Am Abend des 19. Mai 2020 traf sich die palästinensische Führung, um über Konsequenzen und weitere Schritte im Umgang mit den angekündigten israelischen Annexionen von Teilen des Westjordanlands zu beraten. Das Treffen brachte die Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) mit den Spitzen der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation, anerkannter außenpolitischer Vertreter der Palästinenser) zusammen. Die getroffenen Entscheidungen sollten dadurch auf einem breiten außen- wie innenpolitischen Fundament beruhen. Durch die Teilnahme von PLO-Vertretern waren auch Parteien anwesend, die nicht der palästinensischen Regierung angehören (u.a. die PFLP, die jedoch das Treffen vorzeitig abbrach). Die Hamas boykottiert die PLO und lehnte das Format daher im Vorhinein als unzulänglich ab.
Das Ende jeglicher Kooperation
Im Nachgang des Treffens verkündete Präsident Abbas in einer Fernsehansprache die Ergebnisse. Dabei wurden drei Aspekte besonders stark betont, die für eine Neuordnung im Konflikt mit Israel sorgen werden:
- Die PLO als anerkannter außenpolitischer Vertreter und die Palästinensische Autonomiebehörde zögen sich aus allen Vereinbarungen und Abkommen mit israelischen und US-amerikanischen Behörden zurück, einschließlich der Sicherheitskooperation.
- Israel als Besatzungsmacht solle in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht die volle Verantwortung über die besetzten Gebiete ausüben.
- Die PLO als außenpolitischer Vertreter werde den Beitritt zu weiteren UN-Organisationen vorantreiben.
Die Aufkündigung jeglicher Abkommen mit Israel kam lediglich zwei Tage nachdem die neue israelische Regierung unter Benjamin Netanyahu vereidigt wurde. In deren Koalitionsvertrag werden Annexionen von Teilen des Westjordanlands ab dem 1. Juli 2020 für möglich erklärt. Auch in der Knesset gibt es für Annexionspläne eine Mehrheit.
Die Entscheidungen der palästinensischen Führung sollen nicht erst mit der offiziellen Verkündung von Annexionen durch Israel, sondern sofort in Kraft treten. Auch wenn unklar bleibt, ob damit eine unmittelbare vollständige Rückgabe der Zuständigkeiten der PA an Israel verbunden ist, sind die palästinensischen Regierungsbehörden angewiesen, alle Kooperationen mit Israel einzustellen. Dies hat eine Reihe von Auswirkungen zur Folge.
Sicherheitsrelevante und wirtschaftliche Auswirkungen
Das Ende der Sicherheitskooperation mit Israel bedeutet nicht die Auflösung der palästinensischen Sicherheitskräfte wie Angehörige der palästinensischen Führung im Nachgang zur Fernsehansprache von Abbas betonten. Zwar sei die Zusammenarbeit mit den israelischen Kräften nun unterbunden, die palästinensischen Sicherheitsbehörden werden aber weiterhin für Ordnung in den palästinensischen A-Gebieten sorgen und auch Angriffe gegen israelische Ziele verhindern. Die ersten Tage nach der Verkündung scheinen dies zu bestätigen. Die weitere Entwicklung der Situation hänge laut Palästinenserführung nun maßgeblich davon ab, wie Israel mit den Annexionsplänen verfahre. Die Möglichkeit zu einem Notfallkontakt werde dennoch weiterhin bestehen, gerade auch mit Blick auf die Corona-Pandemie. Diese verlief vergleichsweise glimpflich, auch weil beide Seiten schnell, umfassend und gemeinsam reagierten.
Die angekündigten Maßnahmen könnten den Konflikt auch innenpolitisch bedeutend verändern. Die Sicherheitskooperation wurde von Präsident Abbas stets als unantastbar bezeichnet, obgleich innerhalb der palästinensischen Bevölkerung eine Vielzahl an Vorbehalten gegen diese bestand. So wurde die Kooperation nicht nur zielgerichtet zur Abwehr von Terrorismus eingesetzt, sondern diente auch dem Machterhalt der Fatah gegenüber der Hamas. Das Ende der Sicherheitskooperation offenbart somit nicht nur eine Drohung gegenüber Israel – wobei Präsident Abbas in seiner Ansprache jegliche terroristische Aktivitäten verurteilte – sie verkörpert zugleich die Ausweglosigkeit der palästinensischen Führung, die damit ihren letzten vermeintlichen Trumpf ausspielt.
Infolge der von US-Präsident Donald Trump veranlassten Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem und seines umstrittenen Nahost-Plans sowie des fortschreitenden Siedlungsausbaus hatte die palästinensische Führung mitunter verhalten reagiert und so die Ohnmacht ihrer beschränkten Handlungsfähigkeit offenbart. Bereits nach der Botschaftsverlegung wurde ein PLO-Beschluss verfasst, der das Ende der Kooperationen mit Israel und den USA ausrief. Daraufhin folgten jedoch nur vereinzelte Einschränkungen. Der Druck durch die palästinensische Bevölkerung ist jedoch in den letzten Monaten enorm gestiegen. Nun scheint man auf palästinensischer Seite gewillt, konsequenter zu handeln.
Das Aufkündigen aller Abkommen mit Israel wird zudem die palästinensische Wirtschaft inmitten der Corona-Pandemie in die Rezession stürzen. Durch die Bestimmungen des Pariser Protokolls von 1994 gab es bei verschiedenen Handels- und Wirtschaftsprojekten eine ertragreiche Zusammenarbeit. Wie damit weiter umgegangen wird, bleibt auch einige Tage nach den Ankündigungen unklar. Premierminister Mohammad Shtayyeh ergänzte lediglich, dass separat Lösungen gefunden werden sollen. Für die israelische Seite wiederum dürfte ein Ende der Kooperation hinsichtlich der Tätigkeit von ca. 200.000 günstigen palästinensischen Arbeitern schmerzhaft sein. Eine Eingliederung dieser Arbeitskräfte in den palästinensischen Arbeitsmarkt wiederum ist nicht darstellbar. Die wirtschaftliche Abwärtsspirale im Westjordanland würde sich dadurch weiter beschleunigen. Letztlich stünde ohne Gegenmaßnahmen eine schwerwiegende wirtschaftliche Depression bevor, mit all seinen negativen sozialen Auswirkungen. Die Abhängigkeit von internationaler Unterstützung dürfte beträchtlich steigen. Eine humanitäre Katastrophe ähnlich dem Gaza-Streifen könnte die Folge sein.
Auswirkungen auf den Gaza-Streifen
Die Reaktion der „Straße“ dürfte im Westjordanland auf (gewalttätige) Einzelaktionen und zivilen Ungehorsam hinauslaufen. Die Zersplitterung des Westjordanlands lässt einen geschlossen geführten Aufstand nicht zu. Seit der zweiten Intifada (2000 bis 2005) hat Israel die Besatzung weiter militarisiert. Der Bau der Sperranlagen, hunderte mobile und befestigte Checkpoints und nachrichtendienstliche Aktivitäten würden flächendeckende Unruhen wohl im Keim ersticken. Die Reaktionen aus dem Gaza-Streifen hingegen könnten massiv ausfallen, sodass die Gewaltspirale mit Raketenbeschuss extremistischer Kräfte und Bombardements der israelischen Streitkräfte erneut zahlreiche Opfer fordern könnte. Die humanitäre Katastrophe im Gaza-Streifen würde sich dadurch weiter verschlimmern, auch angesichts einer weiter grassierenden globalen Pandemie.
Im Gegensatz zu den Gebieten im Westjordanland wird die von Präsident Abbas verkündete Entscheidung keine administrativen Auswirkungen auf den Gaza-Streifen haben. Die dort regierende Hamas war nicht an den Beratungen beteiligt, obgleich sie die Richtung der verkündeten Entscheidungen, nämlich das Ende der Kooperationen mit Israel, bereits im Vorfeld begrüßte. Anders als möglicherweise im Westjordanland wird die Regierung im Gaza-Streifen aber keine Verantwortung zurück an Israel übergeben. Die Hamas könnte aus dieser Situation als einer der Gewinner hervorgehen. Rufe nach einer geschlossenen palästinensischen Führung, somit einer Aussöhnung zwischen Fatah und Hamas, sind in der palästinensischen Debatte unverkennbar vorhanden. Die Differenzen der palästinensischen Politik werden in der Bevölkerung oftmals als Hemmnis für eine zielgerichtete Strategie angesehen. Die Hamas würde bei konsequenter Rückgabe der Zuständigkeiten der PA im Gegensatz zur Fatah über Regierungsverantwortung verfügen und könnte sich dadurch profilieren.
Die Notwendigkeit einer neuen Friedenskonferenz
Mit großer Sorge wiesen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten immer wieder auf die Gefahren eines Scheiterns des Nahost-Friedensprozesses hin. Die Europäische Union hat dabei auch stets die völkerrechtliche Unrechtmäßigkeit von unilateralen Annexionen betont, nicht nur im Kontext des Nahostkonflikts. Zudem wurde Israels Siedlungsausbau im Westjordanland mehrfach deutlich kritisiert. Konsequenzen folgten jedoch bislang kaum, auch weil die notwendige Einstimmigkeit der EU-Mitgliedstaaten die Entscheidungsfindung erschwert. Die EU befindet sich dabei in einer schwierigen Lage, muss sie einerseits den besonderen Beziehungen zu Israel Rechnung tragen und andererseits dem Völkerrecht verpflichtet sein, auf dessen Grundlagen eine Zwei-Staaten-Lösung realisiert werden soll. Noch am Tag der Entscheidung der palästinensischen Führung betonte die deutsche Regierung im Rahmen des Deutsch-Palästinensischen Lenkungsausschuss die Unterstützung für eine derartige Zwei-Staaten-Lösung.
Der Oslo-Friedensprozess, der diese Zwei-Staaten-Lösung eigentlich realisieren sollte, ist nun jedoch an seinem Ende angekommen. Die ursprünglich zeitlich beschränkte Aufteilung des Westjordanlands erreichte im Laufe eines Vierteljahrhunderts eine Ein-Staaten-Realität, in der Israel die Handlungsspielräume der Palästinenser weitgehend bestimmte. Im Zuge der Verhandlungen einigten sich die israelischen und palästinensischen Führungen 1993 auf eine Aufteilung des Westjordanlands in drei Gebiete: C-Gebiete machen ca. 62 Prozent des Westjordanlands aus und stehen unter vollständiger israelischer Administration, A-Gebiete (ca. 18%) werden von der Palästinensischen Autonomiebehörde kontrolliert und umfassen hauptsächlich die bevölkerungsreichen palästinensischen Städte und B-Gebiete (ca. 20%) werden gemeinsam von israelischen Sicherheits- und palästinensischen Zivilbehörden verwaltet. Am Ende weiterer geplanter Verhandlungen sollte ein eigenständiger palästinensischer Staat entstehen. Die Oslo-Bestimmungen wurden zwar implementiert, die daran angeknüpften Gespräche und ein schrittweiser Rückzug der israelischen Streitkräfte jedoch nie realisiert. Dieses Provisorium ist nun – jedenfalls seitens der Palästinenserführung – für beendet erklärt.
Die palästinensische Führung hat es in dieser Zeit maßgeblich versäumt, eine tragfähige Strategie zur Etablierung eines eigenen Staates entwickeln zu können. Um unter anderem diesen strategischen Fehler zu kaschieren, greift die palästinensische Führung nun zum äußersten Mittel und verschiebt die Konfliktlage in eine neue Dimension, deren Auswirkungen größtenteils Hoffnungslosigkeit verbreiten werden.
Lediglich eine internationale Friedenskonferenz mit glaubwürdigen und verlässlichen Vermittlern scheint einen diplomatischen Ausweg aufzuzeigen. Die palästinensische Führung strebt eine derartige neue Friedensinitiative an. Diese soll auf UN-Resolutionen basieren und könnte Punkte der Arabischen Friedensinitiative von 2002 aufgreifen. Die USA werden die ihnen oft zugesprochene Vermittlerrolle nicht mehr erfüllen können oder wollen. Die EU dagegen ist nun gefordert, Initiative zu ergreifen und auf beide Seiten einzuwirken – sei es allein oder im Rahmen des Nahost-Quartetts (EU, Russland, USA, Vereinte Nationen). Denn ohne eine internationale Friedenskonferenz werden die radikalen Kräfte auf beiden Konfliktseiten gestärkt. Sollte eine internationale Friedensinitiative nicht gelingen, könnte sich in der Nachbarschaft der EU eine Destabilisierung anbahnen, deren Auswirkungen durch regionale Konflikte, Terrorismus und Migrationsbewegungen auch in Europa zu spüren wären.Bereitgestellt von
Auslandsbüro Palästinensische Gebiete
Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist in rund 110 Ländern auf fünf Kontinenten mit einem eigenen Büro vertreten. Die Auslandsmitarbeiter vor Ort können aus erster Hand über aktuelle Ereignisse und langfristige Entwicklungen in ihrem Einsatzland berichten. In den "Länderberichten" bieten sie den Nutzern der Webseite der Konrad-Adenauer-Stiftung exklusiv Analysen, Hintergrundinformationen und Einschätzungen.
Bitte melden Sie sich an, um kommentieren zu können.