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Abstracts der Vorträge 2010

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2010: Warum wissen - Deutsche Sprache und Literatur in der europäischen Bildungsgesellschaft

Prof. Dr. Anke Bosse (Universität Namur)

Literatur als Wissensordnung, Literatur und andere Wissensordnungen, Literatur und Differenz

Der Mensch als „animal symbolicum“ (E. Cassirer) erfasst ‚Welt', ‚Wirklichkeit' je schon durch das Medium seiner Symbolisierungen, die sich – so Cassirer – zu relativ stabilen Formkreisen auskristallisiert haben: Sprache, Kunst, Mythos, Religion, Technik, Geschichte, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht usw. Diese haben jeweils spezifische Funktionsweisen herausgebildet und können dem verglichen werden, was wir heute unter ‚Wissensordnung' verstehen: Wissen als „interpretierte Information" (O. Breidbach). Was wir wahrnehmen, prägt sich als Information der Außenwelt in unser Erfahrungsgefüge ein, doch erst wenn wir diese Information in eine Ordnung integrieren, verfügen wir so über sie, dass wir sie bewerten und daran weitere Handlungen ausrichten können – Wissen als Praxis.

Literatur als Sprach-Welt kann als eigenständige Wissensordnung mit eigenen Regeln angesehen werden (vgl. Fiktionsvertrag oder -pakt). Zugrunde liegen zwei anthropologische Universalien: das spielerische Als-Ob-Verhalten und die Fähigkeit zur Konstruktion von Nicht-Wirklichem. Sie fußen auf der spezifisch semiotischen Kompetenz des Menschen zu Symbolisierungen und verdanken sich den Merkmalen menschlicher Sprache wie Situationsabgelöstheit, triadische Zeichenstruktur und offene Kombinierbarkeit der Sprachelemente. Kognitiv kann man diese Fähigkeit als Phantasie beschreiben, als Möglichkeit, Wirklichkeitselemente neu zu kombinieren und damit über Wirklichkeit Hinausgehendes vorzustellen.

Da anthropologisch verankert, können poetogene Strukturen auch in anderen Wissensordnungen zum Tragen kommen (z.B. Erzählen, ‚Rollenverhalten' und ‚Inszenierung', Spiel, Fiktionen), doch nur Literatur als ‚uneigentliche', ‚entpflichtete' Rede mit poetischen Lizenzen, als Darstellung des Nicht-Wirklichen sprengt die Rahmung, die Pragmatik der Lebensvollzüge, der andere Wissensordnungen unterliegen. Mit Hilfe von Entautomatisierung, Widerständigkeit, Entschleunigung, Verzögerung u.a. ‚stört' sie Wahrnehmungs- und Symbolisierungsroutinen: Der Sinn des Menschen für Wirklichkeit kann durch die Beschäftigung mit Nicht-Wirklichkeit, im Entwurf des Differenten, des Andersdenken- und Andersmachenkönnen wesentlich verändert und geschärft werden – und damit kann Wesentliches anderer Wissensordnungen in Frage gestellt oder neu beleuchtet werden. Literatur trifft sich hier wesentlich mit Bildung.

Dieses Potential von Literatur scheint heute mit dem Bedeutungsverlust der Literatur als Leitmedium rasant zu schwinden – von Literatur als Printmedium. Zu fragen bleibt, ob ein weiter gefasster, intermedialer Begriff von Literatur der aktuellen Situation nicht angemessener ist und ob sich Literatur im ‚Medienverbund' nicht neue Chancen bieten. Zu fragen bleibt auch, ob in einer globalisierten Mediengesellschaft, in der Distanzen schrumpfen und Differenzen direkter aufeinander treffen, Literatur gerade den Umgang mit Differenz lehren kann, da sie selbst einen solchen verkörpert. Zu fragen bleibt, wie sich hier die deutschsprachige Literatur positioniert. Was außer Frage steht: Es bedarf ‚Ordnungen'.

Prof. Dr. Manuel Maldonado Alemán (Universität Sevilla)

Was müssen wir lesen? Der Stellenwert eines literarischen Kanons für die Auslandsgermanistik

In der literaturwissenschaftlichen Debatte wird Kanon als gedankliches Konstrukt verstanden, das sich nach den Sinn- und Identitätsbedürfnissen einer Gemeinschaft (Nation, Gruppe, Institution) richtet. Das Phänomen Kanon ist abhängig von den Werturteilen, Strategien und Bedürfnissen jener Gesellschaft, die ihn aufstellt und trägt. Ist der Kanon in ein gesellschaftliches System eingelagert und nur in diesem Kontext zu verstehen, so kann der literarische Kanon der Auslandsgermanistik nicht einfach dem kanonischen Korpus der Inlandsgermanistik folgen, sondern er muss sich an den kultur-spezifischen Voraussetzungen und Erwartungen der Rezipienten orientieren. Ein Kanon ist ein Prozess, ein historisches Phänomen, das sich ständig wandelt und verändert. Die Frage der Kanonbildung lässt sich Simone Winko zufolge anhand finaler und kausaler Erklärungsmuster erörtern. Kausale Erklärungen führen die Formation eines Kanons auf die Interessen bestimmter Gemeinschaften, auf strukturelle Bedingungen oder auf Textmerkmale zurück. Finale Erklärungsmuster dagegen beziehen sich auf den Zweck oder das Resultat eines Kanonisierungsprozesses, wie etwa die identitätsstiftende Funktion, die ein Text für eine Gruppe hat. Mithilfe solcher Erklärungsmuster untersucht der Vortrag den Stellenwert eines literarischen Kanons für die Auslandsgermanistik als Instrument der Literaturvermittlung.

Prof. Dr. Friedhelm Marx (Universität Bamberg)

Das Wissen vom Anderen. Daniel Kehlmann, Terézia Mora und Javier Marías

Literatur partizipiert an der Vermittlung von Wissen u.a. dadurch, dass sie es in ein anderes Medium, in eine andere Sprache übersetzt. Wenn in literarischen Werken vom Übersetzen die Rede ist, geht es deshalb fast immer auch um die Reflexion des literarischen Schreibens. An drei Beispielen aus der Literatur der letzten beiden Jahrzehnte untersucht der Vortrag die Erzählfigur des Übersetzens. Die Romane Corazón tan blanco / Dein Herz so weiß (1992) von Javier Marías, Alle Tage (2004) von Terézia Mora und Die Vermessung der Welt (2005) von Daniel Kehlmann konvergieren in der Idee, das Übersetzen zu ihrem Thema zu machen, indem sie Dolmetscherfiguren in ihren Mittelpunkt stellen oder Übersetzungsszenen durchspielen. Was gemeinhin als Transfer von kulturellem Wissen von einer Sprache in die andere gilt, erscheint in diesen Werken allerdings jeweils umstellt und bedroht von Fälschungen, Missverständnissen, Lügen. Auf ganz unterschiedliche Weise führen die Romane am Beispiel ihrer Übersetzer- und Übersetzungsfiguren vor, dass jeder Übersetzungsversuch des Anderen und Fremden mit dem Risiko der Fälschung verbunden ist.

Prof. Dr. Bogdan Mirtschev (Universität Sofia)

Der Geist als Software. Die Computerintelligenz und der Rückzug aus der Verantwortung

Die kognitive Wende, eine Folge des Fortschritts im Bereich der Künstlichen Intelligenz und der Informationstechnologien, markiert auch die Entstehung einer globalen Wissensgesellschaft. Verliert darin die aufklärerische Idee von Bildung als verantwortetes Wissen an Bedeutung? In literarischen Utopien vom maschinellen Ersatz menschlichen Denkens und Handelns wurden Gefahren heraufbeschworen, die in aktuellen Diskussionen thematisiert werden. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist ein Gedanke Kleists: „Wenn ein Geschäft aus mechanischer Seite leicht ist, daraus folgt nicht, dass es ohne Empfindung betrieben werden könnte." Die Empfindung, eine kognitive Fähigkeit des Menschen, ist ein Element des Geistes. Ohne die emotionale Existenz gibt es keine Bildung, welche die Verantwortbarkeit des Denkens fördert.

Prof. Dr. Stefan Neuhaus (Universität Innsbruck)

Wer bestimmt, was wir wissen? Chancen und Risiken der (Literatur-) Wissenschaft im Netz

Das Internet hat nicht nur die Kommunikationsmedien und die Mediennutzung stark verändert, es ist auch Gegenstand unterschiedlichster Einschätzungen und Werturteile geworden. Man kann es nach Flusser als „elektronisches Gedächtnis“ betrachten, andererseits geht gerade durch die diverzifizierte Struktur außerordentlich viel verloren oder erreicht nie seine Adressaten. Die meisten Angebote im Netz sind kostenlos, das heißt aber auch, dass oftmals „ökonomische Verwertungsinteressen“ lediglich „nicht erkennbar“ sind (Joan Kristin Bleicher), es letztlich aber doch ums Geldverdienen geht. Befürworter sehen eine „demokratische, von Eigentumsverhältnissen unabhängige Netzstruktur“ verwirklicht, doch ist damit, man denke auch an Quasi-Monopole wie google und facebook, wohl eher ein „Ideal“ bezeichnet (ebd.).

Der Vortrag möchte an Beispielen nachzeichnen, welche Angebote das Word Wide Web für WissenschaftlerInnen, insbesondere für GermanistInnen bereithält und welcher Nutzen dabei erkennbar wird, aber auch, welche neuen Probleme durch das nun nicht mehr so neue Massenmedium geschaffen werden. Mit Michel Foucault lässt sich der beobachtbare Prozess weniger als Demokratisierung und als Ermächtigung der ‚User‘ beschreiben. Vielmehr ist eine Ausdifferenzierung und komplexe Verlagerung von Machtverhältnissen zu beobachten, wobei jeder (mit Pierre Bourdieus Terminologie) im wissenschaftlichen Feld, der strukturelle Medienmacht hat, um das Fortschreiben und den Ausbau seines ökonomischen wie symbolischen Kapitals bemüht ist. Ein Beispiel für das skizzierte Problem ist die Frage wissenschaftlichen Publizierens von book on demand bis open access: Wem nutzt es als dem Verlag, wenn Diplomarbeiten in Kleinstauflagen nach Bestellung gedruckt und vertrieben werden? Verliert nicht der gewissenhaft recherchierende und in seine Arbeiten viel Zeit und Mühe investierende Forscher, wenn diese Arbeiten potentiell allen ‚Usern‘ zur Verfügung stehen, auch für das nächste Plagiat? Oder ist beides Teil einer Demokratisierung, die sich über Marktmechanismen vollzieht?

Prof. Dr. Ulrike Steierwald (Hochschule Darmstadt)

Literalität und Bildung im Digitalen Zeitalter

Die aktuellen Diskussionen über Standards und Leistungen der Bildungssysteme sind von Aussagen über die elementaren Kulturtechniken des Schreibens und Lesens geprägt, die das Medienverhalten der digital natives aus einer soziologischen oder mediendidaktischen Perspektive beschreiben. Diese sozialwissenschaftlichen, meist von bildungspolitischen Fragestellungen nicht zu trennenden Studien und die seit mehr als zwanzig Jahren auch in Deutschland etablierte, diskursanalytisch geprägte Kultur- und Medientheorie führen ein in ihren Methoden sich kaum berührendes, geradezu hermetisch getrenntes und somit auch konfliktfreies Dasein. Dabei vollzieht sich Bildung immer medial, im Wechselspiel von Texten und Bildern, von Wahrnehmung und Wissensproduktion.

Wenn wir Literatur als Teil der historischen Wissensordnungen betrachten, stellt sich die Frage, wie sie sich zu den spannungsreichen Veränderungen der Medien und der menschlichen Kognition verhält. Was können Widerständigkeit und Selbstreflexion der Literatur und Kunst über deren potentiellen Beitrag zur Bildung im Digitalen Zeitalter aussagen? Wie reflektiert die heutige Literatur das Verhältnis von Bild und Text in seinen neuen medialen Transformationen? Frage ist auch, ob das Netz als ökonomischer, sozialer wie kultureller Raum beschrieben werden kann, in dem es Orientierung zu schaffen gilt.

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