Länderberichte
Damit hat, in buchstäblich letzter Minute vor Beginn der Sommerpause am 24. Juli 2017, die Regierung ihr Ziel und das Reformpaket seine letzte Instanz erreicht: den Schreibtisch von Präsident Andrzej Duda, dessen Unterschrift das Vorhaben Gesetz werden und es mit sofortiger Wirkung in Kraft setzen lässt.
Davor überschlugen sich die Ereignisse – nicht nur im Ausland, sondern auch in Polen reibt man sich verdutzt die Augen: In einem eruptiven, beispiellosen Eilverfahren wurden erst Mitte der vorangegangenen Woche – unangekündigt und überraschend – die beiden erstgenannten Gesetzesentwürfe ohne vorherige parlamentarische Debatte in den Sejm eingebracht. Dies war möglich, indem sie nicht als Entwurf der Regierung, sondern als von Abgeordneten selbst verfasst deklariert wurden – in einem solchen Fall ist es dem Parlament erlaubt, auf die Anhörung von Experten und Betroffenen zu verzichten. Die Vorlagen wurden noch am selben Tag verabschiedet (unter Protest der überrumpelten Opposition, die die Sejm-Sitzung verließ, um die Erreichung des Quorums zu verhindern). Zwei Tage später wurden beide Dokumente vom Senat gebilligt und dem Präsidenten zur Unterschrift vorgelegt. Der dritte und folgenreichste Gesetzesentwurf, den Obersten Gerichtshof betreffend, stand zu dem Zeitpunkt noch aus, kam aber am Dienstag (18.07.) gleichermaßen unvorbereitet auf die Tagesordnung. Indes, als auch die letzte Verabschiedung schon als sicher galt, kam eine weitere Überraschung: Staatspräsident Andrzej Duda, bis dato als „Vollzugsorgan“ der PiS bekannt, machte unerwartet von seinem Veto-Recht Gebrauch und brachte sich proaktiv mit eigenen Vorschlägen ins Spiel. Die Vorlagen gingen zurück in den Sejm, und der Reigen begann vor vorne.
Währenddessen schlug der Aktionismus Wellen, die Debatte versank im Chaos – die Abgeordneten, aus ihren Ferienträumen gerissen, sahen sich mit hochkomplexen juristischen Inhalten konfrontiert, über die unter üblichen Umständen monatelang hätten debattiert werden müssen. Und noch bevor die Medien oder die Öffentlichkeit die Gesetzespläne verdauen oder überhaupt erst verstehen konnte, nahmen die Dinge – begleitet von medialen Schlagzeilen und Pauschalurteilen, Desinformationskampagnen und schließlich auch zunehmenden Protesten – ihren unbeirrten Lauf.
1. Was genau ist beschlossen worden? Wie reihen sich die jüngsten Ereignisse in den bisherigen Reformverlauf ein?
Der Beschluss am vergangenen Freitag ist Teil eines umfassenden Reformvorhabens, mit dessen Umsetzung die polnische Regierung seit ihrem Amtsantritt im November 2015 begonnen hatte. Der erste Schritt galt dem Verfassungsgericht: Im Zuge seiner durch die PiS vorgenommenen Neuordnung wurden drei von der Vorgängerregierung (in einem allerdings nicht unumstrittenen Verfahren) ernannten Verfassungsrichter von der neuen Regierung nicht anerkannt und dafür eigene Kandidaten gewählt, was später jedoch vom Verfassungstribunal sowie der Europäischen Kommission für verfassungswidrig befunden wurde. Urteile diesbezüglich wurden von der Regierung jedoch schlichtweg nicht publiziert, womit sie keine Rechtskraft erlangten. Dieser Fall brachte Polen im Januar 2016 das erste Überprüfungsverfahren der Rechtstaatlichkeit ein, das die EU-Kommission gegen einen Mitgliedstaat eingeleitet hatte. Das Debakel um das Verfassungsgericht machte das gesamte Jahr über Schlagzeilen, änderte aber nichts daran, dass mit weiteren, auch rechtmäßigen Ernennungen, die PiS-Regierung letztendlich die Mehrheit im Verfassungsgericht bekommen konnte. Mit Entlassung des (als ebenfalls politisiert geltenden) Vorsitzenden Andrzej Rzepliński am 19. Dez. 2016 und Einsetzung der PiS-nahen Julia Przyłębska (Ehefrau des polnischen Botschafters in Berlin, Andrzej Przyłębski) zwei Tage später, wurde dem Verfassungsgericht der letzte PO-Zahn gezogen.
Zweitens wurden im selben Jahr alle Staatsanwaltschaften, auch auf regionaler Ebene, direkt dem Justizminister unterstellt, der somit in Personalunion auch als Generalstaatsanwalt agiert und in alle Verfahren eingreifen kann. Die 2009 von der Vorgängerregierung eingeführte Änderung, welche die Staatsanwaltschaft zu einer unabhängigen Einrichtung gemacht hatte, wurde dadurch zurückgenommen.
Der dritte und letzte Schritt ist der, der sich nun jüngst vollzieht. Er gilt der übrigen Gerichtsbarkeit und erfolgt in drei Bereichen: Das erste Vorhaben betrifft den sogenannten Landesjustizrat (KRS) – ein Verfassungsorgan, das u.a. die Aufgabe hat, Kandidaten für die Richterämter zu ernennen. Bisher bestand das Gremium aus Richtern, die überwiegend von der eigenen Standesorganisation delegiert wurden (eine Art Selbstverwaltungsorgan der Richterschaft), was zwar größtmögliche Unabhängigkeit garantierte, aber auch den Vorwurf nährte, keinerlei Kontrollinstanz zu unterliegen und dadurch „allzu“ unabhängig zu sein („in Polen wählen sich die Richter selbst“, s.u.). Nach den derzeitigen Plänen soll der KRS bestehen bleiben, aber neubesetzt werden, und zwar künftig unter Mitbestimmung des Parlaments. Die Forderung von Präsident Duda, hierfür nicht nur eine einfache (wie im ersten Entwurf vorgesehen), sondern eine dreifünftel Mehrheit zugrunde zu legen, die er zur conditio sine qua non für seine Zustimmung zum Gesamtpaket machte, wurde dabei mit aufgenommen. Damit würde der KRS zwar von der Legislative (teil)kontrolliert, allerdings dem „Alleinzugriff“ der Regierungspartei entzogen, denn die PiS verfügt nicht über eine solche Mehrheit und müsste Allianzen bilden. Darüber hinaus soll eine Disziplinarkammer eingerichtet werden, die über den KRS wacht.
Eine zweite Gesetzesvorlage ermächtigt den Justizminister, die Vorsitzenden der Gerichte sämtlicher Instanzen abzuberufen, was diesem – zumal in seiner doppelten Funktion als Generalstaatsanwalt – vielfältige Interventionsmöglichkeiten eröffnet.
Der dritte und vielleicht implikationsreichste Gesetzentwurf betrifft das Oberste Gericht: nach Inkrafttreten bekäme Justizminister Zbigniew Ziobro das Recht, sämtliche der etwa hundert Richter in den Ruhestand zu schicken (Art. 87) – es sei denn, sie werden im Amt bestätigt. Die Entscheidung hierüber träfe er allerdings nicht mehr alleine, wie im ersten Entwurf vorgesehen, sondern mit Zustimmung des Staatspräsidenten und unter Einbeziehung des KRS – auch dies eine Forderung von Andrzej Duda, die berücksichtigt wurde.
2. Wie verhält sich die Opposition?
Die Opposition sieht damit die Judikative in den Händen der Regierung, die Gewaltenteilung aufgehoben, den Rechtsstaat am Ende, die Autokratie eingeläutet. Grzegorz Schetyna, Vorsitzender der Bürgerplattform (PO), der größten Oppositionspartei in Polen, warnte gar vor einem Abgleiten in die Diktatur. Auch seitens der zweitgrößten Oppositionspartei Nowoczesna und anderer im Parlament vertretenen Parteien könnten die Aussagen nicht drastischer sein. Nachdem die Schockstarre über den „Juli-Putsch“ überwunden und die mögliche Tragweite des Geschehens begriffen war, begannen fieberhafte Überlegungen, wie der Prozess zu stoppen sei. Doch außer regelmäßigen Treffen und Aufrufen zu Protesten sind bislang keine Ergebnisse bekannt. Der Handlungsspielraum ist wohl auch gering – die über 1300 Änderungsanträge wurden von der PiS-Mehrheit im Sejm allesamt abgelehnt. Zudem ist die Opposition von Einigkeit weit entfernt und schlägt unterschiedliche Wege vor: Während die PO ein Referendum zur Justizreform erwägt, ist die PSL um Ausgleich bemüht, indem sie das Gespräch mit Duda sucht, um diesen zum erneuten und letztendlichen Veto zu überreden.
Auch eine Vielzahl weiterer nationaler wie internationaler Kritiker und Experten warnen vor einer Erosion des Rechtsstaats und der Aushöhlung der Befugnisse insbesondere des Obersten Gerichts. Und hierin ist auch die größte Sorge der Opposition begründet: denn das Oberste Gericht hat auch über die Gültigkeit von Wahlen und der Parteienfinanzierung zu befinden – ein Instrument also, auf das die PiS-Regierung, wie Kritiker befürchten, bewusst zusteuern und sich aneignen will.
3. Welchen Handlungsspielraum hat die EU?
Missbilligung, inzwischen entschiedener Art, kommt auch von der Europäischen Kommission, deren Mitglieder und Experten vergangenen Mittwoch „schwerwiegende Bedenken“ gegen die laufenden Gesetzesvorhaben formulierten und eine Aussetzung derselben gefordert haben. Der mit dem Vorgang beauftragte Erste Vizepräsident Frans Timmermanns drohte sogar mit der Auslösung der „Nuklearoption“ in Form von EU-Artikel 7: Die ultima ratio der EU-Sanktionsmechanismen regelt Strafmöglichkeiten gegen Mitgliedsländer, die die gemeinsamen Grundwerte der EU verletzen (etwa Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung oder die Medienfreiheit). Brüssels „letzte Waffe“ hat die größte politische Sprengkraft und reicht vom Einfrieren von Fördergeldern bis zum Entzug des Stimmrechts oder gar der temporären Suspendierung der EU-Mitgliedschaft.
Die scharfe Kritik kommt allerdings nicht zum ersten Mal: Das Debakel um das Verfassungsgericht rief zweimal die Venedig-Kommission auf den Plan und brachte Polen Anfang bereits 2016 ein (bis heute nicht abgeschlossenes) Rechtsstaatsverfahren ein. Der Rechtsstaatsmechanismus wird allein von der EU-Kommission aktiviert und ist nicht zu verwechseln mit einzelnen Vertragsverletzungsverfahren (bis hin zur Klage vor dem Europäischen Gerichtshof), welche die mangelnde oder fehlende Umsetzung bestimmter EU-Gesetze untersuchen – hiervon hat Polen bereits mehrere anhängig. Ein Rechtsstaatsverfahren hingegen kann nur eingeleitet werden, wenn eine systemische Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit gesehen wird – über einzelne Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit oder gegen Grundrechte hinaus.
Dies ist, wie gesagt, bereits der Fall, doch seit Mitte Oktober 2016, nachdem das zweite Gutachten der Venedig-Kommission erschien (mit dem Ergebnis, dass „zwei grundlegende Standards des Machtgleichgewichts“ nicht erfüllt würden: „die Unabhängigkeit des Gerichtswesens und die Position des Verfassungsgerichts als letzter Schiedsrichter in Verfassungsfragen“), ist der Prozess ins Stocken geraten.
So kann sich Warschau in Gelassenheit üben und die „Attacken“ aus Brüssel mit MdEP Zdzislaw Krasnodebski (PiS) genüsslich als rein „psychologisches Druckmittel“ zurückweisen. Auch ein Gesuch von Donald Tusk um ein Treffen mit Staatspräsident Duda wurde mit dem Hinweis abgelehnt, dass es „für die Intervention des Ratspräsidenten keinen Anlass gebe – vielmehr solle dieser für eine objektive Darstellung der polnischen Justizreform in Brüssel sorgen“.
Abgesehen davon, dass das Debakel um das Verfassungsgericht und bereits erfolgte, ähnliche Drohungen bis heute keine Konsequenzen zeigen, sorgt noch ein weiteres Element für entspannte Heiterkeit in den Reihen der Regierung: Die Auslösung von Artikel 7 setzt die Einstimmigkeit der Mitgliedsländer im Rat voraus. Doch hierzu, so die feste Überzeugung, wird es nicht kommen – der Widerstand aus Ungarn gilt als sicher. Und die Vermutung, dass Viktor Orbán sich nicht vor den gemeinsamen EU-Karren spannen lässt, hat dieser mit Blick auf die „Inquisition“ aus Europa inzwischen nun auch selbst bestätigt.
Dies allein wäre freilich kein Grund, das Verfahren gar nicht erst anzustreben, schließlich ist Ungarn auch in anderen Fällen letztendlich eingeknickt. Allerdings ist das Bedürfnis nach Konfrontation vergleichsweise gering und hätte kontraproduktive Folgen, die zu vermeiden im Interesse der meisten EU-Mitgliedsländer liegen. Am Beispiel Polen zeigt sich jedoch, dass der EU verlässliche und effektive Sanktionsinstrumente zu fehlen scheinen: zwar wurden umfassende Kriterien für die Erfüllung von Aufnahmebedingungen, aber nicht für Rückfall-Klauseln entwickelt – ein Versäumnis, das korrigiert werden müsste.
Denn die Vergleichbarkeit der Rechtssysteme ist eine Grundfeste der Europäischen Union: dem Zusammenschluss der Mitgliedsstaaten liegt nicht nur eine Werte- sondern auch eine Rechtsgemeinschaft zugrunde, die Respekt vor dem gemeinsam kodifizierten Recht und somit Rechtssicherheit verspricht. Der Verlust derselben kann weitreichende Folgen haben – nicht nur für das Investitionsklima im Land, sondern auch für die EU-weite Anerkennung von Gerichtsurteilen (etwa im Straf- oder auch im Familienrecht). Die Sorge, die dieser Tage wiederholt zu hören war, dass der derzeitige Kurs der Regierung das Land „schleichend“ aus der EU hinaus und schrittweise in die Isolation führen könnte, wird nicht nur von der Opposition, sondern auch von vielen Polen geteilt, deren Mehrheit sich weiterhin beispiellos pro-europäisch zeigt: Umfragen zufolge sind nur 11% der Polen für einen Austritt aus der EU, der niedrigste Wert in allen Mitgliedsländern überhaupt.
4. Der „Druck der Straße“ – Reaktionen aus der Bevölkerung
Der Zufriedenheit mit ihrer Regierung – wozu ebenfalls eine Mehrheit neigt, scheint dies jedoch kaum Abbruch zu tun. Der „Druck der Straße“ war vor dem Wochenende noch vergleichsweise gering. Als der Sejm anfangs tagte, gingen in Warschau nur wenige Tausend auf die Straße (anders als während der Proteste gegen das Abtreibungsgesetz, das Menschenmassen mobilisierte und die Regierung zum Einlenken zwang). Inzwischen ist die Zahl der Demonstranten, die den Präsidenten doch noch zu einem „Veto“ bewegen wollen, in Warschau zwar auf eine fünfstellige Zahl geklettert (die Stadt spricht von 50.000, die Polizei von lediglich 14.000 Demonstranten), Tendenz steigend. Allerdings scheint dies dem Stimmungsbild der „schweigenden Mehrheit“ nicht ganz zu entsprechen: für einen Teil der Gesellschaft ist die Thematik zu komplex und abstrakt – die Änderungen werden schlichtweg nicht verstanden. Ein anderer, nicht unerheblicher Teil, teilt die Ansichten der Regierung und deren Abneigung gegen die als elitär und ineffektiv empfundene Justiz (s.u.). So finden jenseits der urbanen, intellektuellen Zentren nur wenige Demonstrationen statt. Auch scheint, als habe ihr Vorgehen der PiS mehr genutzt, als geschadet: Seit Beginn der Justizdebatte sind ihre Umfragewerte um 3% gestiegen, auf nunmehr 37%.
5. Was sind die Argumente der PiS?
Gerade mit Blick auf die Justiz spricht die PiS ein tief verwurzeltes Misstrauen und eine Unzufriedenheit an, die in der Bevölkerung verbreitet scheint. Immerhin 63% geben in einer Befragung an, dass sie Reformen im Gerichtswesen befürworten. Dass sich unter den „Eliten“ weitgehend linksliberale Systemprofiteure und Transformationsgewinnler befänden, die Insiderkenntnisse und Geheimwissen in bare Münze verwandelt hätten, ist ein Ressentiment, das die Vorgängerregierung nie so recht zu entkräften vermochte.
Die PiS-Regierung greift dies auf und stellt die Reformpläne als überfällige Maßnahme eines notwendigen Demokratisierungsbestrebens dar: so wird betont, aufgrund der Wahlergebnisse von der Bevölkerung das (mit 37,6% der Stimm en bei einer Wahlbeteiligung von unter 50% allerdings eher fragwürdige) Mandat erhalten zu haben, die selbstmächtig und im ausschließlich eigenen Interesse agierende „Kaste“ einer abgehoben-elitären Justiz in ihren Machenschaften kontrollieren zu müssen und das Rechtswesen „dem Volk“ zurückzugeben. Eine Gewaltenteilung habe es zuvor gerade nicht gegeben, sondern im Gegenteil, eine „sich selbst wählende“, niemandem Rechenschaft schuldige „Jurokratie“: „Wir haben im Augenblick eine Gewaltenteilung, die so aussieht: Wir haben eine Legislative und eine Exekutive. Die kontrollieren sich gegenseitig. Und wir haben ein Justizwesen, das die beiden anderen Gewalten kontrolliert – doch niemand kontrolliert das Justizwesen“, wie die in Deutschland aufgewachsene, PiS-nahe Journalistin Aleksandra Rybinska erklärt: „bei uns wählen sich die Richter selbst.“
Deutschland als Vorbild? Tatsächlich muss ein Mehr an politischer Kontrolle nicht zwingend auch ein Weniger an Demokratie bedeuten – worauf die PiS gerne und mit Blick auf westliche Gerichtsysteme (insbesondere der Bundesrepublik Deutschland) verweist. So lautet denn auch eines ihrer Hauptargumente, sich mit den Neuerungen nicht vom Westen entfernen, sondern im Gegenteil, sich ihm annähern zu wollen. Kritiker halten dem die „gewachsene politische Kultur“ der Bundesrepublik, das föderale System, das Losverfahren bei der Zuteil der Fälle und andere etablierte Instrumente der „checks-and-balances“ entgegen. Eine genauere Prüfung der Sachverhalte täte jedoch not und könnte sich für die jeweiligen Argumentationsstränge als gewinnbringend erweisen, zumal auch die polnische Justizreform zusätzliche Kontrollmechanismen vorsieht, die der Öffentlichkeit so nicht oder noch nicht kommuniziert worden sind.
Ein weiteres Narrativ ist das der „Bereinigung“ des Richterstandes von kommunistischen Altlasten, was laut PiS-Regierung zu zögerlich vorangegangen sei. Es galt das Gebot des „dicken Schlussstrichs“, auf das sich die Gewerkschaft Solidarność und die 1989 abtretenden Kommunisten geeinigt hätten. Danach habe die Solidarność zu lange darauf vertraut, dass das Justizwesen in demokratische Strukturen hineinwachse und sich aus sich selbst heraus reformiere, was aber nicht geschehen sei. In diesem Punkt bleibt sich die PiS treu, die bereits 2006/2007, als sie die Regierung stellte, in der Jarosław Kaczyński (selbst promovierter Jurist und damals Ministerpräsident) ähnliche Bedenken artikulierte und entsprechende Reformen anstrebte. Zwar gab es 1992 und 1997 (u.a. durch ein Lustrationsgesetz) juristische Versuche, sogenannte „System-Opportunisten“ aufzuspüren, doch blieben große Teile der Elite weiterhin verschont. So gehört die Fehde gegen eine nicht geläuterte Gerichtsbarkeit auch zu Kaczyńskis ältesten Kreuzzügen: da die Einrichtung des Landesjustizrates noch unter dem kommunistischen System erfolgte und seit 1989 nicht in Frage gestellt war, perpetuiere sich linkes Gedankengut und dessen Erbe bis heute.
Seitdem sind zwar viele Jahrzehnte vergangen und nicht zuletzt die Zeit hat für eine natürliche Auslese und Durchlüftung der Personalreihen gesorgt – wodurch aber die grundsätzliche Frage nach einem gründlichen Lustrationsprozess, wie er in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens zumindest angestrebt worden ist, nicht ihre prinzipielle Berechtigung verliert. Gerade im Falle der Richter sei, so die Überzeugung, nicht von der Hand zu weisen, dass auch das 2007 zur Überprüfung der Sachverhalte eingerichtete Institut für Nationales Gedenken (IPN, die polnische „Gauck-Behörde“) es nicht vermocht habe, diese ggf. zu überführen: denn um sich mit entsprechenden Disziplinarverfahren zu befassen, musste die Immunität der Richter aufgehoben werden, was nur die Richter selbst vermochten. Sich aber an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, sei auch nach 28 Jahren nicht geschehen, weswegen die Entkommunisierung nachgeholt werden müsse – soweit das Argument der PiS.
Ein weiterer Punkt der PiS-Regierung ist die vorgeblich besonders im Richterstand verbreitete, ungeahndete Korruption, die kontrolliert werden müsse. Ob allerdings die Politik, die in Polen als nicht minder korruptionsanfällig gilt, das richtige Organ hierfür ist, darf bezweifelt werden. Das Argument aber, das Gerichtswesen müsse effektiver werden, teilt die PiS mit der Mehrheit der Bevölkerung: Parteiübergreifend wird beklagt, dass die Gerichte zu langsam und ineffizient agierten, die Urteile meist intransparent und unverständlich seien. Eine Reform der Gerichtsbarkeit wird – nicht nur von der PiS – als dringend notwendig erachtet.
6. Warum das Eiltempo? Zur möglichen Motivation
Doch lässt das Vorgehen der Regierung daran zweifeln, dass es ihr (nur) um die Sache geht. Denn dass es ausschließlich Reformargumente und -inhalte sind, die Kaczyńskis Motivation beflügeln, erscheint unglaubwürdig angesichts des Zeitpunkts und der Art und Weise, wie die Reformen präsentiert und durch die Instanzen gejagt worden sind. Die unangekündigte Einbringung bis dato im Parlament nicht diskutierter Texte unter Umgehung einer Debatte – und dies eine Woche vor der Sommerpause, zu einem Zeitpunkt also, zu dem die Aufmerksamkeit gering und die meisten Polen mental oder real bereits in den Ferien waren, lässt eine gezielte Kalkulation vermuten, zu der die Minimierung von Protestpotential und eine Überrumpelungstaktik samt strategischer Eingrenzung des Reaktionsvermögens der Opposition (sowie der zu erwartenden Kritik) sicherlich gehören dürften. Der enge zeitliche Handlungsspielraum erzeugte zudem einen Druck, der die einen antrieb und die anderen lähmte. Und die Rechnung ist aufgegangen: Während die Opposition perplex um Fassung rang und die Nächte zu Tagen machte, wurde im Plenarsaal eine Hürde nach der anderen genommen, bis der Lauf gegen die Zeit gewonnen war.
Dahinter werden aber auch zwei konkrete Termine vermutet, die unmittelbar bevorstehen und besondere Eile zu erzwingen scheinen: am 9. August soll der Oberste Gerichtshof endgültig über eine mögliche Begnadigung des ehemaligen Chefs der Anti-Korruptionsbehörde und derzeitigen Geheimdienstkoordinators Mariusz Kamińskis entscheiden. Kamiński, der als überzeugter Kaczyński-Anhänger gilt, war Anfang 2015 wegen Amtsmissbrauchs zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Als Ende desselben Jahres die PiS die Parlamentswahl gewann und Duda Präsident wurde, hat dieser ihn kraft seines neuen Amtes umgehend begnadigt. Das (derzeitig amtierende) Oberste Gerichts hat die Begnadigung jedoch nicht anerkannt und will diesen August über die Wiederaufnahme des Verfahrens entscheiden. Dies wolle die Regierung – so die Vermutung – mit einem reformierten, gefügigen Gerichtshof um jeden Preis verhindern.
Eine weitere Personalie steht ebenfalls auf dem Spiel: Am 12. September soll das Oberste Gericht über die Frage befinden, ob die kontroverse Einsetzung der Vorsitzenden des Verfassungsgerichts, Julia Przyłębska, rechtens war – die rechtliche Lage ist unklar (s.o.) und eine Legitimierung durch den Gerichtshof somit erforderlich.
Insgesamt weist also vieles darauf hin, dass es in erster Linie auch darum gehen könnte, sich die Gerichte gefügig zu machen und Loyalitäten für andere, weniger sachdienliche Umstände zu schaffen.
7. Die Rolle der Medien – Demagogie statt Demokratie
All dies polarisiert sämtliche gesellschaftlichen Kräfte – in einem, wie die meisten Polen meinen, bisher kaum dagewesenen Maß. Die Kirche hat soweit geschwiegen – und ihr Schweigen genau damit rechtfertigt: In einer von Konflikt und Konfrontation geprägten Debatte, so die Bischofskonferenz, fehle es an Bemühen um Verständigung, wodurch eine Beteiligung fruchtlos sei. Wer die Debatten verfolgt, kommt nicht ganz umhin, der Kirche Recht zu geben – zu festgefahren scheint die Lage, zu unnachgiebig der dualistische Kampf erbitterter Seiten.
Die mediale Berichterstattung trägt hierzu nicht unerheblich bei: Während die überwiegende Mehrheit der linksliberalen Medien sich gar nicht erst bemüht, auch nur den Anschein von Objektivität zu erwecken und offen gegen die Regierung hetzt, ergeht sich die regierungsnahe Presse in unverhohlener Propaganda (u.a. durch wertende „Infobalken“ während der Berichterstattung), schlichter Ignoranz des Geschehens (insbesondere der Proteste) und geschmacklosen, persönlichen Verleumdungen, die es nicht verdienen, repliziert zu werden.
Dabei tut sich besonders das staatliche (bereits „gleichgeschaltete“) Fernsehen hervor, in dessen Sender TVP seit Tagen eine Kampagne läuft, die den Richterstand pauschal als „korrupte Kleptokratie“ und „volksferne Kaste“ diffamiert, mit zweifelhaften, haarsträubenden „Beweisen“. Nun kommt reißerische Berichterstattung zwar in den besten privaten (Medien)Häusern aller Länder vor, der eigentliche Skandal ist aber, dass es sich hierbei um den öffentlich-rechtlichen Sender Polens handelt, dessen Berichterstattung auf ein Niveau gesunken ist, das selbst PiS-Anhängern zu weit zu gehen scheint: Der Bürger weiß das zu quittieren und wendet sich zunehmend ab – die Einschaltquoten gehen seit einiger Zeit kontinuierlich zurück. Allein die zuvor beliebteste Nachrichtensendung hat bislang 300.000 Zuschauer verloren, der 1. Platz geht jetzt an die private Konkurrenz.
Was die Justizreform anbelangt, schien es noch nie so schwer, abseits von Verlautbarungsjournalismus und Hysterie differenzierte Informationen zu bekommen. Auf der Strecke bleiben die in einer Demokratie unverzichtbare Informationspflicht der Medien und das Informationsbedürfnis des Bürgers, der die abstrakten Vorgänge schlichtweg begreifen und auch jenseits alarmistischer Schlagzeilen wissen will, weswegen er sich genau Sorgen machen muss. Wie sonst könnte er den ironischen Aufmacher der Gazeta Wyborcza „Übrig bleibt das Jüngste Gericht“ vom 21. Juli verstehen?
8. Die Rolle des Präsidenten
So weit ist es aber noch nicht, so lange ein letztes, unwägbares Element besteht: Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda, der in jüngster Zeit schon einige Male aus der Reihe der PiS zu tanzen schien. Ein Einspruch wurde von ihm jedoch am wenigsten erwartet und kam selbst für den „Präses“ (Kaczyński), wie dieser es formulierte, „zugegebenermaßen überraschend“. Duda, bevor ihn sein Parteivorsitzender zum Präsidenten ernannte, war ein weitgehend unbeschriebenes Blatt und gilt als „Ziehsohn“ und „Marionette“ Kaczyńskis, der für seinen Kurs ein „freundliches Gesicht“ zu brauchen schien. Und Duda hat seinen Ruf, willfährig und unbesehen alles zu unterzeichnen, was vom Präses kommt (und den dadurch erworbenen Spitznamen „Notar“), bisher nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Doch nun scheint er sich emanzipieren und eine eigene Agenda verfolgen zu wollen, was derzeit in Polen für zahlreiche Spekulationen sorgt.
Dass der Präsident auf Druck des Auslands oder gar der Straße handelt, gilt dabei als unwahrscheinlich. Auch, dass es ihm um die Sache geht, wird eher nicht vermutet, scheint ihn doch die Rechtmäßigkeit vielzähliger anderer Entschlüsse bisher kaum gekümmert zu haben. Und auch seine jüngste Forderung (nach einer 3/5-Mehrheit für die künftige Zusammensetzung im Landesjustizrat), wurde nicht mit prinzipiellen Bedenken, wie etwa Verfassungswidrigkeit, sondern mit einem „Zuviel“ an Regierungseinfluss begründet – und allgemein als „kosmetisch-taktisches“ Argument gewertet, um etwas mehr Distanz zur Regierung zu „inszenieren“.
Vielmehr ist ein geschickter Schachzug des immerzu Marginalisierten und Belächelten anzunehmen, der sich mit Blick auf seine eigene politische Zukunft zu besinnen und endlich zu profilieren beginnt. Für Duda wäre es tatsächlich die Gelegenheit, sich mit einem einzigen Querschlag und eigener Handschrift ein für alle Mal in die Geschicke seines Landes einzuschreiben und sich nationale wie internationale Aufmerksamkeit zu sichern.
Und so ist der Ausgang der Novelle weiterhin ungewiss: Der Präsident hat nunmehr 21 Tage Zeit, die Gesetzesvorlagen entweder auszufertigen oder sie zur weiteren Prüfung an das Verfassungsgericht zu übergeben. Denn sollten sie sich als verfassungswidrig erweisen (was Teile der Experten glauben), dürfte er sie qua seines Amtes gar nicht erst billigen: der Präsident ist gleichzeitig auch oberster Hüter der Verfassung, was dem promovierten Juristen Duda bekannt sein dürfte.
Zudem hat Duda einem zuvor abgelehnten Gespräch mit der Vorsitzenden des Obersten Gerichts, Malgorzata Gersdorf, inzwischen zugestimmt – der Termin, so wurde bekannt, sei für Montag anberaumt. Und last, but not least, ließ er über seinen Sprecher vermutliche Schwachstellen der Vorlagen bemängeln: So seien etwa in zwei Artikeln, die die Ernennung des Chefs des Obersten Gerichts beträfen, Inkonsistenzen enthalten. Ob er sich auf dieser Grundlage der Unterzeichnung verweigern wird, blieb freilich offen.
Doch abgesehen davon, wie es letztendlich ausgehen wird – als Zwischenfazit scheint jetzt schon gewiss: Die Situation ist verfahren, der Graben zwischen den antagonistischen politischen und gesellschaftlichen Kräften breiter geworden. Die Eskalationen im Plenarsaal werden auf die Medien übertragen, und mit Pauschalurteilen, Halbwahrheit und Fehlinformationen in die Bevölkerung hinein: Die Spaltung innerhalb der Gesellschaft wird vertieft, ihrer notwendigen Überwindung keinen Gefallen getan. So ist – mehr noch als eine sukzessive Entzweiung Polens mit der EU und unabhängig vom Ausgang des Disputs um die Gerichte – ein innerpolnischer Bruch zu befürchten, mit fatalen Folgen für die polnische Demokratie.
Es ist vor allem das, was Sorgen machen sollte: Die zu beobachtende politische Kultur von „Freund oder Feind“, eines „wer nicht für mich ist, ist gegen mich“, verschließt sich der Möglichkeit, zentralen und für das Land so wesentlichen Anliegen den Raum zu geben, den sie verdienen. Und so wird eine Chance verspielt, notwendige Reformen differenziert zu betrachten und, im Interesse der Zukunft, gemeinsam zu gestalten.