Ausgabe: 582/2023
Können Sie sich vorstellen, in Deutschland im Falle einer Erkrankung nicht annähernd die Überlebenschancen zu haben wie international üblich? Sollten Sie einmal in die Situation kommen, dass man Ihnen zu einer Organtransplantation rät, werden Sie genau das hören, und Sie werden damit leben (oder auch sterben) müssen.
Normalerweise macht man sich über seinen Körper kaum Gedanken. Er funktioniert. Das ist jedoch nicht selbstverständlich; schon Kleinigkeiten können fatale Folgen haben: Ein vermeintlich banaler Virusinfekt kann eine Herzmuskelentzündung auslösen, eine Medikamentennebenwirkung ein Leberversagen, ein falsch gesammelter Pilz einen Totalausfall beider Nieren. Terminales Organversagen (etwa Herzversagen, Leberausfall oder Lungenversagen) bedeutet ohne lebensrettende Transplantation immer den Tod – mit Ausnahme des terminalen Nierenversagens, denn in diesem Fall kann eine Dialyse auch über Jahre das Leben bewahren. Allerdings hat jeder Dialysepatient eine stark reduzierte Lebenserwartung; gegenüber einem gleich alten Nierengesunden beträgt sie weniger als fünfzig Prozent. Eine erfolgreiche Nierentransplantation ist die einzige Möglichkeit, diese Prognose zu verbessern.
Leider berichtet die deutsche Transplantationsmedizin seit Langem, dass sie im internationalen Vergleich viel zu wenige Leben retten kann.
Niemand will das hören – vielleicht, weil das Problem zu klein erscheint? Bezogen auf einen Bevölkerungsstand von 84,4 Millionen in Deutschland wären zum Stichtag 31. Dezember 2022 laut Jahresbericht der Deutschen Stiftung Organtransplantation lediglich 8.826 Organe benötigt worden. Entsprechend viele Patienten waren auf den Wartelisten der deutschen Transplantationszentren als „transplantabel“ gemeldet. Nicht erfasst sind allerdings all diejenigen Patienten, die als „nicht transplantabel“ eingeschätzt wurden, auch aus Priorisierungsgründen, und auch diejenigen, die sich mangels langer Wartezeiten und niedriger Erfolgsaussicht erst gar nicht listen lassen wollen. Für Herz-, Lungen- und Leberkranke kann die Dunkelziffer kaum seriös abgeschätzt werden. Die Patienten werden nicht systematisch erfasst. Sie sterben zumeist, ohne für eine Organersatztherapie ausreichend evaluiert und beraten zu werden.
Für Nierenkranke sind dagegen Abschätzungen möglich: Zur Nierentransplantation gemeldet waren Ende 2022 exakt 6.683 Patienten von rund 100.000 chronischen Dialysepatienten. Im Gegensatz zu den meisten entwickelten Ländern weltweit führt Deutschland keine offizielle Statistik für Dialysepatienten und Nierentransplantierte. Allein die Deutsche Transplantationsgesellschaft publizierte wiederholt diese Zahl von 100.000 Dialysepatienten und 20.000 lebenden Nierentransplantierten. Andere Länder geben eine deutlich höhere Relation an Transplantierten an, teilweise leben dort sogar mehr Nierentransplantierte, als es Dialysepatienten gibt. Somit ist klar, dass der wirkliche Bedarf an Nierentransplantationen in Deutschland nicht bei 6.683 liegt, sondern (vorsichtig geschätzt) bei mindestens 20.000 bis 30.000 Menschen.
Limitation Organspende
Der jährlich erscheinende Newsletter Transplant des Europarates verdeutlicht die gravierende Unterversorgung deutscher Patienten: Gemittelt über die Jahre von 2019 bis 2021, erhielten in Deutschland 41,5 Patienten pro Million Einwohner und Jahr eine Transplantation. Zum Vergleich waren es in den USA 116,6 und in Spanien 102,2 pro Jahr und pro Million Einwohner. In zwanzig Ländern Europas wurden mehr Transplantationen durchgeführt als in Deutschland. Definitiv hat man damit in Deutschland im Falle eines Organversagens signifikant schlechtere Überlebenschancen.
Die Ursache der niedrigen Transplantationsraten in Deutschland ist allein auf die niedrige Zahl der Spenderorgane zurückzuführen; anders als in anderen Bereichen der Medizin gibt es keinen Mangel an medizinischen Einrichtungen und an Personal.
Innerhalb des Jahres 2022 verstarben in Deutschland – erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg – über eine Million Menschen. Postmortale Organspender wurden davon 869 (achthundertneunundsechzig)! Lebendorganspender waren im gleichen Jahr 576 Menschen. Von diesen Spendern und von Spendern aus dem europäischen Ausland wurden in Deutschland 3.372 Organe transplantiert, davon 2.795 nach einer postmortalen Organspende und 577 von lebenden Spendern.
Postmortale Spenderorgane werden via die Stiftung Eurotransplant (ET) international ausgetauscht, um Wartelistenpatienten die bestmöglich passenden Organe transplantieren zu können. Seit vielen Jahren verzeichnet Deutschland einen Netto-Organimport, im Jahr 2022 von fast fünf Prozent der transplantierten Organe.
Deutschland ist jedoch nicht nur bei der postmortalen Organspende unterdurchschnittlich, sondern auch bei Lebendorganspenden. So werden beispielsweise in den Niederlanden mehr als viermal so viele Lebendnierentransplantationen durchgeführt, in den USA dreimal so viele, in Großbritannien, in skandinavischen Ländern und in der Schweiz doppelt so viele.
Kein Bereich der Medizin ist so umfangreich definiert und überwacht wie die Transplantationsmedizin. Bereits vor 25 Jahren wurde ein gesondertes Transplantationsgesetz verfasst. Es regelt Organentnahmen, Organtransplantationen und die Aufgaben aller beteiligten Institutionen. In Deutschland gibt es aktuell 1.196 Krankenhäuser, in denen Organspenden realisiert werden könnten. Mit Ausnahme der Universitätskliniken beteiligt sich allerdings ein signifikanter Anteil deutscher Krankenhäuser nicht an der postmortalen Organspende.
Ungeklärte Grundsatzfragen
Aktuelle gesetzliche Grundlagen einer postmortalen Organentnahme sind die Hirntodfeststellung und die sogenannte Entscheidungsregelung. Letztere ist schon vom Namen her eine Irreführung, da sich in Deutschland niemand zu Lebzeiten für oder gegen eine Organentnahme entscheiden muss. Kaum jemand weiß, dass das Transplantationsgesetz behandelnden Ärzten eines potenziellen Organspenders jedoch klar vorgibt, Angehörige von Verstorbenen zur Organspende zu befragen. In Deutschland wird daher die wichtige Frage für oder wider eine Organspende zum ungünstigsten Zeitpunkt geklärt. Angehörige sind oftmals überfordert und entscheiden nach eigenem Empfinden, aber nicht nach dem Willen des Verstorbenen.
Organlebendspenden sind durch das Transplantationsgesetz auf ein Minimum dessen reduziert, was internationaler Standard ist. Und auch wenn uneingeschränkt der Schutz des lebenden Spenders von höchster Wichtigkeit ist, so erstaunt es doch, dass das Gesetz juristisch vor Kurzem so interpretiert wurde, dass es Ziel ist, „den potenziellen Spender vor sich selbst zu schützen“. Das heißt, auch bei voller Aufklärung und dokumentiert klarem Willen des Spenders muss diesem gegebenenfalls der Spendewunsch verweigert werden – auch dann, wenn damit etwa dem eigenen Kind der Tod durch Organversagen droht, weil kein geeignetes postmortales Organ verfügbar ist.
Die Verteilung von Organen regelt der Gesetzgeber nicht selbst, zuständig hierfür ist die Bundesärztekammer, die Richtlinien nach dem Stand der aktuellen Erkenntnis zu erstellen hat, die wiederum vor ihrem Inkrafttreten durch das Bundesministerium für Gesundheit zu genehmigen sind. Alle wichtigen Institutionen des Gesundheitswesens sind an diesem Prozess mitbeteiligt.
Dennoch sind sogar Grundsatzfragen der Organallokation bislang nicht grundsätzlich geklärt. Beispielsweise gibt das Transplantationsgesetz eine Organverteilung „insbesondere nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit“ vor. Dabei ist weder „Erfolg“ noch „Dringlichkeit“ definiert, und auch nicht die Wertigkeit zueinander. Somit werden manche Organe in Deutschland primär nach Dringlichkeit vergeben, andere nicht. Leberkranke werden zum Beispiel dann bevorzugt transplantiert, wenn sie unmittelbar vom Tod bedroht sind. Somit wird bei vielen Patienten die Transplantation erst zu einem Zeitpunkt vorgenommen, wenn die Sterblichkeit während der Operation beziehungsweise nach dem operativen Eingriff sehr hoch ist und Spenderorgane möglicherweise anderweitig besser verwendet werden könnten.
Viele Probleme sind seit Langem bekannt, erscheinen jedoch politisch unlösbar. So war die parlamentarische Diskussion um die Etablierung einer Widerspruchsregelung auch in Deutschland ein Trauerspiel und endete mit ihrer Ablehnung. Dabei haben damalige Führungspersönlichkeiten aus der Opposition aus Machtkalkül die Regelung zu Fall gebracht, und das nicht zuletzt gegen den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung und sogar gegen den mehrheitlichen Willen der eigenen Wähler. Inzwischen an der Regierung, werden weiterhin fachkundige Stimmen aus den eigenen Parteien und sogar eigene Parteitagsbeschlüsse zugunsten einer Verbesserung von Organspenderegelungen konsequent ignoriert. „Nur keinen Fehler eingestehen“ lautet vermutlich die geheime Devise.
Was ist zu tun?
Es können weiterhin jährlich Hunderttausende von Spenderausweisen verteilt, Anzeigenkampagnen geschaltet und regelmäßig alle Versicherten angeschrieben werden. Das alles kostet die Beitragszahler allerdings viel Geld, das anderweitig dem Gesundheitssystem dringend fehlt. Es ist aus Sicht der Transplantationswissenschaft eindeutig, dass Werbung für Organspende keinen messbaren Effekt auf Organspenderaten hat. Auch wird seitens der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung immer wieder publiziert, dass bereits heute mindestens achtzig Prozent der Bevölkerung einer Organspende positiv gegenüberstehen.
Es geht nicht darum, die Rate potenzieller Organspender künstlich zu erhöhen. Jeder, der nicht spenden möchte, darf uneingeschränkt dieser Ansicht sein, und zwar ohne jeden Nachteil. Und selbstverständlich bekommt auch dieser Mensch seine Chance auf eine Transplantation, sollte er in eine entsprechende Notlage kommen. Ziel muss es aber sein, Organspenden tatsächlich zu realisieren, wenn es dem zuvor geäußerten Willen des potenziellen Spenders entspricht. Handeln kann und muss die Politik. Es muss anerkannt werden, dass das aktuelle Transplantationsgesetz in großen Teilen zu überarbeiten ist.
Eingeführt werden sollten
a) die Widerspruchsregelung als Grundlage der postmortalen Organspende. Eine Widerspruchsregelung ist klarer Ausdruck einer „Kultur pro Organspende“, die Frage nach einer potenziellen Organentnahme wird Routine beim Tod eines Patienten, die Einführung dieser Regelungen war in vielen anderen Ländern höchst erfolgreich.
b) Organentnahmen nicht nur nach Hirntod, sondern auch nach Kreislauftod. Die moderne Medizin verhindert zunehmend den Komplettausfall aller Hirnfunktionen, dagegen tritt die Situation des Abschaltens lebenserhaltender Geräte in ausweglosen Situationen häufiger ein. Patienten versterben dann im sogenannten Kreislauftod; sie können in anderen Ländern, bislang aber nicht in Deutschland, Organe spenden.
c) eine Erweiterung der Optionen für Organlebendspenden. Überkreuz-Lebendspenden, Ketten-Lebendspenden, anonyme und weitere Varianten werden international erfolgreich zur Verbesserung des Patienten- und Organüberlebens nach Lebendorganspende durchgeführt. Deutschen Patienten sind diese medizinischen Entwicklungen bislang gesetzlich verwehrt.
d) institutionelle und strukturelle Verbesserungen der Transplantationsmedizin. Die Transplantationsmedizin steht unter anderem mit fachlich unbegründeten Mindestmengenregelungen des Gemeinsamen Bundesausschusses trotz rückläufiger Organspenden unter dem Druck, „Masse statt Klasse“ anzubieten. Lehnen Transplantationszentren zur Transplantation schlecht geeignete Organe ab, so laufen sie unter Umständen sogar Gefahr, geschlossen zu werden. Klar erkennbares Ziel ist keine Steigerung von Organspenden und Transplantationen, sondern die Schließung von Transplantationszentren. Letztlich erklärt sich so auch der europäische Organexport nach Deutschland, denn es werden Organe transplantiert, die Patienten in anderen Ländern nicht zugeordnet werden würden.
Die Probleme bei Organspende und Transplantation sind in Deutschland erdrückend, für die Betroffenen lebensgefährlich und letztlich sogar menschenverachtend. Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz „Jeder hat das Recht auf Leben […]“ wird in diesem Bereich unseres Gesundheitswesens sicher nicht bestmöglich umgesetzt.
Deutliche Doppelmoral
Gern gibt sich Deutschland international, nimmt aber internationale Standards nicht an. Dann wäre es allerdings nur konsequent, wenn Deutschland aus dem Organspendeverbund Eurotransplant aussteigen würde. Die Beteiligung unter den gegebenen Bedingungen ist jedenfalls hochgradig widersprüchlich, ja sogar unmoralisch. So dürfen einerseits die in anderen ET-Ländern nach Kreislauftod entnommenen Organe nicht nach Deutschland vermittelt werden. Andererseits übernimmt Deutschland über Eurotransplant Organe, die in anderen Länder unter den Bestimmungen einer Widerspruchsregelung entnommen worden sind. Besonders daran wird die Doppelmoral deutlich: Im eigenen Land wird die Widerspruchsregelung für unvertretbar erklärt, man will aber weiterhin von den „Zulieferungen“ der auf diesem Wege auswärts „gewonnenen“ Organe profitieren. Mit einer internationalen Organaustauschrate von rund zwanzig Prozent transplantieren wir aktuell in Deutschland jeden Tag postmortale Spenderorgane, die nach deutscher Rechtsauffassung illegal – das heißt ohne klar dokumentierte Zustimmung der Verstorbenen – explantiert wurden.
Bernhard Banas, geboren 1966 in München, Universitätsprofessor, Leiter des Universitären Transplantationszentrums und der Abteilung für Nephrologie, Universitätsklinikum Regensburg, Vorsitzender der Ethikkommission und früherer Präsident der Deutschen Transplantationsgesellschaft, Vizepräsident der Deutschen Akademie für Transplantationsmedizin.
Weiterführende Informationen unter
Deutsche Akademie für Transplantationsmedizin, www.akademie-fuer-transplantationsmedizin.de [letzter Zugriff: 04.08.2023].
Deutsche Transplantationsgesellschaft, www.d-t-g-online.de [letzter Zugriff: 04.08.2023].
Eurotransplant, www.eurotransplant.org [letzter Zugriff: 04.08.2023].
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