit allen Nachbarstaaten gelöst“ (S. 548).
Unsicherheiten und Veränderungsdruck
Das letzte Viertel des Hundertjahreszeitraums wird im Rahmen eines „Epilogs“ abgehandelt (S. 564–588), in dem der Historiker als Zeitgenosse spricht und damit eher einen „historisch-politischen Diskussionsbeitrag“ denn eine „abgeklärte quellenfundierte Interpretation“ bietet. Das Urteil über die Kanzlerschaften Gerhard Schröders und Angela Merkels fällt gemischt aus: Beide hätten „mehr oder weniger erfolgreich“ als „Krisenmanager“ agiert (S. 566), in einer von großen Unsicherheiten und hoher Veränderungsdynamik geprägten Zeit. Die innere Aushöhlungsdynamik der Demokratie habe unter Merkel an Tempo gewonnen – durch die fortgesetzten, die Tektonik von Regierung und Opposition schwächenden Großen Koalitionen, durch die Profilverwässerung der großen politischen Parteien und durch „fragwürdige“ (S. 576), ins Populistische tendierende Entscheidungen von großer Tragweite, ohne ausreichende Konsultationen und Beratungen, „nach Stimmungen“. Eingebettet in den durch diese Eckpfeiler abgesteckten Rahmen, gibt Möller konzise, gleichzeitig reich fundierte wie kunstvoll verdichtete und in lebendige Prosa gegossene Überblicke zu den großen Blöcken dieser hundert Jahre, zu Weimar, zu Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, zur unmittelbaren Nachkriegszeit, zur Bundesrepublik, DDR und zur Wiedervereinigung. Wenige dürften für diese Aufgabe besser befähigt sein als Horst Möller, langjähriger Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (1992–2011), Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität und Autor zahlreicher bedeutender Einzelstudien zur Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts. Eine weitere stellt er mit diesem Buch in die Reihe seines Œuvres – eine beeindruckende historiographische Leistung, geschöpft aus der Fülle eines reichen Gelehrtenlebens.
Thomas Brechenmacher, geboren 1964 in Immenstadt, Historiker, Professor für Neuere Geschichte, Universität Potsdam.