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Hörbuch „Srebrenica. Chronologie eines Völkermords oder Was geschah mit Mirnes Osmanović“

Das Hörbuch von Matthias Fink als Autor, produziert von der KAS in Sarajevo, können Sie sich kostenlos anhören oder herunterladen.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung in Sarajevo produzierte das Hörbuch in Bosnisch. Srebrenica steht für das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die kriegerischen Auseinandersetzungen in Bosnien und Herzegowina führten zu der planmäßigen Ermordung Tausender Menschen. Einer von ihnen ist der 14-jährige Mirnes Osmanović aus dem kleinen Dorf Zgunja im ostbosnischen Bezirk Srebrenica. Am 13. Juli 1995 wurde er das letzte Mal lebendig gesehen, als er vor den Augen der Blauhelmsoldaten der Vereinten Nationen seiner Mutter entrissen und abgeführt wurde. Erst 14 Jahre später wurden seine Gebeine in einem Massengrab entdeckt.

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INTERVIEW MIT ZUHRA OSMANOVIĆ, DER MUTTER VON MIRNES OSMANOVIĆ

Von: Senada Bratić

” Er sollte am 15. September 15 Jahre alt werden und verschwand am 11. Juli.”

Wir trafen uns mit Zuhra Osmanović, deren 14-jähriger Sohn Mirnes Osmanović ihr am 11. Juli 1995 in Potočari weggenommen wurde. Seine Knochen und Kleider wurden 2011 gefunden. Bis dahin wartete Zuhra auf ihn. Lesen Sie unser Gespräch mit Zuhra Osmanović, die dieses Jahr einen Teil der Gebeine ihres Mannes Azem begräbt.

 

LIEBE ZUHRA, WIE GEHT ES IHNEN?

Ich schlafe nicht, mir geht es nicht gut. Der 11. Juli ist jedes Jahr ein schwieriges Datum, aber nicht nur dieses Datum. Jeder Tag ist hart. Es verlässt mich nie.

 

IST DIESES JAHR DIE BEERDIGUNG DER KNOCHEN IHRES EHEMANNES AZEM?

Ein Teil seiner Knochen wurde 2007 begraben. Nun haben sie weitere Knochen gefunden, die am 19. Juli begraben werden. Die Leute, die am 11. Juli begraben werden … sie alle sind mein Volk, meine Leute. Wir waren zusammen in Srebrenica. Das sind meine Brüder, meine Kinder … sie alle gehören zu mir. Wer auch immer dort gestorben ist. Wir haben drei Jahre Horror überlebt. Wir haben das alles zusammen erlebt.

 

KÖNNEN SIE MIR ETWAS ÜBER IHRE KINDER SAGEN?

Ich hatte zwei Kinder, Mirnes und Mersa. Mirnes wurde mir in Potočari weggenommen. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Wir haben versucht, ihn zu finden, aber niemand hat ihn wiedergesehen. Ich habe Mersa mit nach Tuzla genommen. Wir waren vielleicht drei Monate dort. Dann sind wir nach Österreich gekommen. Wir waren vielleicht einen Monat dort. Ich konnte dort nicht bleiben. Mir ging es damals richtig schlecht. Dann kamen wir nach Deutschland. Wir waren fünf Jahre in Deutschland, in der Hoffnung, dass Mann und Sohn irgendwo lebendig aufgefunden werden aber es kam nie etwas. Dann beschloss ich, nach Amerika zu gehen. 2007 wurde mir mitgeteilt, dass sie die Knochen meines Mannes gefunden hatten. 2011 haben sie die Knochen von Mirnes gefunden. In diesem Jahr wurde er begraben. Einige Knochen fehlten, aber bei Mirnes waren es mehr Knochen als bei meinem Mann Azem. Ich lebe mit diesem Schmerz und diesen Wunden, die nie heilen werden. Wir alle, die das überlebt haben, sind in unserem Schmerz gleich.

 

WIE SAH DER MOMENT AUS, ALS SIE MIRNES DAS LETZTE MAL GESEHEN HABEN?

Ich erinnere mich daran, wie er mir aus den Händen gerissen wurde. Mein Mirnes war 14 anhalb Jahre alt. Er war noch nicht 15. Er sollte am 15. September 15 Jahre alt werden und verschwand am 11. Juli. Das werde ich nie vergessen. Manche Dinge vergisst ein Mensch, aber dies ist ins Gehirn eingebrannt und bleibt immer da. Ich traf Mladić persönlich. Ich fragte ihn auf nette Art und Weise, denn ich hörte Gerüchte, das Männer von Frauen getrennt werden. Mein Kind war männlich, aber kein Soldat, er war nicht groß. Er war ein Kind. Ich habe Mladić persönlich gefragt. So hielt ich Mladićs Hand, ich legte meine Hand auf seine. Ich fragte: „Stimmt es, dass Sie Kinder

 

über 15 nicht auf die andere Seite lassen?“ Er antwortete: „Nein. Wer hat das gesagt? Sie verbreiten Propaganda. Ihr alle könnt gehen. Alijas Bus bringt euch alle ins freie Territorium.“ Er hat nicht gesagt, wohin. Nach weniger als einer halben Stunde wurde mein Kind abgeführt. Ich habe ein Bild von dem Mann, der mein Kind mitgenommen hat. Ich werde es Ihnen zeigen. Ein Tschetnik. Wenn ich Tschetnik sage, muss ich betonen, dass ein serbischer Soldat und ein Tschetnik verschieden sind. Sie sind alle Serben, aber der serbische Soldat trug eine Uniform der Jugoslawischen Volksarmee. Mein Mann diente dieser Armee, wie alle anderen, unabhängig von ihrer Religion. Die Tschetniks hatten lange Bärte, waren schmutzig, unterschiedlich maskiert und sehr grob. Ich habe ihn konfrontiert. Er fragte: „Wie alt ist dieses Kind?“ Ich sagte: „Dreizehn!“ Das sagte ich, um ihn mitnehmen zu können. Mirnes sagte, er sei 15 oder 14 Jahre alt, ich bin mir nicht sicher. Ich weiß, ich habe ein Jahr weniger gesagt. Ich sagte zu ihm: „Ich werde ihn dir nicht geben.“ Ich hielt Mirnes mit einer Hand und Mersa mit der anderen Hand fest. Sie nahmen ihn mir weg. Ich sagte: „Fass ihn nicht an. Mein Kind ist verwundet.“ Er fluchte und benutzte einige Schimpfwörter. Er fragte: „Wer hat ihn verwundet? Wir waren es nicht.“ Ich wollte nicht streiten. Ich wiederholte, dass er verwundet war. Ich bin nach links gegangen, nein, ich verwechsle alles. Ich bin nach rechts gegangen, dorthin. Mirnes wurde auf die andere Seite gezogen und man hat ihn nicht mehr gesehen. Ich erinnere mich gut. Ein serbischer Soldat sagte mir: „Weine nicht.“ Daran erinnere ich mich gut. Er sagte: “Sie geben ihn dir im Austausch.” Ich dachte, sie würden es dann wirklich tun. Ich weiß nichts mehr über ihn. Sie schleppten mich auf einen Lastwagen. Ich kletterte hoch und das war’s. Woran erinnere ich mich noch? Ich sah einige Männer als wir vorbeikamen. Diese Männer waren nackt, viele Männer, aber ich weiß nicht genau wo. Mirnes war nicht dabei.

 

GIBT ES AUFNAHMEN VON DER PERSON, DIE IHREN SOHN MITNAHM?

Ja. Ich habe ein Video und ein Bild von dem Mann, der mein Kind mitgenommen hat. Ich suche ihn und kann ihn nicht finden. Ich kenne seinen Namen nicht. Das Bild erschien auch in einer deutschen Zeitung. Als Matthias Fink, der Autor des Buches, nach BiH kam und ein Video aus Potočari abspielte, sprangen Mersa und ich auf und erkannten den Mann. Wir schrien: „Das ist der Mann, der uns Mirnes weggenommen hat!“ Ich gebe dir das Bild. Ich brauche nur seinen Namen. Ich weiß nur, dass er aus Ilidža kommt. Ich weiß nichts Anderes. Ich würde ihm nichts antun. Ich möchte ihn nur fragen: „Was hast du mit meinem Kind gemacht, wohin hast du ihn gebracht? Du hast ihn genommen. Wo hast du ihn gelassen? Wer hat dir gesagt, dass du ihn nehmen sollst?“ Er hat ihn mir nicht ohne Grund weggenommen. Wahrscheinlich wurde ihm gesagt, er solle das Kind mitnehmen. Ich kann diesem Mann nichts antun. Ich möchte ihn nur bitten, die Wahrheit zu sagen. Mein Mirnes war ein Kind, kein Soldat.

 

WIE ERLEBTEN SIE DAS URTEIL VON RATKO MLADIĆ?

Ich habe alles gelesen, was passiert ist. Ich habe es nicht geschaut, weil ich es nicht ertragen kann, ihn zu sehen, ihn zu hören. Das ist mir zu stressig. Ich bin froh, dass er die Strafe bekommen hat, aber ich kann mich seiner Person nicht stellen, weil er nicht die Wahrheit sagt. Ich konnte ihn nicht ansehen, weil er stolz darauf ist, ein Kriegsverbrecher zu sein. Er hat viele Leute dazu gebracht, ihn zu feiern. Wofür? Weil er gemordet hat? Wenn er jemandem geholfen hätte, wenn er jemanden gerettet hätte, wenn er diese Kinder gerettet hätte, würde ich ihn feiern. Aber die Gerechtigkeit ist ans Licht gekommen, und darauf bin ich stolz. Nicht alle Serben sind schuldig, aber er ist schuldig.

 

DAS BUCH “CHRONOLOGIE EINES VÖLKERMORDS ODER WAS GESCHAH MIT MIRNES OSMANOVIĆ TRÄGT DEN NAMEN IHRES SOHNES. WARUM IST ES WICHTIG, DASS MENSCHEN, INSBESONDERE JUNGE GENERATIONEN, MATTHIAS FINKS BUCH LESEN ODER DAS HÖRBUCH, DAS DIE KAS VORBEREITET HAT, HÖREN?

Wichtig ist, dass das Buch von jungen Leuten aber auch von älteren Leuten gehört oder gelesen wird. Viele Leute werden nicht in die Bibliothek gehen und dieses Buch ausleihen oder kaufen, sondern werden dieses Hörbuch kostenlos anonym anhören. Man muss schreiben. Man muss auch darüber reden, aber dass was gesagt wird ist schnell vergessen. Die Jugendlichen sollten die Fakten kennen, sie sollten die Wahrheit kennen, egal welcher Nationalität sie angehören. Es stimmt, dass mir mein Kind weggenommen wurde. Das ist passiert. Davon zeugt auch der Grabstein in Potočari, Srebrenica. Zeugen sind auch die Knochen, sein Trainingsanzug und ein Turnschuh, die ich sah und in den Händen hielt. Es war ein Völkermord. Ein großes Verbrechen ist passiert. Ich bin stolz, dass das Buch herausgekommen ist, ich bin stolz auf Matthias Fink, ich bin auch stolz auf den Verlag in Sarajevo, der sich bereit erklärt hat, es ins Bosnische zu übersetzen. Ich finde, jeder sollte das Buch lesen oder hören – nicht weil es den Namen meines Kindes trägt. Es wäre gut, wenn mehr Menschen über das Erlebte schreiben, Zeugnis ablegen. Ich möchte nicht, dass so etwas jemandem auf der Welt wieder passiert. Meine Seele schmerzt für all die Menschen, die die Schrecken des Krieges erlebt haben. Ich weiß, wie es ist, ohne Brot, ohne Wasser, ohne Kleider zu sein. Ich habe das alles überlebt. Das haben wir alle in Srebrenica erlebt. Ich dachte, ich würde nie wieder Brot sehen, weder Maisbrot noch Weizenbrot. So war die Situation in Srebrenica. Wir waren wie vor langer Zeit der Urmensch, ohne Wasser, ohne Feuer. Wir gingen in die Nachbarschaft und fragten, ob jemand etwas zum Anzünden für uns hätte, um ein Feuer anzuzünden. Es ist schwer, darüber zu sprechen. Meine Mersa und ich kamen lebend heraus.

 

HABEN SIE DEN FILM “QUO VADIS, AIDA” ANGESCHAUT?

Ich habe ihn nicht gesehen. Ich bin in einem schlechten Gesundheitszustand und meine Tochter sagte mir, es sei besser, ihn nicht zu schauen. Gestern Abend habe ich mir ein Video aus Nezuk angeschaut und glauben Sie mir, alles kam wieder hoch. Ich weiß nicht, ob ich den Film sehen werde, aber ich denke, es ist wichtig, darüber zu sprechen, was in Srebrenica passiert ist. Es tut mir nicht leid zu sterben. Wäre ich doch bloß an der Stelle von Mirnes gestorben. Hätten es doch bloß Mirnes und Mersa beide geschafft in Sicherheit zu gelangen. Ich war bereit zu sterben, als ich seine Knochen in Potočari ins Grab niedergelegt habe – ich wäre für mein Kind gerne gestorben. Aber wegen meiner Tochter werde ich mich nicht in eine Situation bringen, in der ich völlig psychisch krank bin, dass mein Kind und meine Enkel mich in solch einem Zustand sehen müssen. Das will ich nicht. Deshalb vermeide ich vieles. Vor dem Tod habe ich keine Angst.

 

HABEN VIELE MENSCHEN DAS WAS IN SREBRENICA GESCHAH VERGESSEN?

Ich weine, wenn europäische Länder an den Völkermord in Srebrenica erinnern. Die Diaspora in Amerika muss sich mehr beteiligen. 2001 bin ich in Amerika angekommen. Viele unserer Leute in Amerika wollen, dass wir diesem Leiden nur in der Moschee gedenken. Ich bin dafür, dass in der Moschee gedenkt wird, aber ich bin auch dafür, dass die ganze Welt erfährt, was passiert ist. Wo immer jemand an den Völkermord in Srebrenica erinnert hat, war ich dabei. Es ist schwer. Es ist schmerzhaft. Srebrenica ist immer in meinem Kopf. Das kann ich nicht vergessen. Ich kann lachen und mit Leuten reden, aber dieses Bild ist immer da. Er verlässt mich nicht. Alles kommt so leicht zurück. Glauben Sie mir, es gibt Leute aus Banja Luka, die an diesem Tag kommen und sich mir anschließen, und viele meiner Leute aus Srebrenica kommen nicht. Nur in paar Leute aus

 

Srebrenica kamen zu der Veranstaltung in Chicago, von uns allen, die es geschafft haben, wegzukommen. Ich sage, dass alle Leute, die kommen, um den Opfern von Srebrenica zu gedenken, meine Leute sind, unabhängig davon, wer sie sind und woher sie kommen. Seien sie aus Prijedor, aus Mostar, aus Višegrad – das sind meine Leute. Sie kommen und umarmen mich. „Zuhra, wir sind da.“ Ich sage ihnen: „Gott sei Dank, ihr seid Srebrenica.“ Wer kommt, der versteht mich, der ist ein Mensch, der versteht meinen Schmerz. Zumindest glaube ich das. Nur wenige sind davongekommen, aber diejenigen, die es geschafft haben, dürfen nicht vergessen, was passiert ist. Ich bin froh, dass der Völkermord anerkannt wurde, dass eine Resolution verabschiedet wurde. Ich bin stolz auf das, was Montenegro geleistet hat. Ich möchte nur, dass die Leute wissen und verstehen, was passiert ist und dass es falsch war. Es gibt Zeugen und Aufnahmen.

 

WAS WÜRDEN SIE DEN JUNGEN MENSCHEN IN BIH RATEN, NACH ALLEDEM WAS SIE ERLEBT HABEN?

Ich sage allen, sie sollen nicht hassen, sie sollen andere lieben und respektieren und den Völkermord nicht vergessen und niemals zulassen, das jemandem wieder so etwas passiert, egal in welchem Land oder in welcher Stadt. Es ist sehr schmerzhaft und sehr traurig. Sie sollen Verständnis für einander haben und nie vergessen, was in Bosnien und Herzegowina geschah. Sie sollen über die Wahrheit schreiben, denn das ist, was bleibt.

 

DANKE IHNEN. SIE HABEN VIELE VON IHREN TIEFSTEN EMOTIONEN MIT MIR GETEILT. ICH HOFFE, DASS DIES VIELE MENSCHEN ZUM NACHDENKEN ANREGT.

Ich schrieb jeden Bajram auf, den ich ohne meinen Mann und ohne meinen Sohn verbrachte. Ich habe jeden Geburtstag aufgeschrieben. Ich habe am ersten Bajram gewartet, am zweiten, dritten, vierten, fünften … Es sind so viele Jahre vergangen, in denen ich auf sie gewartet habe. Von 1995 bis 2007 habe ich auf sie gewartet. Sie kamen nicht. Dann fanden sie Azem. Danach schrieb ich jeden Bajram und jeden Geburtstag auf, der ohne Mirnes verging. Ich würde Kaffee trinken, an seinem Geburtstag, obwohl er nicht da ist. Danach kam und ging ein neuer Bajram und ich dachte, vielleicht kommt er am nächsten Bajram. Als sie 2011 die Knochen von Mirnes fanden, habe ich damit aufgehört. Es gibt keine Hoffnung mehr. Es ist vorbei. Mein Enkel erinnert mich oft an ihn. Er heißt Din. Ich nenne ihn oft Mirnes. Das ist meine Seele.

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Kontakt

Stephan Georg Raabe

Stefan Georg Raabe

Leiter des Auslandsbüros Bosnien und Herzegowina in Sarajevo

Stephan.Raabe@kas.de +387 33 215 240

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