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Israel zwischen Aufruhr und Paralyse

von Dr. Beatrice Gorawantschy, Johannes Sosada

Ein Teil der umstrittenen Justizreform wurde vom israelischen Parlament in erster Lesung gebilligt

Zum wiederholten Male rief der israelische Staatspräsident Jitzchak Herzog Anfang Juli zur Wiederaufnahme der Gespräche zwischen Regierung und Opposition zu den Inhalten der Justizreform auf. Er warnte vor einem „Fehler historischen Ausmaßes“ und vor irreversiblen Gräben in der israelischen Gesellschaft, sollte die Justizreform ohne Dialog voranschreiten. Wieder wurden seine Mahnungen von der israelischen Regierung ignoriert: Unter Applaus der Regierung und lautstarken Protestbekundungen der Opposition wurde in der Nacht auf Dienstag, den 11. Juli 2023, ein Teil der umstrittenen Justizreform – die „Reasonableness Standard Bill“ (Angemessenheitsklausel) – in erster Lesung durch die Knesset gebilligt. Die 64 Abgeordneten der Koalitionsregierung Benjamin Netanyahus überstimmten wie erwartet geschlossen die 56 Gegenstimmen der Opposition. Für ein Inkrafttreten des Gesetzes sind zwei weitere Lesungen notwendig, welche nach Regierungsplänen noch vor Eintreten der Sommerpause der Knesset am 31. Juli abgeschlossen werden sollen.

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Der gebilligte Gesetzentwurf ist dabei Teil der umstrittenen Justizreform. Bisher ist es dem israelischen Obersten Gericht möglich, Entscheidungen der Regierung oder Ernennungen von Ministern als „unangemessen“ zu bewerten und damit zu verhindern. So war Netanyahu im Januar gezwungen, den von ihm ernannten Stellvertreter und Innen- und Gesundheitsminister in Personalunion, Aryeh Deri, Parteichef seines stärksten Koalitionspartners Shas, nach nur einem Monat zu entlassen. Das Oberste Gericht entschied damals, dass Deri aufgrund seiner Verurteilung in verschiedenen Steuervergehen keinen Kabinettsposten bekleiden dürfte. Von dem nun initiierten Gesetzentwurf versprechen sich Befürworter, dass eine solche – aus ihrer Sicht unzulässige und undemokratische Einmischung des Obersten Gerichts – in Regierungsentscheidungen nicht mehr möglich ist. Kritiker wiederum sehen die Gewaltenteilung in Gefahr und befürchten die Begünstigung von Korruption sowie die willkürliche Besetzung hochrangiger Positionen.

 

Vorgeschichte

Bereits im Februar dieses Jahres hatte Staatspräsident Jitzchak Herzog vor einem verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch des Landes mit Bezug auf die von der Regierung Benjamin Netanjahu geplante Justizreform gewarnt. Hintergrund der seit Jahresbeginn währenden Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition, Interventionen des Staatspräsidenten und anhaltenden Demonstrationen unterschiedlicher Sektoren der Gesellschaft sind Elemente der sogenannten „Reform“ der Justiz, die Kritiker als Bedrohung des demokratischen Charakters des Staates Israels auslegen, während Reformbefürworter die Diktatur der Justiz in Israel anprangern. Ausschlaggebend für die vehemente Kritik war insbesondere ein Kernelement, die sogenannte „override clause“ gewesen, wonach die Knesset in der Lage wäre, Urteile des Obersten Gerichtshofes außer Kraft zu setzen, womit de facto die Gewaltenteilung aufs Spiel gesetzt würde.

Bereits Ende März war die Regierung gezwungen, mit ihren Plänen in der ursprünglich intendierten Form zurückzurudern. Die kurzfristige Entlassung des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant, der sich öffentlich für eine Verschiebung der Justizreform stark gemacht hatte, da er die Sicherheit des Landes in Gefahr sah, hatte eine Protestwelle und einen nie dagewesenen historischen Generalstreik zur Folge; die Pläne zur Justizreform wurden daraufhin temporär ausgesetzt und Gallant wiedereingesetzt.

Benjamin Netanjahu hatte kürzlich in einem Interview mit dem Wall Street Journal angekündigt, den strittigsten Teil der Reform, nämlich die „override clause“ nicht mehr weiterzuverfolgen, um die Gemüter zu beruhigen. Jedoch zielt die Reform auch auf andere Elemente der Kompetenz und den Prüfungsmaßstab des Obersten Gerichtes – so beispielsweise die Einschränkung der Angemessenheitsprüfung durch den Obersten Gerichtshof – der Teil, der nun in der ersten Lesung gebilligt wurde.

 

Disruption

Inner- und außerhalb der Knesset kam es in der Folge der ersten Lesung des Gesetzentwurfes zu Protesten. Die Oppositionsparteien versuchten unter Oppositionsführer und Ex-Premierminister Yair Lapid die Gesetzesinitiative hinauszuzögern und quittierten die Verabschiedung mit „Schande“-Rufen. Vor der Knesset wie auch an anderen Orten versammelten sich Regierungsgegner und protestierten. Einige Protestierende, welche in die Knesset gelangt waren, versuchten sich dort an den Fußboden zu kleben, um so die Abstimmung zu verhindern und wurden vom Sicherheitspersonal abgeführt. Als Reaktion auf die erste Billigung des Gesetzesentwurfs wurde für Dienstag (11. Juli) bereits im Vorfeld von Vertretern der Opposition und Zivilgesellschaft der sogenannte „Day of Disruption“ angekündigt. Landesweit finden nun verschiedene Stör- und Protestaktionen statt. Unter anderem wird an zentralen Verkehrsknotenpunkten wie dem Ayalon Highway in Tel Aviv demonstriert. Der Hauptprotest fand anschließend mit tausenden Teilnehmern am Internationalen Flughafen Tel Aviv statt, hier wurden in der vergangenen Woche bereits die Zufahrtsstraßen von Demonstrierenden blockiert. Bereits in den frühen Morgenstunden kam es bei durchgeführten Straßenblockaden zu zahlreichen Festnahmen.

Die Proteste werden dabei nach wie vor von einer großen Bandbreite der israelischen Gesellschaft getragen. Wie bereits bei vorherigen Protesten schlossen sich Unternehmen und auch öffentliche Einrichtungen wie Einkaufszentren, Krankenhäuser oder Universitäten an. Sie stellen es dabei ihren Mitarbeitern und Studierenden frei, an den Protesten teilzunehmen. Auch Armeeangehörige wie Reservisten oder Veteranen beteiligen sich wieder am Protest: So kündigte bspw. eine Gruppe von 300 Cyberexperten an, nicht weiter in der Armee oder den Geheimdiensten für Reserveübungen anzutreten, solange die Regierung die Demokratie weiterhin gefährde. Auch eine größere Gruppe israelischer Luftwaffen-Reservisten zieht ähnliche Schritte in Erwägung. Zu einem Generalstreik, wie vereinzelt gefordert, wurde bislang nicht aufgerufen. Der Vorsitzende der Histadrut, Israels größter Gewerkschaft, forderte Netanyahu zwar auf, das Gesetzesvorhaben zu stoppen, beteiligte sich aber bisher nicht an den Protesten.

 

Ausblick

Es ist bemerkenswert, dass sich in Israel die Demonstrationen gegen die Regierungspolitik und insbesondere gegen die Justizreform nunmehr in der  27. Woche  in unverminderter Form fortsetzen. Eine lebendige Zivilgesellschaft, die sich aus unterschiedlichen Sektoren und politischen Strömungen der Gesellschaft zusammensetzt, demonstriert seit Beginn des Jahres allwöchentlich friedlich für demokratische Werte.

Inwiefern das Ausmaß der jetzigen Demonstration an die vom März herankommt und die Regierung ggf. zu einem Einlenken zwingt, ist bisher noch nicht absehbar. Die festzustellende Dynamik der letzten Tage und Stunden, wie auch die Ankündigungen der Demonstranten, ihren Protest zu verschärfen, sprechen dafür, dass sich die Situation eher weiter zuspitzt. Das naheliegende Kalkül, dass die Protestbereitschaft weiter Teile der israelischen Gesellschaft während des Urlaubsmonats Juli abnimmt und eine Verabschiedung vergleichsweise geräuschlos noch vor der parlamentarischen Sommerpause über die Bühne gehen könnte, hat sich auf jeden Fall nicht bewahrheitet. In den letzten Wochen nehmen die Formen der Proteste mit massiven Straßenblockaden und Verbrennen von Reifen vielmehr eine neue Dimension an. Auf der anderen Seite nimmt auch die Reaktion der Sicherheitskräfte an Vehemenz zu, wie durch den Einsatz von Pferdestaffeln und Wasserwerfern. Dass der 11. Juli zum ersten Tag des Widerstands gekürt wurde, lässt darauf schließen, dass weitere folgen, sollte die Regierung keine Zugeständnisse machen. Eine mögliche Fortsetzung der Gespräche um einen Kompromiss, wie sie zuvor durch den israelischen Staatspräsidenten initiiert wurden, erscheinen zurzeit unwahrscheinlich. Die Fronten sind vielmehr verhärtet und die Zeichen weiter auf Konfrontation: Bereits am heutigen Dienstag tagt der Rechtsausschuss der Knesset, um das Gesetz für die zweite und dritte Lesung vorzubereiten. Falls das Gesetz in beiden Lesungen gebilligt und verabschiedet wird, könnte das Oberste Gericht es immer noch für ungültig erklären. Mit dieser Zuspitzung stünden sich dann israelische Exekutive und Judikative konfrontativ gegenüber, was eine konstitutionelle Krise der israelischen Demokratie mit unabsehbaren Folgen nach sich ziehen würde. Eine Schlüsselrolle ist weiterhin die Positionierung der USA und die Frage, inwiefern diese bereit ist, Druck auf die israelische Regierung auszuüben. So kündigte der scheidende US-Botschafter Thomas Nides an, die USA würden daran arbeiten, dass Israel mit der geplanten Justizreform nicht „entgleisen“ würde. US-Präsident Biden bezeichnete die israelische Regierung zuletzt als die „extremste“, die er in seiner jahrzehntelangen Unterstützung Israels je gesehen habe. Auch eine offizielle Einladung Netanyahus in die USA steht nach wie vor aus.

Die Proteste bringen aber auch noch etwas Anderes zutage: Vordergründig geht es um die Justizreform, unterschwellig aber sind sie Ausdruck der Spaltung der israelischen Gesellschaft aufgrund der demographischen Entwicklung, ideologischer Veränderungen und polarisierender Regierungen. Es geht dabei nicht nur um den Konflikt zwischen Regierung und Opposition oder Demokratie und Beschränkung der Judikative. Es werden vielmehr Konfliktlinien deutlich, welche sich tief durch die israelische Gesellschaft ziehen: Religiöse gegen nicht-Religiöse, Spannungen zwischen Säkularen und Ultraorthodoxen, Rechtsextreme gegen Moderate. Diese unterschiedlichen Gruppierungen haben grundsätzlich gegensätzliche Visionen von der Zukunft des israelischen Staates. 

Es bleiben weitere drängende politische Herausforderungen, vor denen die israelische Regierung steht: die gespaltene Gesellschaft in dem gesellschafts- und innenpolitisch stark fragmentierten und polarisierten Land Israel zu einen; die Erosion demokratischer Institutionen aufzuhalten; Reformen im Verhältnis von Religion und Politik voranzubringen; eine  Verbesserung der Lebensumstände der arabischen Israelis herbeizuführen und die  angespannte Situation im israelisch-palästinensischen Konflikts zu entschärfen. Diese zahlreichen Herausforderungen können nur angegangen und bewältigt werden, wenn sich das Land aus seiner Paralyse befreit.

Der Text wurde am Abend des 11. Juli 2023 fertiggestellt.

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Kontakt

Michael Rimmel

Michael Rimmel Tobias Koch

Leiter des Auslandsbüros Israel

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