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Wer hätte das gedacht? Erdogan und die AKP verlieren landesweit

Über die Kommunalwahlen in der Türkei

Der Sieg der AKP bei den türkischen Kommunalwahlen galt als sicher. Dann kam es anders. Über den Erfolg der kemalistischen CHP und was er für die Zukunft des Landes bedeutet.

Am 31. März 2024 waren die Bürger der Türkei aufgerufen, ihre Kommunalvertreter zu wählen: Bürgermeister, Stadt- und Provinzräte, die Abgeordneten der Provinzparlamente. Alle Aufmerksamkeit war auf das wirtschaftsstarke Istanbul und die Hauptstadt Ankara gerichtet. 2019 hatte die größte Oppositionspartei CHP beide Städte gewonnen. Nun, 2024, sollten sie zurückerobert werden – von der AK-Partei, unter dem Vorsitz von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

 

Regierung gestärkt, Opposition zerstritten

Die Regierungspartei hatte sich im Vorfeld der Wahlen gute Chancen ausgerechnet, hatte Erdoğan doch bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 sein Amt in einer Stichwahl gegen Kemal Kılıçdaroğlu, den Kandidaten der oppositionellen CHP, erfolgreich verteidigt. Auch bei den damals gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen unterlag das ideologisch breit aufgestellte Oppositionsbündnis. Im Nachgang der Wahlen zerstritt man sich; Kılıçdaroğlu verlor sogar den Parteivorsitz. Der Wechsel an der Parteispitze – fünf Monate vor den Kommunalwahlen – werde der größten Oppositionspartei der Türkei zum Nachteil gereichen – so dachte man zumindest. Die IYI-Partei verzichtete auf einen Wechsel in der Parteiführung. Gründerin und Vorsitzende Meral Akşener erkaufte ihren Verbleib mit einer Welle von Austritten und einem Zustimmungseinbruch. Die pro-kurdische Yeşil Sol Parti (Grün-Links-Partei) änderte ihren Namen in DEM und zeigte wenig Interesse, weiter mit der CHP zu kooperieren. Äußerungen kurdischer Politiker, wonach nur Erdoğan in der Lage sei, einen neuen Friedensprozess zu initiieren, deuteten nicht auf die Bereitschaft hin, strategisch zugunsten der CHP zu votieren. Die seit 2019 erfolgreiche Allianz der türkischen Oppositionsparteien gab es somit nicht mehr. In der Wahl vor fünf Jahren war dieses Bündnis indes Voraussetzung des (Teil-)Erfolgs gewesen: Ein breites, aus der Mitte der türkischen Gesellschaft stammendes Bündnis hatte Istanbul und Ankara gewonnen. In einer erzwungenen Wahlwiederholung hatte die CHP damals ihren Stimmanteil sogar ausgebaut.

Mit welcher Absicht traten die Oppositionsparteien diesmal an? In den Medien hieß es mitunter, man habe die Wahl von vornherein verloren gegeben. Die Parteien seien nur darauf aus, das eigene Profil zu schärfen – für die Präsidentschaftswahl 2028. Die möglicherweise erste Wahl seit Jahrzehnten ohne Erdogan auf dem Wahlzettel.

Ganz anders die AK-Partei: Sie startete siegessicher in den Wahlkampf und gab sich äußerst selbstbewusst. Nur der blasse Auftritt des Istanbuler Kandidaten der AK-Partei, Murat Kurum, trübte das Bild. Sein Mangel an Charisma war ein beliebtes Thema im Wahlkampf. Da half auch die Unterstützung des Präsidenten nicht.

 

Themensetzung und Wahlstrategie

Ein deutlicher Wahlsieg seiner AK-Partei wäre für Erdoğan nicht nur ein gelungener Stimmungstest gewesen. Darüber hinaus wäre das Präsidialsystem gestärkt worden und eine Erneuerung der Verfassung, die ihm eine Amtsfortführung über 2028 hinaus ermöglicht, in greifbare Nähe gerückt. Entsprechend engagiert zeigte sich Erdoğan im Wahlkampf: Mehr als fünfzig Auftritte in allen Teilen des Landes zeugten davon. Eines der zentralen Wahlkampfmotive war seine lautstarke Kritik an Israels Vorgehen in Gaza. Doch die ist ihm möglicherweise zum Verhängnis geworden. Aller präsidialen Empörung zum Trotz sind die Handelsbilanzen beider Länder weitestgehend stabil. Dies hat mitunter dazu geführt, dass treue Wähler der AK Partei dieses Mal ihr Kreuz woanders gemacht haben.

Die Medien waren von der wirtschaftlichen Misere des Landes dominiert: Die Inflation liegt bei 68 Prozent und beutelt die Menschen schwer. Die Mieten explodieren, die Lebensmittelpreise steigen, und die Kaufkraft schwindet.

 

Überraschung am Wahlabend

Schon die ersten Bekanntgaben deuteten jedoch einen Trend an, der sich im Laufe des Abends verstetigen sollte. Damit hatte niemand gerechnet: Ankara und Istanbul konnten nicht nur verteidigt werden, nein, beide CHP-Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt bauten ihren Vorsprung gegenüber ihren Mitbewerbern aus. Mit 60,4 Prozent hatte Mansur Yavaş in Ankara doppelt so viele Stimmen auf sich vereint wie sein AK-Partei-Herausforderer Turgut Altınok. In Istanbul lag Ekrem İmamoğlu mit 51,1 Prozent zehn Prozent vor Murat Kurum. In Istanbul hatten am Ende die traditionell konservativen Bezirke den Ausschlag gegeben. Bezirke, in denen bei vorherigen Wahlen mehrheitlich für die AK-Partei gestimmt worden war.

Doch nicht nur Ankara und Istanbul, auch viele Provinzen, in denen die Wähler seit mehr als zwei Jahrzehnten der AK-Partei treu ergeben waren, gingen an die CHP. Landesweit lag sie mit 37,7 Prozent vor der AK-Partei mit 35,5 Prozent. Die CHP ist seit 1977 erstmals wieder die Partei mit den meisten Stimmen in der Türkei!

Sandro Weltin/ Council of Europe

Warum? Was hat den Ausschlag gegeben?

Anlässlich der Präsidentschaftswahlen 2023 hatte es noch zahlreiche Wahlgeschenke finanzieller Art gegeben. Diesmal nicht. Und so wurden die Rentner Erdoğan und seiner AK-Partei zum Verhängnis. Noch im Januar 2024 hatte man den Mindestlohn um 50 Prozent erhöht –allerdings ohne die Renten in ähnlicher Weise anzupassen. Die Rentner haben an der Wahlurne reagiert.

Hinzu kam eine historisch niedrige Wahlbeteiligung. Im Vorfeld der Wahlen hatten Experten den genau gegenteiligen Effekt vermutet: Eine geringe Beteiligung stärke die AK-Partei, da ihre Wählerschaft für einen Kandidaten stimme, während die Opposition auf Stimmen gegen die Regierungspartei angewiesen sei. Also blieben die AK-Partei-Wähler der Wahl fern, oder sie wählten die YRP, eine islamistische Kleinstpartei, die zunächst der Volksallianz angehörte, sich dann aber vom Regierungsbündnis löste. Am Ende hatte also nicht die Mitte entschieden, es waren die Ränder.

Auch der Wahltermin war aus Sicht der AK-Partei nicht glücklich gewählt. Während Wahlen im Ramadan normalerweise von Vorteil für die religiös-konservativen Parteien sind, war es in diesem Jahr vielen Menschen nicht möglich, das abendliche Fastenbrechen so üppig wie gewohnt zu gestalten. Ihre wirtschaftliche Lage wurde von ihnen als entsprechend schlechter wahrgenommen.

Während sich in den südöstlichen, mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebieten, die DEM behaupten konnte, stimmte die kurdische Wählerschaft in Istanbul für den Amtsinhaber Oberbürgermeister İmamoğlu von der CHP. Das prädestiniert ihn nachgerade als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2028, vermag er es doch offensichtlich, heterogene Bevölkerungsgruppen zusammen zu führen.
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Wie geht es weiter?

Der unerwartete Sieg der Opposition hat eine Reihe ihrer Probleme auf einen Schlag gelöst. Erneut wurde der Beweis erbracht, dass Recep Tayyip Erdoğan keineswegs unbesiegbar ist. Die Gruppe um den neuen CHP-Vorsitzenden Özel hat ihre parteiinterne Position konsolidiert und kann sich nun daranmachen, eine Strategie für die Wahlen 2028 zu entwerfen. Und da die CHP alle acht Provinzen in der wirtschaftlich starken Ägäisregion gewonnen hat, wird sie in den kommenden Jahren auf mehr Ressourcen zurückgreifen können.

Für die AK-Partei könnte es sich als hilfreich erweisen, würde sie sich auf ihre Anfänge besinnen. Anfang der 2000er Jahre wurde sie vornehmlich wegen ihrer wirtschaftlichen Kompetenz gewählt. Gelingt es Erdoğan, das Land aus der gegenwärtigen Finanzkrise zu führen, eröffnet das vielleicht den Weg in eine politisch erfolgreiche Zukunft. Die türkische Wirtschaft hat viel Potential, und es könnte gut sein, dass das Land noch vor 2028 in eine Wachstumsphase eintritt. Und wirtschaftlicher Erfolg kann der AK-Partei wieder Mehrheiten verschaffen. Dass Erdoğan noch einmal antritt, ist nicht wahrscheinlich, aber ausschließen kann man es auch nicht. Er selbst hat gesagt, diese Wahl sei seine letzte. Sollte er es dennoch tun, braucht es entweder vorgezogene Wahlen, was ihm jedoch weniger Zeit für einen wirtschaftlichen Aufschwung ließe. Möglicherweise ändert er aber auch die Verfassung: ein Projekt Erdoğans, das Teil seines Vermächtnisses sein sollte.

Doch dafür hätte er die Kommunalwahlen gewinnen müssen, braucht es doch für eine Verfassungsänderung politisches Kapital jenseits der eigenen Regierungskoalition, das zu akkumulieren ihm diesmal nicht gelungen ist.

Welche Konsequenzen die Ergebnisse der Kommunalwahlen mittelfristig haben werden, ist noch offen. Fest steht: Der Regierung wurde ein Denkzettel verpasst. Die Opposition wittert Morgenluft.

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