Zielsetzungen und Erwartungen
Die Entscheidung der Arabischen Liga (AL), Syrien nach zwölf Jahren Isolation im Mai 2023 wieder in ihrer Mitte aufzunehmen, zog international große Aufmerksamkeit auf sich. Der Schritt war Teil einer Initiative, die von Jordanien konzipiert und dann insbesondere von Saudi-Arabien vorangetrieben wurde.[1] Ihr liegt der Gedanke zugrunde, dass durch die Wiedereinbindung Syriens schrittweise Zugeständnisse Assads erreicht werden können, die Syrien langfristig auf den Weg der politischen Stabilität und des wirtschaftlichen Aufschwungs führen. Syrien ist derzeit in regime-kontrollierte Gebiete (rund 70 Prozent des Territoriums, 50 Prozent der Bevölkerung) und drei De-facto-Kleinstaaten unterteilt. Neben der fragmentierten syrischen Armee sind mindestens fünf ausländische Staaten - Russland, Iran, USA, Türkei und Israel - militärisch im Land aktiv, zudem eine Unzahl Pro- und Anti-Regimemilizen. Damaskus hat keine Kontrolle über den Großteil des syrischen Luftraums und der Grenzen, die vor allem im Norden und Osten von syrischen nichtstaatlichen Akteure und deren ausländischen Unterstützern kontrolliert werden. Mehr als die Hälfte der 21 Millionen Syrer, die vor dem Krieg in Syrien lebten, ist aus der Heimat vertrieben, ein Drittel davon außerhalb des Landes. Die arabische Initiative erklärt, diese zentralen Themen angehen zu wollen: Die territoriale Integrität und Sicherheit, die Rückführung von Geflüchteten, die Freilassung von politischen Gefangenen, die Eindämmung des von Syrien ausgehenden Drogen- und Waffenschmuggels, der wirtschaftliche Wiederaufbau und die Aufhebung der Sanktionen sowie der Abzug aller ausländischen Truppen von syrischem Boden.
Ausgehend von der Türkei gibt es noch einen zweiten, separaten Annäherungsprozess, der zwar international mit weniger Medienrummel einherging, dem die Bevölkerung in Syrien selbst aber weitaus größere Bedeutung beimisst. Dieser hat sich innerhalb des letzten Jahres zwischen Damaskus und Ankara herausgebildet, die die diplomatischen Beziehungen 2011 abbrachen. Ab Ende 2022 und vermehrt vor den türkischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 fanden Drei- und Vierparteiengespräche mit Russland, das schon seit langem auf eine Annäherung drängte, und anschließend mit Russland und dem Iran statt. Durch die militärische Unterstützung von Oppositionsgruppen im Laufe des Syrienkriegs hat die Türkei durchgehend aktiv in den Konflikt eingegriffen und besetzt bis heute von der Türkei selbst als „Schutzzonen“ bezeichnete Gebiete im Norden Syriens entlang der 900 Kilometer langen Grenze. Als Akteur mit „boots on the ground“ in Syrien, Unterstützer der Opposition und Aufnahmeland des größten syrischen Flüchtlingskontingents ist die Türkei somit Teilnehmer und Betroffener gleichermaßen im syrischen Konflikt. Ankara geht es dementsprechend um Stabilität an der Grenze, eine Rückführung von syrischen Flüchtlingen bzw. das Verhindern neuer grenzüberschreitender Flüchtlingswellen und die Eindämmung des kurdischen Einflusses im Nordosten Syriens. Damaskus hat indes die Einstellung jeglicher Unterstützung für Oppositionsgruppen sowie den Abzug aller türkischen Truppen aus dem Norden Syriens zur Vorbedingung für ernsthafte Verhandlungen gemacht.
Perspektiven und Auswirkungen auf nichtstaatliche Akteure
Idlib und Nordsyrien
In Teilen der nordwestlichen syrischen Provinz Idlib und den angrenzenden Gebieten, wo etwa 4,4 Millionen Menschen, darunter 2,8 Millionen Binnenvertriebene seit Jahren unter schwierigsten humanitären Bedingungen leben, protestierten Hunderte gegen die Teilnahme Assads am Liga-Gipfel. „Der Kriminelle Assad repräsentiert Syrien nicht“, heißt es dort sowohl von der Bevölkerung als auch von der De-facto-Regierung, dem sogenannten Syrian Salvation Government (SSG), das von der islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) geführt wird. Die Gruppe, die als Al-Qaida-Ableger entstand, wird von den USA und anderen Ländern als terroristische Organisation eingestuft. Tage vor der Entscheidung zur Wiederaufnahme Syriens in die AL gab die SSG bekannt, mehr Flüchtlinge aus Nachbarländern wie dem Libanon aufnehmen zu wollen.[1] Die Stellungnahme kann angesichts der katastrophalen Versorgungslage in Idlib, die durch das verheerende Erdbeben im Februar nochmals verschlimmert wurde, nur als politische PR und Versuch aufgefasst werden, als legitimer staatlicher Akteur wahrgenommen zu werden. Diese Bemühungen müssen vor dem Hintergrund des von der HTS bereits seit längerem verfolgten Ziels verstanden werden, eigene staatliche Strukturen und Institutionen aufzubauen. Ein gemäßigteres und durch andere Staaten legitimiertes Image soll dabei helfen, von internationalen Terrorlisten gestrichen zu werden.
Für Idlib und HTS wäre die türkisch-syrische Annäherung weitaus heikler. Die Gruppierung verfolgt ihre eigene Agenda, hat zugleich aber auch einen Modus Vivendi mit der Türkei gefunden, die die Organisation als stabilisierende Kraft entlang ihrer Grenzen sieht, die neue Flüchtlingswellen Richtung Türkei abhält.[1] Um die prekäre Stabilität beizubehalten, sind in Idlib außerdem türkische Truppen zur Überwachung des Waffenstillstands stationiert, den die Türkei zusammen mit Russland 2020 zwischen Rebellen und Regimetruppen vermittelte. Im Falle eines Abzugs der türkischen Streitkräfte - etwa im Rahmen eines Übereinkommens mit dem syrischen Regime - ist nicht auszuschließen, dass Damaskus und sein Verbündeter Russland eine groß angelegte Militäroffensive zur Rückeroberung des Gebiets starten würden, der die syrischen Oppositionsgruppen allein nicht standhalten könnten. Hinzu kommt, dass die humanitäre Hauptversorgungslinie der Zivilbevölkerung Idlibs durch die Türkei führt. Das syrische Regime drängt seit Jahren darauf, alle humanitären Hilfsleistungen über Damaskus via „cross-line”[2] anstatt „cross-border” Lieferungen abzuwickeln und versucht mit der Unterstützung Russlands die Bedingungen für die VN-Hilfsleistung nach Idlib zu diktieren.[3] Eine Annäherung zwischen Ankara und Damaskus würde dem Regime dabei weiter in die Hände spielen.
Auch für andere Teile im Norden und Nordwesten Syriens ist und bleibt Ankara Dreh- und Angelpunkt. Lokale Regierungen in Teilen der Provinzen Aleppo, Raqqa und Hasaka stehen unter direkter türkischer Militärverwaltung. Grundlegende Infrastrukturen und Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Bildung und Elektrizität werden aus den benachbarten türkischen Grenzprovinzen bereitgestellt. Außerdem kündigte Erdogan vor den türkischen Wahlen an, bis zu einer Million syrischer Geflüchteter aus der Türkei nach Nordsyrien abschieben zu wollen. Auch die schätzungsweise 30.000 bis 50.000 Mitglieder der dort agierenden sogenannten Syrischen Nationalen Armee (SNA) beziehen ihre Gehälter aus Ankara.[1] Falls diese Gehälter gekürzt oder gar eingestellt werden würden, wäre die Präsenz von zehntausenden Kämpfern mit Waffen, aber ohne Gehälter, fatal für die gesamte Grenzregion und mutmaßlich darüber hinaus.
Kurdisch kontrollierte Gebiete
Ebenso wie HTS in Idlib veröffentlichte auch die kurdisch-geführte sogenannte Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) fast zeitgleich mit der Rückkehr Syriens in die AL eine Initiative zur Aufnahme von syrischen Geflüchteten aus Nachbarstaaten wie dem Libanon.[1] Da die Umsetzung eines solchen Angebots kaum möglich ist, handelt es sich auch hierbei eher um eine Bemühung, durch die arabische Normalisierung mit Assad nicht noch mehr ins politische Abseits zu geraten. Angesichts der prekären Lage und der eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten lautete die offizielle Stellungnahme des Syrischen Demokratischen Rates (SDC), dem politischen Arm der im Nordosten agierenden Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF)[2], dass das erneute Interesse der arabischen Gemeinschaft an Syrien begrüßt und als eine Chance verstanden werde, eine politische Lösung in Zusammenarbeit mit der UN zu finden.[3] Befehlshaber der SDF sollen außerdem das Gespräch mit den VAE gesucht und deren Vermittlung mit dem Assad-Regime erfragt haben, in der Hoffnung, dass die Emirate, als eine der treibenden Kräfte hinter den Normalisierungsbestreben, die syrisch-syrischen Verhandlungen mit neuem Elan wiederbeleben könnten. Die zuvor von Russland vermittelten Gespräche waren 2019 ins Stocken geraten.
Aus kurdischer Sicht ist die Bedrohung, die von der Türkei ausgeht, ohnehin größer als die durch das syrische Regime. Die SDF, die zwischen 100.000 und 150.000 Mann stark ist, könnte der türkischen Armee alleine kaum Widerstand entgegensetzen. Das Fortbestehen des De-facto-Staates ist daher von der Fortführung des fragilen Status quo, der vor allem durch die Präsenz der US-Truppen[1] im Nordosten und deren Unterstützung der SDF aufrechterhalten wird, abhängig. Eine syrisch-türkische Normalisierung wird vor dem Hintergrund eines potenziell rückläufigen Interesses der USA an Syrien als existenzielle Bedrohung angesehen.
Aktuelle Lage und Zukunftsaussichten
Bei aller Aufmerksamkeit, die die regionalen Normalisierungsbemühungen innerhalb Syriens und international erhielten, zeigt eine Zwischenbilanz beider Initiativen, dass sich bisher keine substanziellen Entwicklungen ergeben haben. Dies lässt sich vor allem auf die Festgefahrenheit und den Widerwillen Assads zurückführen, der bisher keinerlei nennenswerte Zugeständnisse an die involvierten Staaten gemacht hat. So konnte das AL-Gremium, das nach Syriens Wiederaufnahme die Durchführung der geplanten Schritt-für-Schritt Initiative beaufsichtigen soll, bei dem Folgegipfel Mitte August keine Fortschritte vermelden. Entsprechend ist eine rasche Abnahme des diplomatischen Momentums zu beobachten, unter anderem ersichtlich an der Entscheidung Riads, die Wiedereröffnung seiner Botschaft in der syrischen Hauptstadt zu verschieben. Darüber hinaus macht Jordanien bei der Eindämmung des grenzüberschreitenden Schmuggels keine wesentlichen Fortschritte und eine geordnete Rückführung von Flüchtlingen etwa aus dem Libanon ist nach wie vor unmöglich. Auch in Syrien hat sich bei Regime und Bevölkerung Ernüchterung breitgemacht. Kaum jemand geht noch davon aus, dass, wie von Assad eingefordert, bald Gelder aus den Golfstaaten in den Wiederaufbau Syriens fließen werden. Daher blicken viele in der syrischen Bevölkerung dreieinhalb Monate nach der AL-Entscheidung mit Desinteresse auf die diplomatischen Entwicklungen; und auch im syrisch-türkischen Verhältnis hat sich nicht viel bewegt. Assad weicht nicht von seiner Forderung des vollständigen militärischen Rückzugs der Türkei aus Nordsyrien ab und auch auf Seiten Ankaras ist nach der Wiederwahl Erdogans die Dringlichkeit einer Annäherung weniger ausgeprägt als zuvor. Unter den derzeitigen Bedingungen ist die unilaterale Aufrechterhaltung des Status quo für die Türkei aus sicherheitspolitischer Sicht am naheliegendsten.
Dabei wäre das syrische Regime dringend auf wirtschaftliche Hilfen – von wem auch immer – angewiesen: die sich verschärfende Wirtschaftskrise und Hyperinflation treiben derzeit eine der größten Protestwellen der letzten Jahre auf die Straßen der südlichen Provinzen des Landes und sogar in traditionell regimetreuen Gebieten gibt es Berichte über eine neu aufkommende Protestbewegung mit mehreren tausend Anhängern, darunter Unterstützer in Armee und Sicherheitsdiensten.[1] Diese Entwicklungen sind Indiz dafür, wie fragil die Lage in Syrien und Assads Fähigkeit zur Machtausübung tatsächlich sind. Das Regime ist nicht willens, die notwendigen Schritte zu gehen, um seine außenpolitische Isolation angesichts regionaler Initiativen zu überwinden, noch ist es bereit oder in der Lage, die Bedürfnisse der Menschen in Regimegebieten, ganz zu schweigen von den anderen Landesteilen, zu befriedigen. Sein Bestand bleibt weiterhin von der militärischen Unterstützung seiner Patrone in Moskau und Teheran abhängig.
[1] Vgl. Ibrahim Hamidi, Al Majalla, “Jordanian Initiative ends with Iran and Hezbollah’s exit from Syria”, Juni 25, 2023.
[2] Vgl. Political Affairs Administration, “Statement on the forced deportation of Syrians in Lebanon”, (Arabisch) Twitter, April 28, 2023.
[3] Vgl. Sam Dagher, “Syrian-Turkish Rapprochement”, Konrad-Adenauer-Stiftung Libanon, Januar 2023.
[4] Bezeichnung aus dem humanitären Sektor für Hilfslieferungen, die von Damaskus in den Nordwesten Syriens fließen.
[5] Erst Mitte Juli 2023 blockierte Russland in den VN eine Verlängerung des bisherigen Hilfsmechanismus. Die Hilfslieferungen wurden daraufhin massiv eingeschränkt. Mitte August stimme Damaskus dann überraschend einer Wiederaufnahme der Lieferungen zu und konnte sich damit als Verhandlungspartner profilieren.
[6] Vgl. Sam Dagher, “Syrian-Turkish Rapprochement”, Konrad-Adenauer-Stiftung Libanon, Januar 2023.
[7] Vgl. AANES Media, “A statement to the media and public opinion”, (Arabisch) April 30, 2023.
[8] Eine von den Kurden dominierte Koalition von Milizen in der AANES und Verbündeter der USA im Kamp gegen den ‘IS’.
[9] Vgl. AANES Media, “Discussing regional and international developments .. The Department of Foreign Relations meets the heads of North and East Syria”, Mai 9, 2023.
[10] Etwa 900 US-Soldaten halten sich im Rahmen einer globalen Koalition gegen den IS im Nordosten Syriens auf. Die syrische Regierung fordert deren Abzug.
[11] Vgl. William Christou, The New Arab, “August 10 Movement’: Who are Syria’s new opposition group linked to protests in Suweida and elsewhere”, August 28, 2023.
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