2011: Was eint uns? Integration – Identität – Migration: Deutsche Sprache und Literatur im interkulturellen Europa
Prof. Dr. Elena Agazzi, Universität Bergamo, Italien
Was eint uns in Europa?
Mein Beitrag gliedert sich in verschiedene kurze Abschnitte, die die unterschiedlichen vom Kongress vorgesehenen Themen aufzugreifen versuchen, und zwar die der Globalisierung, Migration und Identität. Obgleich sich der Exkurs auf literarische und kulturelle Perspektiven in Hinblick auf das Problem der europäischen Identität konzentriert, lassen sich der politische und der wirtschaftliche Gesichtspunkt nicht völlig aussparen. Einer der wesentlichen Schwerpunkte meiner Untersuchung von Aspekten, die den kleinsten gemeinsamen Nenner der europäischen Identität für die verschiedenen Staaten bilden, welche auf diese Bezug nehmen, ist das Verhältnis zwischen dem Konzept von Aufklärung und Abklärung, wie es Jean Améry in Jenseits von Schuld und Sühne (1966) ausgedrückt hat. Dieses kommt insofern zum Tragen, als dabei die Notwendigkeit betont wird, das Thema der Menschenrechte in den Vordergrund zu rücken, was sich auch für viele Schriftsteller der Migrationsliteratur als eine solide Grundlage erweist. Unter den weiteren Aspekten, die für den ethischen Kodex eines Europa des Einvernehmens vorrangig sein dürften, trifft man durchaus auf die Konsolidierung der sozialen Stabilität und die Garantie der Bewegungsfreiheit zwischen den Grenzen; nicht zuletzt auf eine Hellhörigkeit angesichts der Zukunft der Jugendlichen, die notgedrungen von der Bewahrung des Friedens abhängt.
Prof. Dr. András F. Balogh, Eötvös Loránd Universität Budapest
Wie viel Migration verträgt die Literatur?
Der Beitrag beschreibt erstmals die soziologischen und die kulturellen Definitionen der Migration, um die feinen Unterschiede zwischen Exil, Flucht, Vertreibung, literarische Reise, literarische Heimatsuche, Land- und Stadtflucht, Wanderung, „Peregrination“ (Studienaufenthalt), neuzeitliche und historische Völkerwanderung aufzuzeigen. Am Beispiel einiger Autoren aus Zentraleuropa werden die Verbindungen zwischen Migration und ästhetische Leistung dargestellt. Die neuzeitliche Migration in der Literatur offenbart sich demnach als ein Spiel und als ein Ringen der Wertesysteme der alten und der neuen Heimat (oder der Aufenthaltsorte), sie gestaltet sich als ein Prozess, der die Vergangenheit immer wieder neu schreibt. Die Migration als kulturelles Phänomen fördert eine besondere Gedächtnisarbeit der betroffenen Autoren, die die Motive, Formen, Ergebnisse der Migration zum Thema der Zielkultur machen. Die Zielkultur braucht ihrerseits aus bestimmten historischen oder ästhetischen Gründen die literarische Leistung der Migranten, so ist die Migration – zumindest aus kultureller/literarischer Perspektive – auch eine Kommunikation, ein Dialog. Es gibt aber auch ökonomische, sprachliche, ideengeschichtliche und ideologische Grenzen der literarischen Migration, es gibt Abwehrstrategien der Zielkulturen, die im kulturellen Leben auch sichtbar sind.
Prof. Dr. Anke Bosse, Universität Namur, Belgien
Identitätskonstruktion in und durch deutschsprachige Literatur
Das Ich als konstante Instanz, ausgestattet mit Kontinuität sowie an sich selbst und durch andere identifizierbaren, erkennbaren Merkmalen (Identität) ist ein Konzept, das just in jener Zeit ‚löchrig’ wurde, als im Laufe des 18. Jhs. das theo- durch das anthropozentrische Weltbild abgelöst wurde. Das Ich und damit ‚Identität’ als etwas Konstantes wurden als Illusion entlarvt, um 1900 dann besonders prominent durch Ernst Mach: „Das Ich ist unrettbar“, es ist keine „keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit“, sondern ein „Komplex von Empfindungen“. Was oft als typisches Krisenphänomen der Jahrhundertwende um 1900 historisiert wird, passt hingegen inzwischen längst zu den Einsichten heutiger Neurowissenschaften (soweit ihre Erkenntnisse gediehen sind …). Sie unterscheiden acht Ich-Zustände, die „sich aktuell in verschiedener Weise zusammenbinden und den Strom der Ich-Empfindung konstituieren“ (G. Roth). Die Soziologie sieht ‚Identität’ als „Reflexbündel in einem Mehrfachspiegel“ (A. L. Strauss), sie spricht von „Identitätsarbeit“ oder „Identitätskonstruktionen“ (H. Keupp). ‚Ich’ und ‚Identität’ sind unfest. Dass wir dauernd als Konstrukteure des Ich und jener Merkmale agieren, die uns jeweils spezifisch erkennbar, identifizierbar, unterscheidbar machen und die, eingebettet in Narrative, Kohärenz stiften sollen (Identität), dass wir aus dieser unhintergehbar anthropozentrischen Konstruktionstätigkeit nicht heraustreten können, wird im Alltag allzu oft noch verwischt, weil hier – aus Angst vor der Fluidität von Ich und Identität? – weiterhin von ‚Ich’ und ‚Identität’ als etwas Konstantem ausgegangen wird. Übrigens auch im Falle ‚kollektiver Identität’. Diese Vereinfachung ist zutiefst problematisch, weil sie Stereotype und Klischees, Aus- und Eingrenzung generiert.
Der Mensch als „animal symbolicum“ (E. Cassirer) erfasst ‚Welt’ und damit auch ‚sich selbst’ je schon durch seine Symbolisierungen, die Wahrnehmungen sind immer schon mit Deutungen verknüpft. Diese semiotische Kompetenz des Menschen manifestiert sich bevorzugt in einer exklusiv menschlichen Fähigkeit: Sprachhandeln. Und schon hier, ganz basal in Sprache, ist das ‚Ich’ in Teile zerlegt (ich, mir, mich, mein X; das Ich im Du, im Wir …). Literatur als Welt aus nichts als Sprache liegen spezifische anthropologische, poetogene Strukturen zugrunde: das spielerische Als-Ob-Verhalten und die Fähigkeit zur Konstruktion von Nicht-Wirklichem (‚Dichten-Können’). Gerade Literatur als Sprach-Welt – so möchte ich an einigen literarischen Beispielen zeigen – stellt die Konstruiertheit dieser ihrer Welt aus (die von Figuren, Erzählern, Sprechern bevölkert ist), stellt die Konstruriertheit kohärenzstiftender Narrative aus. Literatur ist daher in besonderer Weise dazu prädestiniert, die Fluidität von Ich und Identität, die Prozesse ihrer Konstruktion und Dekonstruktion aufzuzeigen. Identitätskonstruktion in deutschsprachiger Literatur.
Jedoch auch Identitätskonstruktion über deutschsprachige Literatur. Der literarische Text entlässt den Leser als einen anderen, die Leserin als eine andere. Wir sind, nach der Lektüre, nicht mehr, was wir vorher waren. Nicht nur unsere anthropomorphen Doubles, aber vor allem sie, befeuern in uns etwas exklusiv Menschliches, die Imagination. Was der Text als schwarze Buchstaben auf weißem Papier präsentiert, nimmt hier, im ‚Kopfkino’ des Lesers, Gestalt an. Der Akt des Lesens und Imaginierens hat Teil an der Identitätskonstruktion des Lesers, der Leserin, und er bezeugt die „Plastizität“ (W. Iser) des Menschen. Wenn es gelänge, dies bewusster und erfahrbarer zu machen, ließe sich dann die Rolle von Literatur stärken, die ihre Funktion als Leitmedium verliert und mit der Multiplizierung medialer Angebote konfrontiert ist?
Prof. Dr. Oliver Jahraus, Ludwig-Maximilians-Universität München
Nackter Mann am Kreuz. Migration im Film
Dass der Film ein ausgezeichnetes Medium ist, auf soziale Problemstellungen mit ihren kommunikativen Verwerfungen und ihren emotionalen Folgelasten aufmerksam zu machen und diese für den Zuschauer im Bild plastisch erfahrbar zu machen, steht außer Frage. Insofern ist der Migrationsfilm ein herausragendes Genre im weiteren Feld des sozialen Films. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch der Begriff der Migration eine andere, spezifischere Bedeutung als er in der Bezeichnung der Migrationsliteratur hat. Doch wer bei einer solchen Perspektive stehen bleibt, verfällt oft in alte sozial engagierte Idealismen vergangener Tage. Der Vortrag will einen paradox anmutenden Weg zu einer neuen Annäherung an den Migrationsfilm und sein Sujet vorschlagen, indem man auf seine filmtheoretischen Implikationen blickt, um über diesen Umweg sein Potenzial aufzuzeigen, ein Thema wie Migration visuell zu gestalten. Es soll gezeigt werden, dass Migrationsfilme in der Vergangenheit und in der Gegenwart immer wieder auf kulturwissenschaftlich ausgearbeitete Muster der Heldenreise, des first contact, der Erfahrung von Alterität, der Kulturdifferenz mit all ihren semantischen und semiotischen Implikationen abhebt, um sein Sujet zu gestalten. Im Blickpunkt stehen drei Filme: Angst essen Seele auf (D 1974), Gegen die Wand (D, T 2004) und Alemanya (2011).
Beatrice Sandberg, Universität Bergen, Norwegen
„Mir fremd / doch nah“ (Levent Aktoprak) – Interkulturelle Lyrik der Gegenwart
Der Begriff „interkulturelle Lyrik“ bedarf einer Abklärung und wirft m. E. mehr Probleme auf als zuerst gedacht. Die Kulturwissenschaften stellen Theoreme auf, in welcher Weise Kulturtransfer erfolgt in Migrationssituationen, wie Kulturaustausch funktionieren sollte oder weshalb Defizite entstehen. Eine andere Frage ist, wie Migranten selbst die Situation erleben und wie sie schreibend darüber reflektieren. Weshalb haben Musiker nicht die gleichen Probleme wie Autoren in der gleichen Situation? Welche Rolle spielt die Sprache in Bezug auf Gefühle von Heimatverlust, Fremdheit, Randstellung in der Gesellschaft oder bei Integrationsbemühungen? Wie eignen sich Gedichte für die Übermittlung autobiographischer Situationen? Eignen sich Kurzformen nicht besser, um in der Fremdsprache zu kommunizieren? Der Blick auf einige Gedichte ausgewählter Migranten mit nichtdeutscher Muttersprache, die auf Deutsch schreiben (Dragica Rajcic, Adel X, Ilma Rakusa) und ein Beispiele einer ausgewanderten Deutschen, die in der finnischen Umgebung deutsch schreibt und sich von der neuen Sprache inspirieren lässt (Dorothea Grünzweig), soll versuchen, einige der Fragen nach interkultureller Lyrik zu beantworten.