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Abstracts der Vorträge 2009

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2009: Wem gehört die deutsche Sprache? Die Zukunft der deutschen Sprache im vielsprachigen Europa

Prof. Dr. Peter Hanenberg (Universität Lissabon – Universidade Católica)

Deutsch – mehr als eine Sprache. Germanistik im Ausland

Die Germanistik im Ausland steht vor großen Herausforderungen. Einbrechende Studentenzahlen, neue Universitätsstrukturen und ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel fordern eine umfassende Neubestimmung des Fachs. Hintergrund der Überlegungen bildet die Situation der Germanistik in Portugal. Die Deutschlehrerausbildung, die über Jahrzehnte eine so genannte ‚Voll-Germanistik’ an mehr als 10 Universitäten des Landes ermöglichte, ist u.a. mangels Berufsaussichten völlig in den Hintergrund getreten, entsprechende Studiengänge und Abteilungen wurden stillgelegt oder umgewidmet. So mussten die Grundlagen des Faches praktisch (d.h. in seiner konkreten Aufstellung) neu erfunden werden. Der Vortrag stellt die Erfahrungen in diesem noch nicht abgeschlossenen Prozess unter folgende Punkten zur Diskussion:

  1. Zur Situation der deutschen Sprache: Sprachenvielfalt und ihre Grenzen
  2. Germanistik als Kulturwissenschaft oder un nouveau paradigme pour comprendre le monde d'aujourd'hui
  3. Why we read fiction? Die Rolle der Literatur
  4. Interkulturelle Germanistik und Übersetzung
  5. Wer Europäer ist, ist immer schon auch Übersetzer: Europa als Herausforderung
Prof. Dr. Oliver Jahraus (Ludwig-Maximilians-Universität München)

Der Charakter der deutschen Literatur und die unbekannte Nation

Der Vortrag untersucht, welche Bedeutung und Funktion die – insbesondere literaturwissenschaftliche – Germanistik für die deutsche Sprache im Hinblick auf eine politische Aufgabe der Sprachvermittlung übernehmen kann bzw. übernimmt. Der Ausgangspunkt besteht in einer Formulierung von Nicolas Boyle, der der Germanistik die Aufgabe und die Fähigkeit zuspricht, den Leser mit der deutschen Nation bekannt zu machen. Die darauf aufbauende Argumentation will dabei die Begriffe Sprache, Medium, Kultur und Nation systematisch einander zuordnen, um deutlich zu machen, dass die Germanistik immer schon in der Art und Weise, wie sie sich – deutschsprachiger und deutscher – Literatur zuwendet, den kulturellen und kulturpolitischen Auftrag einer Sprachvermittlung erfüllt. Die Germanistik macht nämlich offenbar, wie sich in literarischen Texten ein sprachbasierter Prozess einer kulturellen Teilhabe an dem, was man als Nation bezeichnen könnte, geradezu textkonstitutiv vollzieht. Dies kann dort anschaulich gemacht werden, wo man fragt, warum Autoren, denen andere Sprachen zur Verfügung standen oder stehen, auf Deutsch schrieben oder schreiben. An Beispielen der letzten 100 Jahre wie Kafka, Celan und Zaimoglu soll gezeigt werden, wie die deutsche Sprache ihre Literatur charakterisiert, indem sie ihren Autoren wie ihren Lesern einen Zugang zu einer Kultur verschafft, die ihrerseits wiederum auf die Texte zurückwirkt.

Prof. Dr. Gerhard Lauer (Georg-August-Universität Göttingen)

Wie deutsch ist die deutsche Literatur?

Dass die deutsche Literatur erst spät eine deutschsprachige Literatur geworden ist, gehört zum Grundwissen der Literaturgeschichte, denn lange schrieb man Latein, war Französisch die Sprache der tonangebenden Schichten und Traktatliteratur in ungeregelter Orthographie war an der Tagesordnung. Umgekehrt gilt, dass die Etablierung einer deutschen Literatur als einer Nationalliteratur nicht möglich gewesen wäre ohne den Rückgriff auf die nicht-deutsche Literatur. Griechische Poetiken, lateinische Gedichte, französische Dramen, englische und spanische Romane haben der deutschen Literatur den Weg gewiesen und das nicht selten unter emphatischer Bezugnahme auf sie. Shakespeare scheint geradezu der größte deutsche Dichter zu sein. Der Vortrag geht dem Paradox nach, dass die Konstitution des Eigenen in der Auseinandersetzung mit dem anderen erfolgt, in der deutschen Literaturgeschichte nicht anders als in anderen Nationalliteraturen. Gibt es Gesetzmäßigkeiten der Entstehung von solchen Nationalliteraturen, wie Franco Moretti meint? Wenn ja, wie laufen die Abgrenzungsstrategien, wie strikt werden sie gehandhabt, wie verhalten sich inhaltliche und formale Merkmale? Solchen Fragen geht der Vortrag nach und wird zeigen, dass auch im Zeitalter der Globalisierung die Aushandlungen über das Eigene zum Movens werden, das andere auch zu tun.

Prof. Dr. Hubert Orłowski (Universität Poznań)

Deutsch – (k)eine europäische Lebenswelt - Was macht die deutsche Sprache kulturell und intellektuell attraktiv?

Den Anstoß für meinen Beitrag lieferte die von dem bekannten polnischen Theologen Professor Tomasz Weclawski (Węcławski) herausgebene und übersetzte Anthologie/Dokumentation Praeceptores. Theologie und Theologen der deutschen Spra¬che, erschienen im Jahre 2005 als Band Nr. 21 der von mir und Christoph Klessmann edierten Schriftenreihe Poznanska Biblioteka Niemiecka (Posener Deutsche Bibliothek). Weclawskis These vom besonderen Status der Sprache der deutschen Theologie – die in Anlehnung an Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie sowie an paradigmatische (Hypo)Thesen moderner Sprachenforscher im Bereich sprachlicher Konzeptualisierung der Welt („sprachfreies Denken gibt es nicht“) ausformuliert ist – stellt sich mir hic et nunc als die dramatische Frage an das Weiterbestehen oder Verkümmern des Deutschen als Sprach- und Denkbiotop eines (wenn auch nur bescheidenen) Teiles der humanistischen ‘Lebenswelt’ sowie als Wissenschaftssprache.

Weder die Sprachenpolitik (der jeweiligen Partnerstaaten der EU bzw. der Union als solcher), noch der Status (im Sinne von Ulrich Ammon) der jeweiligen (in diesem Falle aber der deutschen) Sprache in der EU, sind damit angesprochen; diese zweifelsohne zu lösenden Fragen liegen nämlich im Handlungsbereich der politischen Klasse(n) Europas. Die zur Zeit in Deutschland stattfindende ‚kleine‘ Mobilmachung seitens der Politiker (Jutta Limbach, Steinmeier...) als auch von (Sprach)Wissenschaftlern (Peter Eisenberg, Jürgen Kocka, Ulrich Ammon, Helmut Glück...) ist begrüßenswert, aber sie tangieren bestenfalls meine Perspektivierung.

Ist Deutsch keine europäische ‚Lebenswelt’ mehr? ‚Lebenswelt’ ist hier zu verstehen im Sinne von Alfred Schütz: „Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene … als schlicht gegeben vorfindet.“ Seinerzeit wurde Deutsch als (kulturell, intellektuell) „schlicht gegeben“ vor¬gefunden. Im 19. Jh. galt die deutsche Rechtssprache als intellektuell attraktiv, oder die Narrativa der borussianischen Historiker; um die Jahrhundertwende – die der Philoso¬phen und Forscher (Dilthey, Husserl, Freud, Weber ….). Lukács und Ingarden haben seinerzeit kaum zufällig das Deutsche anderen Sprachen vorgezogen.

Die Antwort auf die Frage, ob die ‘Lebenswelt Deutsch‘ in einer ‚world-wide-web-Welt‘ unter dem Diktat des Impact-Factors (in Englisch) eine Überlebenschance hat, ist wohl kaum zu beantworten. Eine mögliche Antwort versuche ich im Feld zu finden, das u.a. von diesen Fragen eingeschränkt ist:

  • Warum verfassen deutsche Vertreter der humanities ihre originellen Werke kaum in (Englisch) anderen Sprachen?
  • Sind originelle Werke von Intellektuellen (im Exil) auf Englisch – wie die von Hannah Arendt, Ernst Kantorowicz, Ernst Cassirer – als Präzedenzfälle zu verstehen?
  • Welche ‚intellektuellen Zugpferde’, welche Schöpfer von Paradigmen(wechseln) und Diskurs(brüche)en könn(t)en gegenwärtig (als Ikonen) die deutsche Sprache attraktiver machen?
  • Ist kontrafaktisch anzunehmen, dass originelle Werke aus den Bereichen Philosophie, Soziologie, Anthropologie oder Historik NUR in der Mutter/Vatersprache verfaßbar sind?
Prof. Dr. Christoph Parry (Universität Vaasa)

Wer bestimmt, wie wir Deutsch sprechen?

Die naheliegende Antwort auf die Frage, wer bestimmt, wie wir Deutsch sprechen, lautet nach wie vor für jeden, der im engeren oder weiteren Sinne mit DaF zu tun hat: die Deutschlehrer und mit ihnen die Institutionen, die ihre Arbeit unterstützen. Diese Antwort führt zur weiteren Frage, warum, seit wann und in wessen Interesse das so ist. Die Fragestellung berührt somit den Kern der Gesamtfragestellung der Tagung: Wem gehört die deutsche Sprache? Der Beitrag wird zunächst mit einem kurzen historischen Exkurs versuchen, die seit der Romantik vorherrschende Gleichsetzung von Sprache, Volk und Nation als Idee zu hinterfragen. Vor allem soll erwogen werden, wie sich die Rollen von Nationalsprache und Verkehrssprache vertragen. Die besondere Stellung des Deutschen im 19. Jahrhundert soll durch einen Vergleich mit dem schon damals in einem polyzentrischen Sprachraum verbreiteten Englisch einerseits und der peripheren Sprachgemeinschaft des Finnischen andererseits erhellt werden. Dabei wird die These aufgestellt, dass die Idee der Sprachnation, die spätestens seit Herder starken Einfluss auf das politische Denken in Deutschland hatte, dem Charakter des ausgedehnten deutschen Sprachraums des 18. und 19. Jahrhunderts, besonders in seinem heterogenen östlichen Teil, in dem Herder selber zuhause war, von vorneherein nicht gerecht wurde. Infolge dieses Missverständnisses wurde die Stellung der deutschen Sprache in Europa zu einem der Opfer der katastrophalen nationalistischen Politik des 20. Jahrhunderts.

Während das Deutsche seine Stellung als Verkehrssprache in einem mehrsprachigen Osteuropa verloren hat, ist in den letzten Jahrzehnten der Kern des deutschen Sprachraums zunehmend multikulturell geworden. In diesem Zusammenhang werden die traditionelle Kanonisierung eines bestimmten literarischen Korpus und insbesondere ihre Kehrseite, die Vernachlässigung und der Ausschluss anderer potentieller Korpora, wieder aktuell. Von der Brandmarkung des ‚Dichterjuden’ Heine, über Bemerkungen zum ‚unnatürlichen’ Sprachgebrauch Kafkas oder Celans bis hin zur gelegentlichen Kritik der Neologismen von Sevgi Emine Özdamar und anderen nicht deutschstämmigen Gegenwartsautoren, wurde und wird eine Ausgrenzungspolitik betrieben, die die deutschsprachige Kultur um den Reichtum der Vielfalt beraubt.

Schließlich soll noch die Überlegung angestellt werden, ob das immer noch stark literarisch geprägte Deutsch der Germanisten überhaupt noch die Flexibilität aufweist, um die kommunikativen Herausforderungen der Gegenwart zu meistern – oder wie kommt es, dass der neue Wortschatz ganzer Bereiche wie EDV und Marketing (sic!) von Anglizismen beherrscht wird?

Prof. Dr. Gertrud Rösch (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)

Wem gehört die deutsche Sprache?

Gehört die deutsche Sprache den Dichtern und Schriftstellern? Und was vermitteln wir als Germanisten und Auslandsgermanisten dann? Goethes Gedichte? Lieder von Schubert oder von Rosenstolz oder von Reinhard Mey? Oder dürfen es die ‚schönsten Wörter' der deutschen Sprache sein, u.a. Gratwanderung – Fingerspitzengefühl – Zeitgeist – Habseligkeiten?

Im Versuch einer Antwort soll es um eine Tour d'horizon derjenigen Bereiche und Funktionen geben, in denen das Erlernen und die Beherrschung des Deutschen unverzichtbar und ein Gewinn sind. Nach meinen beruflichen Erfahrungen und Gesprächen in so unterschiedlichen Ländern und Bildungssystemen wie dem der Vereinigten Staaten, Neuseelands und Georgiens resultiert der Entschluss, Deutsch zu lernen, aus einer beruflich und persönlich motivierten Situation und richtet sich immer auch auf die damit verbundenen Lebenschancen und das damit einhergehende kulturelle Kapital. Die Antwort auf diese Nachfrage kann nur in einem kommunikativen und kulturorientierten Deutschunterricht bestehen, in dem der Mehrwert einer Sprache bewusst gemacht wird, d.h. ihr Charakter als Medium zu mehr Differenzierung und Weltläufigkeit. Die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Fachterminologie, die Stärkung der interkulturellen Kompetenz und die Förderung der Mehrsprachigkeit sind daher wichtige Schritte, um Sprachenlernen attraktiv zu machen. Eine Haltung zu diesem Thema ist nicht gestattet: Lamentieren über den Rückgang des Deutschen, die Anglizismen und den Sprachverlust.

Prof. Dr. Milan Tvrdík (Karls-Universität Prag)

Deutschlernen zwischen den Kulturen. Wie man Deutsch (ver)lernt(e) am Beispiel der Tschechen

Der Vortrag soll ein Beispiel zur Rückerinnerung an eine untergegangene Interkulturalität liefern. Diese tauchte bereits vor etwa 200 Jahren im böhmischen Raum auf, wurde aber vor dem Hintergrund der nicht gelösten Spannungen unter den Völkern der Habsburger Monarchie, die die romantische nationfördernde Bewegung aus Deutschland nährte, zum Scheitern bestimmt. Der Einfluss der Romantik zeigt sich beispielhaft an der Formierung der neuzeitlichen Kultur und Literatur in Böhmen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts in eine tschechische und eine deutschböhmische zerfiel. Beide auf einzelne nationale Volksgruppen ausgerichtete Kulturen gingen zwar von gemeinsamen Wurzeln und Vorbildern aus, verhielten sich aber zunehmend missachtend bis feindlich zueinander, trotz der zahlreichen Versuche der einheimischen Intellektuellen beider Sprachen um Verständigung und koordinierende Zusammenarbeit in der ‚Kulturmission’ unter die östlichen slawischen Völker (‚Ost-und-West’-Bewegung). Die nationale Identitätsstiftung der Tschechen und Deutschen in Böhmen wurde auf der tschechischen Seite von der staatsstiftenden Bewegung im Sinne des historischen Rechts abgelöst und mündete nach der Zerschlagung der Monarchie in die Konstituierung des eigenen Staates mit einem Drittel der nationalen Minderheiten. Der unausgewogene Umgang mit dem Deutschen, das man ursprünglich allgemein verstand und sprach, führte zur politischen Ablehnung und Ignoranz der kulturellen Einflüsse und zum allmählichen Verlernen der deutschen Sprache zugunsten des Französischen (offiziell). In der Praxis war das Deutsche immer noch als ein Verständigungsmittel akzeptiert.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg brachte eine Zäsur mit sich, deren Folgen noch heute spürbar sind. Nach der Gründung der DDR wandte sich aus rein praktischen Gründen (beschränkte Reisemöglichkeiten) seit dem Ende der fünfziger Jahre das Interesse am Fremdsprachenerlernen wieder dem Deutschen zu. Die Zahl der Germanistik-Studierenden stieg an und kulminierte in den neunziger Jahren nach der Wende, wo Deutsch mit Englisch wetteiferte. Im letzten Jahrzehnt verloren Deutsch und die Germanistik im Wettkampf mit dem Englischen endgültig.

Im Vortrag werden auch Versuche zur Rettung der deutschen Sprache und Kultur in Tschechien erörtert, die sich auf die gemeinsame kultur elle Vergangenheit und auf die Neukonstituierung von Mitteleuropa-Gefühl berufen.

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