Bis wenige Wochen vor der Wahl hatte der amtierende Präsident, Egils Levits, noch verkündet, dass er eine Wiederwahl anstrebe. Er wurde zudem von der Partei des amtierenden Ministerpräsidenten, Krišjānis Kariņš (Vienotība („Neue Einheit“; EVP) nominiert. Da er in der nahen Vergangenheit einige Parteien im Parlament scharf kritisiert hatte, war seine Wahl zunehmend unsicher geworden. Nachdem sich die regierende Koalition bestehend aus Vienotība („Neue Einheit“; EVP), Apvienotais saraksts („Vereinte Liste“) und Nacionālā apvienība („Nationale Allianz“; EKR) - nicht auf eine/n gemeinsame/n Kandidatin/en einigen konnte, weitete sich das Feld der Kandidaten.
Das Wahlbündnis „Vereinte Liste“ erklärte, dass es den bisherigen Präsidenten Egils Levits nicht unterstützen würde und nominierte als erstes einen eigenen Kandidaten – den Gründer der „Vereinten Liste“ Uldis Pīlēns. Der Bauunternehmer Pīlēns hatte selbst nicht bei den Parlamentswahlen im Oktober 2022 kandidiert. Vienotība hatte danach als ihren Kandidaten Egils Levits bekannt gegeben und hoffte auf die Unterstützung von den „Progressiven“. Nachdem die „Progressiven“ ihre eigene Kandidatin – die in Lettland kaum bekannte Aktivistin der lettischen Diaspora, Elīna Pinto – nominierten, zog Levits am 10. Mai seine Kandidatur zurück. Er wollte zudem nicht mit Unterstützung von russland- und oligarchennahen Parteien gewählt werden.
Das beste Pferd im Stall
Bereits am 11. Mai – nach mehrstündiger interner Beratungen – nominierte Vienotība den aktuellen Außenminister Edgars Rinkēvičs. Rinkēvičs ist bereits seit 2011 im Amt. Er zählt zu den populärsten Politikern Lettlands. Auch die Tätigkeit des von ihm geführten Außenministeriums wird in der Bevölkerung sehr positiv bewertet, insbesondere in der aktuellen sicherheitspolitischen Situation. Dass Vienotība ihren „besten Mann“ in den Wahlkampf schickte, zeigt, wie wichtig das Ergebnis dieser Wahl für die Partei ist. Das Land sieht sich seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, mit gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, die lange unter der Oberfläche schlummerten und jetzt aufbrechen. Hier geht es vorrangig um den Teil der russischsprachigen Bevölkerung. Die Gesellschaft zu (ver-)einen, alle zu vertreten und das Land insgesamt zu stärken, das sind die Kernaufgaben des Präsidenten. Dies ist derzeit von herausgehobener Bedeutung.
Ergebnisse
Edgars Rinkēvičs wurde im dritten Wahlgang mit 52 Stimmen gewählt (51 waren notwendig). Hieraus entfielen 26 Stimmen auf seine Partei Vienotība und Stimmen aus den zwei Oppositionsparteien: 16 Stimmen der Zaļo un Zemnieku savienība („Bündnis der Grünen und Bauern“) und 10 Stimmen der Progresīvie („Progressiven“). In den ersten beiden Wahlgängen gab es keine Mehrheit für einen Kandidaten. Nachdem beim zweiten Wahlgang die Kandidatin der „Progressiven“, Elīna Pinto, aus dem Rennen ausschied, stimmten deren Abgeordnete für Rinkēvičs. Die zweite Koalitionspartei „Vereinte Liste“ stimmte in allen drei Wahlgängen für ihren Kandidaten Uldis Pīlēns. Die Fraktion des Koalitionspartners „Nationale Allianz“ hat ihre Stimmen keinen der drei Kandidaten abgegeben. Pīlēns erhielt die 15 Stimmen seiner Partei sowie 9 der Oppositionspartei des Oligarchen Šlesers „Lettland an erster Stelle“ und der unabhängigen Abgeordneten Glorija Grevcova. Gegen alle Kandidaten hat auch die prorussische Oppositionspartei „Für Stabilität!“ gestimmt.
Ein Oligarch als Zünglein an der Waage?
Interessant ist die Haltung des dritten Koalitionspartners, der Nacionālā apvienība („Nationale Allianz“), die anfangs mit der Nominierung von Levits zu lange gewartet und danach keine Unterstützung für keinen der Kandidaten ausgesprochen hat. Angeblich hat die „Nationale Allianz“ auf Neuwahlen Mitte Juni gehofft und wollte dann mit einem neuen Kandidaten ins Spiel kommen. Bei der entstandenen Patt-Situation hätte die Zaļo un Zemnieku savienība („Bündnis der Grünen und Bauern“) aus der Opposition plötzlich das Heft des Handelns in der Hand gehabt und zudem die Hoffnung, wieder in die Regierung zu kommen. Beide Kandidaten – sowohl Uldis Pīlēns (“Vereinte Liste”) als auch Edgars Rinkēvičs (Vienotība) sind bei der Wahl auf die Unterstützung des „Bündnis der Grünen und Bauern“ angewiesen. Beide Varianten sind kompliziert und ideologisch schwer begründbar, weil das Bündnis mit dem zwielichtigen und wegen Geldwäsche verurteilten Oligarchen Aivars Lembergs identifiziert wird. Die „Vereinte Liste“ wurde 2022 vor den Parlamentswahlen gegründet, um sich von Lembergs zu distanzieren. Und für die Vienotība war das „Bündnis der Grünen und Bauern“ mit Lembergs im Hintergrund die „rote Linie“ für die Bildung einer Koalition. Die Verhandlungen im Hintergrund blieben spannend bis zum Wahltag, weil das Bündnis um Lembergs seine Entscheidung für die Unterstützung eines Kandidaten erst am Morgen des Wahltages bekanntgab.
Hinzu kam, dass es mit einem Präsidenten Rinkēvičs zu einer möglichen Neubildung der Koalition komme, aufgrund der hierfür nötigen Unterstützung der größten Oppositionspartei um Lembergs.
Fazit
Klarer Sieger der Wahl ist die Partei Vienotība. Ihr ist es hervorragend gelungen, eine breite Unterstützung ihres Kandidaten zu sichern. Sie kann zudem bestimmen, wie die künftige Koalition aussehen wird (unverändert, mit anderen Partnern oder erweitert). Die Unterstützung der Oppositionsparteien, insbesondere der „Grünen- und Bauernunion“, lässt vermuten, dass diese nicht ohne Gegenleistung erfolgt ist. Premierminister Kariņš hat am Tag nach der Wahl verkündet, dass er am 2. Juni Gespräche mit der Regierungskoalition hierüber führen wird. Die Arbeit der aktuellen Koalition hinkt, die angesagten Reformen in den Bereichen Bildung und Medizin sowie Transformation der Wirtschaft werden nur langsam umgesetzt. Obwohl Rinkēvičs auf seine Mitgliedschaft bei der Vienotība verzichten wird, befürchten die beiden Koalitionspartner eine Verschiebung des Gleichgewichts in der Machtspitze des Staates. Vienotība wird nun sowohl die Präsidialkanzlei als auch die Regierung anführen. Eine ungeschriebene Einigung besagt, dass die drei leitenden Staatsposten (Präsident, Parlamentspräsident und Ministerpräsident) unter den Koalitionspartnern geteilt werden.
Unabhängig davon, wie sich die Situation weiter entwickelt, kann man die Wahl von Edgars Rinkēvičs, gerade in der aktuellen sicherheitspolitischen Situation, als einen Erfolg für Lettland bezeichnen. Kritik kommt vor allem vom konservativen Teil der Gesellschaft. Stellt für sie die Homosexualtität Rinkēvičs eine Bürde im Hinblick auf die eigene Unterstütung für ihn dar. Fachlich bringt er jedoch alles mit, was es für das neue Amt bedarf. Vor allem seine Erfahrungen, sein Wissen, seine internationalen Kontakte aus zwölf Jahren als Außenminister. Darüber hinaus bringt er aus seiner früheren Tätigkeit als Kanzleileiter des Präsidenten Zatlers die nötigen Erfahrungen über die Abläufe der Präsidentschaftskanzlei mit. Die Bildung seines neuen Teams hat bereits begonnen. Seine Kanzleileiterin wird die bisherige parlamentarische Staatssekretärin des Außenministeriums, Gunda Reire, der Kommunikationschef sein bisheriger engster Mitarbeiter im Außenministerium, Martiņš Drēģeris.
Die Wahl ist über das Politische hinaus prägend. Mindestens seit Februar 2022 wurde das Land durch den Krieg in der Ukraine mit all seinen direkten und indirekten Folgen durchgeschüttelt. Narben rissen auf, Gräben wurden teils vertieft. Wurde der Zusammenhalt der Gesellschaft schon durch die Coronakrise auf die Probe gestellt, so hat der Ukrainekrieg dies noch einmal verstärkt. Dass das Land nach Versöhnung strebt, wurde am 29. Mai 2023 deutlich, dem Tag nach dem historischen WM-Triumph (3. Platz) der Herren im Eishockey. Das Parlament hatte kurzfristig über Nacht einen Feiertag verhängt und gefühlt das ganze Land vereinigte sich unter der lettischen Fahne samt seiner Hymne (egal ob russisch- oder lettischsprachig). Dies kann als “Zielgefühl” definiert werden. Der neue Präsident steht vor großen Aufgaben, dieses Zielgefühl der Einigkeit zu erreichen.