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Fast ein Jahrzehnt galt Paul Schäfer als einer der meistgesuchten Männer Chiles. Gegen den Gründer und ehemaligen Leiter der so genannten «Colonia Dignidad» im Süden Chiles wurden bereits 1996 in Chile und 1997 in Deutschland Haftbefehle wegen Missbrauchs von Minderjährigen erlassen.
Doch die lange Jagd hat nun ein Ende: Am Donnerstag, den 10. März 2005, wurde Schäfer in einer vornehmen Wohnanlage in Tortuguitas (Argentinien) von der argentinischen Polizei festgenommen.
Die wichtigsten Hinweise zu seiner Ergreifung hatte ein Team der Sendung Contacto des chilenischen Fernsehsenders Canal 13 geliefert, das Schäfer bereits seit Anfang 2004 auf der Spur war. Durch Hinweise verschiedener Informanten war es den Reportern gelungen, den Aufenthaltsort von Schäfers «engstem Kreis» im Ort Chivilcoy in Argentinien zu ermitteln.
In Zusammenarbeit mit Interpol sowie mit chilenischen und argentinischen Behörden wurde die Identität von Peter Schmidt Spinter, Matías Gerlach und Rebeca del Carmen Schäfer festgestellt. Zudem vermuteten die Vermittler, dass es sich bei einem gewissen «Señor Hoffmann», in dessen Begleitung sich die drei Verdächtigen befanden, um Paul Schäfer selbst handelte.
Als die Gruppe auf ihren Besitz in Tortuguitas umsiedelte, blieben ihr Interpol und das Contacto-Team auf den Fersen.
Am vergangenen Donnerstag nahmen die Ermittler Paul Schäfer und mehrere Begleiter schließlich fest. Knapp 72 Stunden später wurde Schäfer als illegaler Immigrant nach Chile abgeschoben, um wegen Missbrauch von Minderjährigen, Verstoß gegen die Menschenrechte, Betrug und Steuerhinterziehung aus seiner Zeit als Vorsteher der «Colonia Dignidad» vor Gericht gestellt zu werden.
Allerdings stand Schäfer schon früher unter dem Vorwurf des Kindesmissbrauchs: Bereits Ende der 40er Jahre wurde der 1921 in Siegburg bei Bonn geborene Deutsche als Jugendpfleger der evangelischen Kirche entlassen, als sich Verdachtsmomente gegen ihn verdichteten.
Schäfer wandte sich daraufhin einer eigenen Auslegung der baptistischen Glaubensrichtung zu: In den 50er Jahren sammelte er zahlreiche Anhänger um sich, denen er unter anderem eine strikte Trennung der «wahren» Gläubigen von allen anderen predigte. 1956 gründete er die «Private Soziale Mission» in Siegburg bei Bonn. Nachdem ihm erneut sexuelle Vergehen an Jungen vorgeworfen wurden, floh Schäfer 1961 mit mehreren hundert Anhängern nach Chile.
400 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago gründete er die «Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad».
Dort baute er eine nach äußerem Anschein «heile Welt» auf. Die Nachbarn waren begeistert von den «hilfsbereiten Deutschen», deren Krankenhaus und Schule auch der Bevölkerung der Region offen stehen.
Im Innern der «Colonia Dignidad» herrschte Schäfer jedoch nach strengen Prinzipien. Männer und Frauen lebten strikt getrennt und praktisch ohne Kontakt zur Außenwelt. Gearbeitet wurde sieben Tage die Woche ohne Bezahlung. Kinder wurden von ihren Eltern getrennt.
Flüchtlinge aus der «Colonia Dignidad» erhoben bereits seit Mitte der 60er Jahre Anklage gegen Schäfer. Dennoch richtete sich erst in den 90er Jahren das Augenmerk der chilenischen Justiz auf die von Schäfer errichtete Enklave. Der «Rettig-Bericht» der chilenischen Regierung von 1991 besagt - ebenso wie der Bericht der Kommission Valech von 2004 - dass in der «Colonia Dignidad» politische Gegner der Militärregierung gefoltert worden seien.
Im Juni 1996 klagt eine Mutter Schäfer wegen Missbrauchs ihres Sohnes an. Sonderermittler Hernán González übernimmt den Fall und erlässt einen Haftbefehl gegen Schäfer. Im folgenden Jahr treten noch weitere Anklagen hinzu. Zu diesem Zeitpunkt ist Schäfer bereits untergetaucht. González erhebt in 27 Fällen Anklage gegen den Flüchtigen. Am 16. November 2004 wird Schäfer in Abwesenheit wegen Missbrauchs von Minderjährigen in 26 Fällen verurteilt.
«Wir hoffen, Schäfer nach so vielen Jahren nun endlich vor Gericht zu stellen», verkündeten Sprecher des Innenministeriums nach der Festnahme des 83-Jährigen.
«Wir sind sehr erleichtert», erklärten auch Sprecher der ehemaligen «Colonia Dignidad», der heutigen Villa Baviera. Auch wenn man Schäfer zu Anfang seiner Flucht verteidigt habe, da man die Anschuldigungen für falsch hielt, sei man doch schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass die «Vorwürfe bestimmt wahr seien», betonte Sprecher Michael Müller. Die Villa Baviera sei zur vollen Unterstützung der Justiz bereit und lehne jegliche Verteidigung Schäfers ab. Seit Schäfers Flucht habe sich die Gemeinschaft unermüdlich darum bemüht, ihre Siedlung zu reorganisieren und sie als freie, offene und transparente Gemeinschaft in die chilenische Gesellschaft zu integrieren, sagte Müller.
«Die deutsche Bundesregierung unterstützt die Opfer, die heute in der Villa Baviera leben, in ihren Anstrengungen, sich eine neue Existenz in Freiheit aufzubauen», betonte auch Bundesaußenminister Fischer.
Jetzt bleibt nur noch abzuwarten, ob Paul Schäfer wirklich für vernehmungsfähig erklärt und vor Gericht gestellt wird.
Erste Befragungen blieben bisher ohne Ergebnis. «Ich kann mich an nichts erinnern», erklärte Schäfer. Nach polizeilichen Quellen wirkte Schäfer jedoch geistig klar und sprach ohne Probleme. Über die Verhandlungsfähigkeit eines der «meistgesuchten Männer Chiles» werden nun psychologische Gutachten entscheiden.