Artikel
Essay: „Sprache. Und Politik“
Mit freundlicher Genehmigung des „Focus“
Von Prof. Dr. Norbert Lammert MdB
Präsident des Deutschen Bundestages
Wir haben in der Wissenschaft seit vielen Jahren mit einer kontinuierlichen Statusminderung der deutschen Sprache zu tun. Dafür ist in einem erheblichen Umfang das aktive wie das passive Verhalten der Eliten unseres Landes verantwortlich. Dass heute in Deutschland bei wissenschaftlichen Tagungen und Konferenzen wie bei wissenschaftlichen Publikationen, selbst bei der Beantragung von Forschungsmitteln für Projekte Englisch als Sprache dominiert, ist nicht zu übersehen. Dass sich selbst für die Evaluierung germanistischer Forschungsprojekte zunehmend Englisch als scheinbar nahe liegendes Verständigungsmittel durchsetzt, gehört zu den beinahe skurrilen Ausprägungen dieses allgemeinen Trends.
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Hintergründe
"Über den Feldern"
Von Michael Braun, Konrad-Adenauer-Stiftung
Konferenzberichte
Vielheit in der Einheit
Der 12. Internationale Germanistenkongress tagte in Warschau
Von Michael Braun, Konrad-Adenauer-Stiftung
Warschau, im August/September 2010. – Vor dem Präsidentschaftspalast in der Krakowskie Przedmieścic stehen Menschentrauben. Sie beten für den bei einem Flugzeugabsturz im April ums Leben gekommenen polnischen Staatspräsidenten und die anderen Passagiere, sie demonstrieren gegen die Versetzung des Kreuzes, das vor dem Palais steht. Nur wenige Gebäude weiter, vor dem Tor der Warschauer Universität, versammeln sich andere Menschen. Ihr Namensschild, das am Bande vom Hals herunterbaumelt, weist sie als Germanisten aus. Etwa 1.500 aus aller Herren Länder sind nach Warschau gekommen. Dort fand soeben der 12. Kongress der Internationalen Vereinigung der Germanisten (IVG) statt, der sich als Thema den wohl größtmöglichen Nenner des Fachs verordnet hatte: „Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit“.
Die alle fünf Jahre in einer Metropole, zuletzt in Wien und Paris, tagende IVG ist keine Dachvereinigung der Landesverbände, sondern eine selbständige Vereinigung mit einem im Vorfeld auf fünf Jahre gewählten Präsidenten, der jeweils am Ort der Konferenz sitzt. Der diesmal amtierende Präsident, der Warschauer Germanist Franciszek Grucza, hat eine wahre Herkulesaufgabe gestemmt. Nicht nur die größte Zahl an Kongressteilnehmern in der Geschichte der IVG-Tagungen, auch die Gipfelmarke von deutlich über 1.200 Vorträgen haben die Initiatoren und Organisatoren an ihre Grenzen getrieben. Es gab ein multimediales Rahmenprogramm, in dem neben einer Lesung Josef Winklers die Verleihung des Grimm-Preises des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an den amerikanischen Germanisten David E. Wellbery und ein Liederkonzert mit der Sopranistin Ruth Ziesak Höhepunkte waren. Es gab einleitende Plenarvorträge u.a. von Peter Strohschneider, dem Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, über die Rolle der Germanistik in der Wissenschaftsgesellschaft.
In den 60 Vortragssektionen fiel auf, dass sich die Kanongrößen und die Attraktivitätsrelationen der Fachgebiete kaum verschoben haben: Die klassische Moderne mit Broch, Döblin, Thomas Mann ist beliebter als die Vormoderne, Goethe steht vor Schiller, die Romantik, zuletzt als „deutsche Affäre“ (Safranski) in die Schlagzeilen geraten, ist noch immer der Germanisten liebstes Kind. Aber schon ein Blick in den knapp 300seitigen Band mit den Vortragsabstracts zeigt die enorm wachsende Bedeutung der Gegenwartsliteratur für das Fach. Die Erweiterung des Literaturbegriffs ist nicht abgeschlossen. Auch Schätzings Ökokrimis sind themenreif für Germanisten, die Pop-Literatur, eigentlich ein Dummy-Begriff, ist noch immer nicht ganz ausgeforscht, viele Autoren schreiben heute „unter Einschluss der Öffentlichkeit“, wie Beatrice Sandberg (Bergen) sagte.
Zu den häufigsten Wörtern in den Vortragstiteln gehören Heimat, Erinnerung, Interkulturalität, Migration. Daran kann man eine Tendenz ablesen: international gesehen ist die Germanistik, bei aller Besinnung auf die facheigenen Tugenden, noch grenzoffener, brückentauglicher, themenkreativer, im Feld der Disziplinen konkurrenzfähiger geworden. Das ist ein Ausdruck des Selbstbewusstseins deutscher Sprache und Literatur in einer mehrsprachigen, interkulturellen Welt. Freilich wundert es, dass die interdisziplinären Gewinnchancen des Fachs im Dialog mit den Neurowissenschaften und eine so faszinierend neue Forschungsrichtung wie die Literaturgeographie nicht sichtbar ins Warschauer Programm kamen. Aber wo viel ist, kann nicht alles sein. Das Fach hat in der polnischen Hauptstadt abermals die imponierende Fülle seiner Forschungsmöglichkeiten und Anwendungsbereiche bewiesen. So sagte IVG-Vizepräsident Paul Michael Lützeler (St. Louis): „Die IVG-Tagung gibt das Modell ab für die Verständigung der Germanistik weltweit; alle Vorträge werden auf Deutsch - der Sprache des Fachs - gehalten, und so bekommt man einen guten Eindruck von den unterschiedlichen Methoden und Ergebnissen der Germanistiken auf allen Kontinenten.“
Mögen sich auch die Schwergewichte der Germanistik in Europa und weltweit von West nach Ost verschieben (in keinem osteuropäischen Land sind so viele Deutschlernende wie in Polen, über zwei Millionen), so bleibt doch Deutsch als meistgesprochene Muttersprache in Europa ein großer kultureller Magnet. Dafür sorgen diejenigen, die deutsche Sprache und Literatur im In- und Ausland erforschen, lehren und vermitteln. Eitle Selbstzweifel der Germanistik blieben in Warschau aus, Philologie und Kulturwissenschaften scheinen, wenn nicht versöhnt, so doch in der intensiven Arbeit an der gemeinsamen Sache vereint. Am Ende lösten sich die Menschentrauben vor dem Tor der Warschauer Universität auf, um sich 2015 in Shanghai wiederzusehen. Und das Gedenkkreuz wurde dieser Tage in eine Kapelle des Präsidentschaftspalais überführt.