Ausgabe: 3/2020
Die Krise des Multilateralismus ist in aller Munde
Erleben wir gerade das Ende der multilateralen Ordnung? Es häufen sich die Stimmen jener, die sich um diese nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Führung der USA aufgebaute verlässliche Ordnung sorgen, von der Deutschland, als global vernetzte Mittelmacht, in besonderer Weise profitiert hat. Seit Jahren schreitet die Aushöhlung von internationalen Verträgen und Regelwerken und somit auch von der Zusammenarbeit auf internationaler Ebene voran. Unter Präsident Donald Trump haben sich die USA aus zahlreichen internationalen Übereinkommen, wie dem Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF) oder dem Pariser Klimaabkommen, zurückgezogen. Zugleich wächst der machtpolitische Gestaltungsanspruch Chinas – auch mit Blick auf multilaterale Institutionen. Völkerrechtliche Verstöße, insbesondere durch Moskau und Peking, häufen sich und Protektionismus sowie isolationistische Tendenzen nehmen zu.
Auch mit Blick auf die COVID-19-Pandemie schien das vorläufige Fazit für den Multilateralismus ernüchternd: Nationalstaaten, nicht internationale Organisationen, seien in den kritischen Tagen der Pandemie die zentralen Akteure der Krisenbewältigung gewesen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) habe versagt, der VN-Sicherheitsrat schweige ohnehin und die EU-Mitgliedstaaten hätten sich gegenseitig im Stich gelassen. Zwar haben die EU und multilaterale Institutionen mittlerweile ihre Handlungsfähigkeit teilweise zurückerlangt, aber zu Beginn der Pandemie in Europa reagierten die Mitgliedstaaten mit Grenzschließungen sowie Exportstopps und der VN-Sicherheitsrat schaffte es lange Zeit nicht, sich substanziell zur immerhin „schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ zu äußern. Erst im Juli 2020 gelang es ihm nach zähem Ringen, eine Resolution zu verabschieden. Was bleibt vom Multilateralismus übrig, wenn ein transnationales Problem weltweiten Ausmaßes, das im Alleingang nicht zu lösen ist, Staaten nicht zusammen, sondern auseinander treibt?
Das Ende der multilateralen Weltordnung zu verkünden ist jedoch verfrüht. Offensichtlich ist hingegen, dass die globale Ordnung einen tiefgreifenden Wandel durchläuft, der den regelbasierten Multilateralismus unter erheblichen Druck setzt. Die COVID-19-Pandemie und ihre beispiellosen Auswirkungen auf die internationale Staatengemeinschaft verstärken und beschleunigen diesen Wandel.
Was sind die Gründe für die Krise des Multilateralismus?
Die Krise des Multilateralismus ist einerseits auf den Wandel des internationalen Systems und auf eine neue Multipolarität sowie Machtverschiebungen zurückzuführen. Neue Machtzentren entstehen neben dem politischen Westen und beanspruchen ein stärkeres regionales oder gar globales Mitgestaltungsrecht. Das prominenteste Beispiel dafür ist die Volksrepublik (VR) China mit ihren Bestrebungen, als globale Führungsmacht auf Basis eigener Spielregeln aufzutreten. Dies stellt teilweise eine Reaktion auf die vom Ursprung her westlich geprägte multilaterale Ordnung und ihre Institutionen dar. Wir erleben eine Kollision liberal-demokratischer Positionen einerseits und autokratischer andererseits – und zwar in Hinblick auf politische, gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Modelle. Letztlich unterscheiden sich auch die Ansichten zur Gestaltung der internationalen Ordnung. Unser gewohntes Weltbild hat sich unter dem Einfluss des teilweisen Rückzugs der Vereinigten Staaten von ihren politischen, wirtschaftlichen und moralischen Führungsansprüchen substanziell verändert. Gleichzeitig versucht China, das von den USA hinterlassene Vakuum zu füllen. Die Volksrepublik ist zudem beharrlich dabei, eine chinesische Form des Multilateralismus, mit eigenen Prinzipien und Institutionen, auf- und auszubauen.
Darüber hinaus ist die Krise nicht zuletzt auf den Aufstieg illiberaler, den Multilateralismus ablehnender Kräfte und die Zunahme globalisierungskritischer Stimmungen zurückzuführen. Vorherige Krisen wie die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 bis 2009 und ihre schwierigen Folgejahre, mit der Verschuldung mehrerer Euro-Staaten und schmerzvollen Sparmaßnahmen, verliehen sowohl den globalisierungskritischen Stimmen als auch den nationalistischen Tendenzen Auftrieb. Kaum überwunden, wurde dieser Tiefpunkt von der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 und der darauffolgenden Asyl- und Migrationsdebatte abgelöst. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass es – auch im Westen – Verlierer der Globalisierung gibt. Anti-Globalisierungsgefühle, von diffus bis deutlich artikuliert, nehmen zu. Multilateralismus wurde zum Symbol der Globalisierung und diente schon bald als Zielscheibe.
Multilateralismus – eine Begriffsklärung
Kaum eine Rede zur deutschen Außenpolitik kommt ohne das Wort „Multilateralismus“ aus. Trotzdem herrscht eine große Unkenntnis bzw. bestehen unterschiedliche Vorstellungen darüber, was damit gemeint ist.
Zunächst lässt sich festhalten, dass es sich um eine Form von internationaler Zusammenarbeit handelt, bei der drei oder mehr Staaten kooperieren oder ihre Politik koordinieren. Dies entspricht der Definition, die Robert O. Keohane 1990 entwickelte. Ein weiteres Element multilateraler Zusammenarbeit beschrieb der Politikwissenschaftler John Ruggie im Jahr 1993. Er erklärte, dass diese Kooperation auf bestimmten Regeln und anerkannten Prinzipien basiert. Lange Zeit blieben diese Regeln nahezu unangefochten. Es sind westlich geprägte, liberale Regeln, die im Wesentlichen in der Charta der Vereinten Nationen verankert sind und sich auf die Errichtung und den Schutz freiheitlicher Demokratien, des Freihandels und der Vorherrschaft des Rechts beziehen. Das Geflecht von Normen, Prinzipien und Institutionen, das ab 1990 fast weltweit durchgesetzt wurde, bezeichnen wir als multilaterale, liberale Ordnung.
Spricht man von Multilateralismus, geht es also nicht nur um die Kooperation mehrerer Staaten, sondern auch darum, dass diese Zusammenarbeit auf gemeinsamen Regeln und Normen fußt sowie auf ein Ziel, wie z. B. die Herstellung oder Bewahrung von Frieden und Sicherheit oder Umweltschutz, ausgerichtet ist. Dabei kann multilaterale Kooperation institutionalisiert – wie im VN-System –, aber auch informeller gestaltet sein.
Zur Bedeutung der multilateralen Ordnung für die deutsche Außenpolitik
Neben dem Druck auf die liberalen Normen und Prinzipien werden sowohl die multilaterale Zusammenarbeit per se als auch die Institutionen im Zentrum dieser Ordnung zunehmend infrage gestellt. Grund dafür ist die abnehmende Handlungsfähigkeit unterschiedlicher multilateraler Formate, allen voran des VN-Sicherheitsrats, sowie die Aushöhlung oder Unterwanderung internationaler Institutionen durch autoritäre Staaten. So unterstrich US-Außenminister Mike Pompeo 2018 in Brüssel: „Multilateralism has become viewed as an end unto itself. […] International bodies must help facilitate cooperation that bolsters the security and values of the free world, or they must be reformed or eliminated.“
Dazu ist zunächst festzuhalten, dass man mit realistischen Erwartungen an multilaterale Prozesse herantreten sollte – liegt es doch im Wesen der Kooperation mehrerer Staaten, dass Kompromisse zu meist unterschiedlichen – oft konträren – Interessenlagen und bei hochkomplexen Problemen unumgänglich sind. Dies darf indes nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass multilaterale Institutionen an ihren Ergebnissen zu messen sind und wir darüber nachdenken sollten, wie sich der Multilateralismus effektiver gestalten lässt. Mögliche Reformimpulse für internationale Organisationen und für die Zusammenarbeit sollten auf Untersuchungen beruhen, welche Bereiche und Prozesse mit Reformbedarf zum Zweck der Steigerung ihrer Handlungsfähigkeit identifizieren. Hier können zum Beispiel die Berichte und Ergebnisse des Netzwerks zur Bewertung der Leistungsfähigkeit Multilateraler Institutionen (Multilateral Organisations Performance Assessment Network, MOPAN) herangezogen werden. Weiterhin können Koalitionen und Bündnisse, die auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind und innerhalb des Systems der Vereinten Nationen anzusiedeln sind – wie die Allianz für den Multilateralismus – ebenfalls neue Impulse setzen. Es sollte auch kein Tabu sein, besonders umstrittene und relevante Fragen, etwa rund um besonders festgefahrene Konflikte oder Klima- und Umweltfragen, zeitweise sowie unter strikten Voraussetzungen außerhalb der VN und in multilateralen Koalitionen zu behandeln, sollte es keinen Fortschritt innerhalb des Systems der VN geben. Die liberale, multilaterale Ordnung zu erhalten und zu stärken – auch durch Reformvorhaben – liegt im deutschen nationalen Interesse. Deutschland hat sich wie fast kein anderes Land an diese Ordnung angepasst und profitiert sicherheits- sowie handelspolitisch als global vernetzte Mittelmacht von einer internationalen Sicherheitsordnung, freien Handelswegen und dem Zugang zu Märkten. Diese sind durch die liberalen Regeln und Normen vorgegeben und werden durch Institutionen, wie die NATO, EU, VN aber auch WTO, umgesetzt und garantiert. Unsere Art zu leben speist sich aus dieser Ordnung – unsere liberale Demokratie, unser Wohlstand als exportorientierte Nation sowie das Funktionieren unser Außenpolitik, deren Grundpfeiler die transatlantischen Sicherheitsgarantien, die europäische Integration und das System der Vereinten Nationen sind.Zudem trägt Deutschland durch seine Geschichte eine besondere Verantwortung für die internationale Ordnung, wie sie nach 1945 errichtet wurde.
Drei Trends zur Zukunft des Multilateralismus
Wie werden der Multilateralismus bzw. die internationale Zusammenarbeit in Zukunft aussehen? Welche Formen der Kooperation werden sich durchsetzen? Wer bestimmt zukünftig die Regeln der globalen Zusammenarbeit? Im vorliegenden Text werden drei Trends aufgegriffen, die das internationale System bereits beeinflussen, und es wird gefragt, wie diese den Multilateralismus in den nächsten fünf Jahren verändern werden.
1. Wachsende Großmachtkonkurrenz und kompetitiver Multilateralismus
Die Großmachtkonkurrenz zwischen China und den USA ist seit Jahren zu einem Leitparadigma der internationalen Ordnung geworden. Dieses erstreckt sich auf nahezu alle Bereiche von Handel bis Sicherheit, umfasst die multilaterale Kooperation und reicht in viele Konfliktlagen und Weltregionen hinein. So hat in den Strategiedokumenten der USA die Rivalität mit dem Systemkonkurrenten China 2017 den Kampf gegen den internationalen Terrorismus als zentrale Herausforderung abgelöst.
Diese Rivalität wird auch in multilateralen Foren ausgetragen und führt in Teilen zu einem Stillstand internationaler Zusammenarbeit. Jüngstes Beispiel dafür war die Blockade des VN-Sicherheitsrats mit Blick auf die COVID-19-Pandemie, der mehrere Monate nicht im Stande war, eine völkerrechtlich bindende Resolution zu verabschieden. Auch der Austritt der USA aus der angeblich von China dominierten WHO ist ein Beispiel der Schwächung multilateraler Institutionen durch wachsende Großmachtrivalitäten.
Während sich die USA unter der Trump-Administration teilweise aus multilateralen Institutionen und Abkommen zurückziehen und das bilaterale deal making bevorzugen, nutzt Peking jede Gelegenheit, um sich als bekennender Multilateralist darzustellen.Das schwindende US-amerikanische Bekenntnis zum Multilateralismus, gekoppelt mit einem entsprechenden Verlust an Einfluss in multilateralen Foren, ermöglicht es China, den eigenen Einfluss auszubauen, um so langfristig die Interessen des Landes durchsetzen zu können. Diese werden durch eine ehrgeizige, umfassende regionale und globale außenpolitische Strategie verfolgt. Chinas Ziel ist es, sich bis 2050 zu einer globalen Führungs- und Gestaltungsmacht in der internationalen Politik zu entwickeln. Peking baut seit Jahren seinen Einfluss in internationalen Organisationen aus, insbesondere im VN-System – von der Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten (ECOSOC) über die Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO) bis hin zur Internationalen Fernmeldeunion (ITU).
Chinas Ansprüche auf Führungspositionen im Sinne der Gewichtung seiner sozioökonomischen Stellung sind durchaus nicht abzustreiten. Allerdings versucht die Volksrepublik, ihre eigenen Vorstellungen – die teilweise im Gegensatz zu denen der liberalen Normen stehen – in diese Organisationen einzubringen, und untergräbt dadurch deren Arbeit. Ein Beispiel dafür ist der VN-Menschenrechtsrat. Zwar erkennt die VR China Menschenrechte als universell an, versteht diese Norm jedoch nicht im Sinne der Individualität von Freiheit(en), sondern vielmehr als dem Allgemeinwohl unterstellt und auf der Basis ökonomischer Entwicklung und Partizipation fußend. Peking akzeptiert daher den universellen Prüfungsmaßstab nicht und sieht das länderspezifische Monitoring als Verletzung seiner Souveränität. Mit Blick auf den Schutz ethnischer Minderheiten oder die Verfolgung politisch Andersdenkender in China offenbart diese Differenzierung einen eklatanten Unterschied zum westlichen Normenverständnis.
Neben den Bemühungen, den Einfluss in bestehenden Institutionen auszubauen, betreibt Peking darüber hinaus einen kompetitiven Multilateralismus und errichtet neue, eigene und parallele Institutionen. Dabei handelt es sich um konkurrierende Organisationen oder informelle Allianzen und Foren, welche die westlich dominierten Institutionen und deren Ordnung herausfordern bzw. untergraben. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist die Asiatische Entwicklungs- und Infrastruktur Bank (AIIB), die als Akteur multilateraler Entwicklungszusammenarbeit geschaffen wurde. Ganze 18 EU-Mitgliedstaaten sind der AIIB seit 2014 beigetreten. Dies hat nicht nur dazu beigetragen, die internationale Glaubwürdigkeit der Institution zu steigern, sondern hat auch das Selbstbewusstsein Pekings mit Blick auf die Schaffung kompetitiver Institutionen bestärkt. Die von der AIIB kofinanzierte Neue Seidenstraße (BRI) verdeutlicht das Vorhaben Chinas, eine konkurrierende politische und wirtschaftliche Ordnung weltweit aufzubauen. Die BRI soll den Einfluss der VR mittels wirtschaftlicher Investitionen in Infrastrukturprojekten festigen – erstmals auf bilateralem Weg, um somit wirtschaftliche Abhängigkeit zu schaffen und Pekings Konnektivitätspolitik auszubauen. Die Initiative erweitert stetig ihre geografische Reichweite – von EU-Staaten über Lateinamerika bis hin zur Arktis. Sicherheitspolitische Erwägungen, die Teil dieser Vision sind, unterstreichen, dass die BRI als Instrument einer außenpolitischen Strategie dient. Pekings multilaterale Ambitionen profitieren von diesen bilateralen Abkommen, da die Finanzierung der Projekte unter anderem über die AIIB läuft, mit teils westlichem Kapital. Weitere Institutionen, die auf eine angestrebte Neuordnung und Aneignung des multilateralen Systems hindeuten, sind die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (1996), das Boao-Forum für Asien (2001) oder informelle Dialogformate wie die 16+1-Formel mit mittel- und osteuropäischen Ländern.
Kein Ende in Sicht!
Der Multilateralismus westlicher Prägung wird immer stärker infrage gestellt. In einer Zeit des systemischen Wettbewerbs wird sich die multilaterale Ordnung zwangsweise ändern. Die Spannungen zwischen Großmächten führen zu Blockaden bzw. einer Schwächung der multilateralen Zusammenarbeit. Dadurch können internationale Institutionen keine bzw. nur schwache Ergebnisse liefern und verlieren infolgedessen an Bedeutung. Mit Blick auf den Aufstieg Chinas und die Fortführung einer expansiven Politik ist zu befürchten, dass die Rivalität zwischen Peking und Washington in Zukunft zunehmen wird. Peking geht etwa im Südchinesischen Meer weiterhin aggressiv vor und hat zudem ein umstrittenes „Sicherheitsgesetz“ für Hongkong erlassen, welches die Autonomierechte der Sonderverwaltungszone massiv einschränkt.
Die US-amerikanische China-Skepsis beruht auf einem breiten innerstaatlichen und überparteilichen Konsens im Land selbst. Mit Blick auf die anstehende US-Präsidentschaftswahl ist anzunehmen, dass auch eine neue Administration den aktuellen Kurs fortsetzen würde.
Es sind aber nicht nur strategische Rivalitäten zwischen beiden Nationen, sondern auch die jeweils nationalen Politiken gegenüber multilateralen Institutionen, die diese untergraben und zu ihrem Bedeutungsverlust beitragen. Eine andere amerikanische Regierung würde zwar höchstwahrscheinlich den amerikanischen Führungswillen beim Lösen globaler Probleme erneuern und wieder zu multilateraler Zusammenarbeit zurückkehren, aber die Folgen von vier Jahren Trump lassen sich nicht ignorieren. Außerdem hatten die USA bereits vor der Trump-Administration deutlich gemacht, dass sie die politische und finanzielle Last als Garant der multilateralen Ordnung nicht mehr im gleichen Maße tragen wollten wie zuvor. Mit Blick auf die desaströsen innenpolitischen Folgen der COVID-19-Pandemie ist zu vermuten, dass sich an diesem Unwillen auch nichts ändern wird.
Die Herausforderung für die EU, sich in diesem geopolitischen Spannungsfeld als aktiver Mitgestalter weiterhin zu behaupten, ist immens, aber essenziell – will sie nicht bloß zum Spielball anderer Mächte werden. Die werte- und regelbasierte Ordnung steht im Gegensatz zum autokratischen Modell, dessen Grundprinzipien sich stark vom liberalen Verständnis von Demokratie, Schutz der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit unterscheiden. Wir müssen China dennoch weiterhin in eine regelbasierte Weltordnung einbinden. Die Pandemie und ihre Auswirkungen machen schließlich deutlich, welche Folgen Chinas intransparentes und autoritäres System für die Weltgemeinschaft haben kann. Pekings anfänglicher Umgang mit der Pandemie sowie sein Folgenarrativ zeigen, wie die Regierung die Krise auf internationaler Ebene für ihre machtpolitischen Ziele instrumentalisiert und – wie so oft – wirtschaftlichen Druck auf Kritiker ausübt. Als die australische Regierung eine Untersuchung des Ausbruchs der Pandemie forderte, antwortete China mit höheren Einfuhrzöllen. Mit Blick auf die globalen Konsequenzen seit Ausbruch von COVID-19 ist es allerdings unabdingbar, dass die Staatengemeinschaft mehr Transparenz von China einfordert.
2. Deglobalisierung und Renationalisierung: Welche Auswirkungen haben sie auf den Multilateralismus?
Zunehmend bedrohlich für den Multilateralismus ist auch der (Wieder-)Aufstieg des autoritären Nationalismus, populistischer Parteien sowie deren Haltung zur Globalisierung. Durch die Coronapandemie sowie den Druck auf Staaten und Lieferketten wurden bedenkliche Schwachstellen der globalen Vernetzung und des weltweit vernetzten Wirtschaftsmodells aufgedeckt. Die Globalisierung hat zwar über Jahrzehnte zur Ankurbelung des Handels und zum Wachstum der Weltwirtschaft beigetragen sowie die Armut auf der Welt wesentlich reduziert. Gleichzeitig hat sie jedoch innerhalb vieler Länder zu stärkeren Ungleichheiten geführt. Häufig sind die Erwartungen an die Politik schneller gewachsen als die Fähigkeiten des jeweiligen Staates, auf diese einzugehen. Das enttäuschte Vertrauen in etablierte Parteien, in die EU und in internationale Institutionen insgesamt hat dem Aufstieg populistischer Parteien Vorschub geleistet.
Deglobalisierungs- und Renationalisierungs-Phänomene werden aber nicht nur vom aktuellen US-amerikanischen Präsidenten vertreten. Ähnliche unilaterale und populistische Tendenzen verkörpert auch der brasilianische Präsident Bolsonaro (z. B. Brasiliens Rückzug aus dem VN-Migrationspakt) oder – mit einem dualen Ansatz – der türkische Präsident Erdoğan, der eine pick-and-choose-Strategie verfolgt, vor allem mit Blick auf die EU. Es wird versucht, finanzielle Vorteile zur Aufteilung der durch die syrischen Flüchtlinge entstandenen Belastungen und eine Aufwertung der Zollunion zu ernten. Jedoch wird abgelehnt, auf die Forderungen der EU nach mehr Demokratie und größeren Freiheiten einzugehen.
Seit Jahren beobachtet man den Aufstieg populistischer Parteien in vielen EU-Mitgliedstaaten (Front National in Frankreich, Alternative für Deutschland in der Bundesrepublik, Partei für die Freiheit in den Niederlanden), die ihre Gefolgschaft letztlich im Fahrwasser gravierender europäischer Krisen seit 2008 zu vergrößern vermochten. Eine wachsende Ablehnung der europäischen Idee sowie demokratischer Prinzipien und der Rechtsstaatlichkeit, auf denen das europäische Projekt fußt, sieht man beispielsweise in der Einflussnahme auf das Justizwesen in Polen oder der Bevormundung der Zivilgesellschaft und der Medien in Ungarn.
Zusätzlich könnte sich die jetzige Gesundheitskrise für demokratische Staaten als Treiber der Inversion und einer teilweisen Relokalisierung der wirtschaftlichen Produktion entwickeln. Die Deglobalisierungsansätze in Bezug auf die Produktion medizinischer Güter, bisher rein rhetorischer Natur, könnten sich künftig durchsetzen und auf andere Bereiche erweitern, die von Staaten als Teil ihrer kritischen Infrastrukturen betrachtet werden. Diese Tendenz hat sich bereits im Kampf um 5G-Marktanteile beobachten lassen und in der Frage, inwieweit europäische Staaten China einen Zugriff auf ihre kritische Infrastrukturen zugestehen. Regierungen werden möglicherweise versuchen, die Auswirkungen ferner Produktionsstätten sowie in Krisenzeiten unterbrochener Lieferketten zu antizipieren und somit zu vermeiden. Die Ansagen Frankreichs und Deutschlands, die Produktion von Atemschutzmasken und Atemgeräten binnen Jahresfrist herunterzufahren, verdeutlichen diese Ansätze. Auch weltweit tätige Unternehmen überlegen, wie sie ihre Prozesse gegen Sanktionsdrohungen, die Schließung von Grenzen und den Ausfall ferner Zulieferer schützen können.
Ausblick: Der Schaden der Deglobalisierung
Eine solche Deglobalisierung oder teilweise Repatriierung würde in erster Linie Frustrationen in aktuellen Produktionsländern, den früheren „Gewinnern“ der Globalisierung (unter anderem China und Indien), hervorrufen. Eine Renationalisierung würde kurz- bis mittelfristig eine Rückkehr der Herstellung kritischer Produkte, die während der Gesundheitskrise als strategische Güter deklariert wurden, zur Folge haben. Selbst die EU als integrierter Handelsraum wird zwar dem Welthandel nicht den Rücken kehren, aber wahrscheinlich die globalen Handels- und Lieferketten einer kritischen Evaluierung unterziehen und umsichtiger vorgehen. Einen Zerfall des globalisierten Systems, von dem auch Deutschland und die EU stark profitieren, wird jedoch niemand in Europa riskieren wollen. Zu groß ist die Sorge vor dem Verlust eigener wirtschaftlicher Stärke. In Anbetracht der derzeitigen Fragilität des globalen Netzwerks würden sowohl ein Handelskrieg als auch eine Zunahme der sicherheitspolitischen Spannungen zwischen den USA und China die Weltgemeinschaft wesentlich belasten.
3. Neue Formen der internationalen Zusammenarbeit
Seit Langem beobachten wir, dass neben den bewährten Formen des institutionalisierten Multilateralismus neue Formen der internationalen Zusammenarbeit entstehen. Dazu gehören kurzzeitig angelegte Kooperationen, informelle Kooperations- und Abstimmungsmechanismen, wie die G7 oder G20, auch bekannt als Club Governance, oder Allianzen, die auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind, wie etwa die Allianz für den Multilateralismus. Zudem steigt die Bedeutung nichtstaatlicher Akteure in der internationalen Politik, wie z. B. private Stiftungen, Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Medien oder transnationale Netzwerke. Auch Städte oder substaatliche Einheiten, wie manche Bundesstaaten in den USA, greifen in Bereiche der internationalen Politik – etwa den Klimaschutz – ein.
Mit Blick auf Club Governance sind die bekanntesten Formen die G7 und die G20, die aus den mächtigsten und wirtschaftlich stärksten Staaten der internationalen Gemeinschaft bestehen und auf zwischenstaatlicher Abstimmung ihrer Mitglieder in bestimmten Politikfeldern basieren. Weitere lockere Allianzen sind die BRICS-Staaten oder eine mögliche Middle Power Coalition, bestehend aus Ländern wie Japan, Australien und Indien, die im indopazifischen Raum dem Aufstieg Chinas geeint begegnen wollen. Ein weiteres Beispiel für neue Formen der internationalen Kooperation ist die von Deutschland gemeinsam mit Frankreich 2019 ins Leben gerufene Allianz für den Multilateralismus, ein loses Netzwerk, dem sich unter anderem Kanada, Japan und Mexiko angeschlossen haben. Ziel ist es, den Multilateralismus und internationale Organisationen zu stärken und zu erhalten. Obwohl die Idee einer solchen Initiative löblich ist, so scheint die Arbeitsweise der Allianz noch unklar. Abgesehen von Fortschritten in der Arbeit zur Kontrolle autonomer Waffensysteme gibt es noch keine greifbaren Ergebnisse.
Nichtstaatliche Akteure gewinnen seit Jahren an Einfluss und werden verstärkt in die internationale Zusammenarbeit eingebunden. Beispiele sind im Bereich Gesundheit unter anderem die einflussreiche Bill & Melinda Gates Foundation, der britische Wellcome Trust oder die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI), ein Zusammenschluss verschiedener Regierungen und Privatakteure zur Förderung der Impfstoffentwicklung und besseren Vorbereitung auf zukünftige Krankheitsausbrüche. Das Wissen um die Notwendigkeit, alle betroffenen Akteure bei der Bewältigung globaler Herausforderungen einzubeziehen, hat sich mittlerweile durchgesetzt. Viele Institutionen haben mit entsprechenden Formaten zur Kooperation reagiert. Im VN-Sicherheitsrat werden nichtstaatliche Akteure bei den informellen Arria-Formula-Treffen angehört und einbezogen.
Neue Formen der Kooperation als Chance für den Multilateralismus
Wahrscheinlich werden auch zukünftig informelle Vektoren der internationalen Kooperation – im Gegensatz oder in Ergänzung zu formellen internationalen Institutionen – vermehrt auftreten. Angesichts der mangelnden Anpassungs- und der abnehmenden Handlungsfähigkeit der bestehenden Institutionen werden Staaten voraussichtlich weiterhin neue Allianzen und Bündnisse bilden, um ihre Interessen zu verfolgen. Für die bestehende multilaterale Ordnung können diese neuen Formen der Kooperation unter gewissen Bedingungen eine positive Entwicklung darstellen. Dies wäre dann der Fall, wenn sie nicht als deren Konkurrenz gebildet werden, sondern darauf angelegt sind, die Effektivität der bestehenden Institutionen zu steigern bzw. im Einklang mit den ihr zugrundeliegenden Normen und Regeln stehen und diese nicht unterlaufen. So ist die Allianz für den Multilateralismus nicht als Konkurrenz zu den VN zu verstehen, sondern als Koalition für deren Erhalt und Stärkung innerhalb des bestehenden Systems. Der steigende Einfluss nichtstaatlicher Akteure in der internationalen Politik stellt die Frage der Legitimität, die aufgegriffen und diskutiert werden muss. Die COVID-19-Pandemie verdeutlicht allerdings, dass private und zivilgesellschaftliche Akteure einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung dieser Krisen leisten und deshalb eine Stimme in der internationalen Kooperation verdient haben.
Fazit: Wer bestimmt die Regeln von morgen?
Die Krise des Multilateralismus ist real. Angesichts tiefgreifender Veränderungsprozesse im internationalen System ist es in unserem ureigenen Interesse, diesen Wandel proaktiv mitzugestalten und liberale Werte zu verteidigen. Einer Gefährdung des liberalen, politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modells durch einen unerwünschten Werte- und Normenwandel müssen wir entschiedener als bisher entgegenwirken.
Gemessen an den Herausforderungen sollten Deutschland und Europa bereit sein, außen- und sicherheitspolitisch mehr zu tun, um die regelbasierte Ordnung zu erhalten und zu stärken. „Mehr tun“ bedeutet konkret, gemeinsam mit internationalen Partnern – in erster Linie mit den europäischen Staaten, aber auch mit Akteuren außerhalb Europas – zu kooperieren, um das von den USA hinterlassene wirtschafts- und sicherheitspolitische Vakuum bestmöglich zu füllen. Es wird darauf ankommen, einen stärkeren Gestaltungsanspruch für diese Ordnung einzubringen, durch eine verstärkte Strategiefähigkeit der eigenen Außenpolitik, z. B. durch Instrumente wie einem Nationalen bzw. Europäischen Sicherheitsrat. Dieses Vakuum nicht der chinesischen Führung zu überlassen, ist im deutschen und europäischen Interesse. In der Folge des amerikanischen Austritts aus der WHO haben Berlin und weitere europäische Hauptstädte bereits angekündigt, eine größere finanzielle Last zu tragen und Reformvorschläge zu unterbreiten. Reformimpulse für multilaterale Organisationen sollten bezwecken, die Institutionen wieder stärker in die Lage zu versetzen, effektiv auf globale Probleme zu reagieren. Dabei sollten die Ergebnisse des MOPAN berücksichtigt werden, die festlegen, wo und wie Reformen durchgeführt werden sollten. Bündnisse von Gleichgesinnten, wie die Allianz für den Multilateralismus, sollten ebenfalls dazu genutzt werden, Reformideen zu entwickeln und umzusetzen. Bezüglich der VN und zunehmender Blockaden im Sicherheitsrat wegen steigender Großmachtrivalitäten sollte erwogen werden, Mechanismen wie „Uniting for Peace“ verstärkt zu nutzen. Dieser erlaubt der Generalversammlung, aktiv zu werden in Fällen, in denen ein Friedensbruch droht und der Sicherheitsrat handlungsunfähig ist. Sollte es keinen Fortschritt innerhalb des VN-Systems geben, sollte in Zukunft aber auch darüber nachgedacht werden, besonders umstrittene Fragen für einen begrenzten Zeitraum sowie unter klaren Bedingungen aus den Vereinten Nationen auszuklammern und im Rahmen multilateraler Koalitionen zu behandeln.
Die Zukunft des Multilateralismus wird zudem durch neue Formen der internationalen Zusammenarbeit und neue Bündnisse gekennzeichnet werden und wird möglicherweise auch neue Akteure hervorbringen. Dies involviert nicht nur die staatliche Ebene, sondern bindet auch die Zivilgesellschaft ein.
Auch der Systemkonkurrent China muss weiterhin in die bestehende Ordnung eingebunden werden. Klug wäre es, der chinesischen Führung keine größeren Spielräume zu überlassen – schon gar nicht im Bereich der Menschenrechte – und der von Peking vorangetriebenen alternativen Normierung subtil genug entgegen zu steuern, um ernsthafte Zerwürfnisse zu vermeiden. Jedenfalls sollte Wert darauf gelegt werden, dass Peking eine verantwortungsvolle und konstruktive Rolle in der internationalen Staatengemeinschaft spielt.
Zuletzt, wenn die Stärkung der multilateralen Ordnung im eigenen Haus beginnt, ist der Kampf gegen den Populismus und seine Ursachen unabdingbar. Es wird schwierig werden, Populisten daran zu hindern, die durch COVID-19 ausgelöste Wirtschaftskrise zu instrumentalisieren. Dennoch müssen politische Parteien der Mitte Antworten finden, um dem resolut entgegenzutreten. Die EU sollte im Zuge der Coronakrise ein neues Narrativ fördern, um die Globalisierung auf europäischer Ebene verantwortlicher und nachhaltiger zu gestalten. Eine solche Ambition würde auch dazu beitragen, die Globalisierungsgegner, deren Positionen sich ja, obwohl anders motiviert, mit populistischen Forderungen teils überschneiden, als Ansprechpartner wieder zu gewinnen – in einer sozial und wirtschaftlich gerechteren, klimafreundlichen internationalen Politik.
Laura Philipps ist Referentin für Multilateralismus und Systemwettbewerb der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Daniela Braun ist Referentin für Außen- und Sicherheitspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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