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Der Aufstieg des Hindunationalismus ging in den vergangenen Jahren mit zahlreichen Versuchen einher, die Mythen über die eigene Vergangenheit wissenschaftlich zu untermauern. Hierzu gehört vor allem der umstrittene Anspruch, daß die meisten der von seinen Vertretern propagierten Wurzeln eine Grundlage in den Veden haben. Dies ist von der Wissenschaft schon mehrfach korrigiert worden.
Eine andere Kontroverse, die nach wie vor gefährlichen sozialen Zündstoff in sich birgt, richtet sich auf die Behauptung, daß an bestimmten Orten ursprünglich hinduistische Tempelanlagen gestanden haben sollen, die dann angeblich von den muslimischen Eroberern zerstört worden seien, um an derselben Stelle eine Moschee zu errichten. Die Babri Moschee in Ayodhya ist das auch im Westen bekannteste Beispiel, doch haben Archäologen inzwischen erhebliche Zweifel angemeldet.
Ein dritter Bereich, der in den vergangenen Monaten intensiv in den Medien diskutiert worden ist, bildet die Einführung neuer Schulcurricula, in denen das multi-kulturelle Erbe Indiens ausschließlich hinduistisch interpretiert wird.
Die Medien in Indien, die teilweise sehr intensiv von wissenschaftlicher Seite unterstützt werden, treten immer wieder diesen Versuchen der Mythenbildung entgegen. Dabei hat es aber häufig wenig Sinn, über vermeintliche historische Sachverhalte zu streiten, während es sich letztlich allein um aktuelle Sinngebung und Ideologisierung handelt. Wie wenig den Hindunationalisten an einer tatsächlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung gelegen ist, wird zur Zeit vor allem an dem Streit deutlich, der über die Einführung von Astrologie und vedischem Ritualismus als Forschungs- und Universitätsdisziplinen geführt wird.
"Vedischer Ritualismus" ist die Lehre von den "yajnas". Diese "yajnas" beschreiben das Regelwerk, nach dem sich die vielfältigen, zum Teil ganz alltäglichen Kulthandlungen des Hinduismus zu richten haben. Damit bilden sie zwar einen interessanten Gegenstand der Kulturanthropologie, aber keine Wissenschaftsdisziplin an sich. Außerdem bieten sie keinen verbindlichen Kanon, da sich in ihnen die Tatsache widerspiegelt, daß der Hinduismus keine Buchreligion ist, sondern eher eine Lebensweise.
Die aktuelle Kontroverse über die Einführung von Astrologie und vedischem Ritualismus als akademische Disziplinen steht im Kontext der BJP-Personalpolitik. Seit der Regierungsübernahme hat die BJP große Anstrengungen darauf verwendet, die Leitungsfunktionen vor allem auch wissenschaftlicher Institutionen mit eigenen Leuten neu zu besetzen. In diesem Zusammenhang wurde Prof. Hari Mohan Gautam von Kultusminister Murli Manohar Joshi zum Vorsitzenden der "University Grants Commission" (UGC) bestellt, die landesweit über die Vergabe von staatlich geförderten Forschungsprojekten entscheidet.
Seitdem konzentriert Gautam einen großen Teil seiner Energie darauf, den beiden genannten pseudo-wissenschaftlichen Disziplinen die akademischen Weihen zu verleihen, obwohl hierfür keinerlei Nachfrage besteht. Vielmehr handelt es sich um die Oktroyierung eines Weltbildes, wie es der Forderung nach einem Tempelneubau an die Stelle der Babri Moschee durchaus ähnlich ist. Es gibt jedoch auf Seiten der Hindunationalisten weder Interesse an einem rationalen Diskurs, noch an einer demokratischen Entscheidungsfindung (The Hindu, 06.04.01).
Allerdings erfreut sich die Astrologie in Indien großer Beliebtheit und verfügt über eine lange Tradition. Es scheint daher keineswegs abwegig, sie als Instrument der Meinungsbildung nutzen zu wollen. Sie ist bis heute bei allen Hochzeiten, Einweihungen und folgenreichen persönlichen Entscheidungen sehr gefragt. Es gibt für den Hindunationalismus ein durchaus populistisches Interesse daran, diese Pseudo-Wissenschaft der eigenen Weltanschauung dienstbar zu machen.
Obwohl nicht nur die Medien, sondern die meisten wissenschaftlichen und vor allem naturwissenschaftlichen Vereinigungen gegen diese Durchsetzung Sturm laufen, ist die Entscheidung hierüber jetzt spruchreif. Gautam spricht der Astrologie den gleichen Wissenschaftscharakter zu wie der Soziologie oder der Politikwissenschaft, die ja ebenfalls über die Ordnung des öffentlichen Lebens Auskunft geben. Welche Kriterien er dabei der Wissenschaftlichkeit zugrunde legt, bleibt unausgesprochen. Die international üblichen, wie vor allem die der rationalen Hypothesenbildung, der intersubjektiven Überprüfbarkeit und vor allem der Falsifizierbarkeit können es nicht sein.
Im Lehrgebäude der indischen Astrologie gibt es bis heute weniger Planeten, als die Astrophysik seit langem nachgewiesen hat, während gleichzeitig die beiden Planeten "Rahu" und "Ketu" zwar wichtig sind, aber bis heute weiß niemand, wo sie existieren. Dennoch werden sie in Zukunft dazu beitragen, eine obskurantistische und fundamentalistische Weltanschauung hoffähig zu machen (vgl. Frontline, 25.05.01, und Hindustan Times, 23.05.01).
An diesem Beispiel wird deutlich, daß der Hindunationalismus weniger eine religiöse als vielmehr eine politische Bewegung darstellt, dessen Vertreter versuchen, Mythen und Religion zu einem Instrument der Politik umzufunktionieren. Obwohl auch in Indien und im Hinduismus bedeutende Traditionen von Toleranz, Wissenschaft und Offenheit des Glaubens zu finden sind, operieren die Hindunationalisten bevorzugt mit vereinfachten Formeln und populären Klischees. Deshalb wird ihnen in den Medien immer wieder vorgeworfen, fortwährend die soziale Realität des Landes zu ignorieren, umzudeuten oder sogar zu leugnen.
Die Einführung von Astrologie und vedischem Ritualismus bilden derzeit eines der prägnantesten Beispiele für das Bemühen, die "Hinduisierung" Indiens voranzutreiben und dem öffentlichen Leben Indiens einen safrangelben Schleier überzustülpen. Ähnlich wie im Fall des neuen Schulcurriculums soll auch mit Hilfe der Astrologie ein Bild des Landes erzeugt werden, in dem Selbstgenügsamkeit und Bescheidenheit herrschen, in dem es keine Unterdrückung von Frauen gibt und keine Gewalt gegen Minderheiten und in dem das Kastensystem der öffentlichen Ordnung Stabilität und Frieden gewährt.