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Islamismus als politische Ideologie

Eine kurze ideengeschichtliche und theoretische Einordnung

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Mit al-Qaida und dem Islamischen Staat (IS) hat der Islamismus seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Es ist offen, ob der Sieg der Taliban in Afghanistan 2021 hier weitere Dynamiken freisetzen wird. Dabei war und ist das wichtigste Merkmal des Islamismus, dass er den traditionalen Islam in Konfrontation mit der Moderne „reaktionär zu revolutionieren“, das heißt politisch zu radikalisieren und zu ideologisieren versucht. Insofern ist der Islamismus enger definiert als ein traditionaler Fundamentalismus, wie er zum Beispiel in esoterischen, zumeist kleineren Gruppen oder auch in stärker sozialen, beispielsweise familiären oder Stammeskontexten, zu beobachten ist. Es geht um mehr als den (nicht unproblematischen) Versuch, auf eine „quietistische“ oder relativ entpolitisierte Weise mit der Moderne fertigzuwerden. Erst wenn ausdrücklich ein Umsturz „nicht-islamischer“ Staats- und Rechtsordnung(en) eingefordert wird, kann von einer islamistischen Erscheinungsform die Rede sein.

Die übergeordnete Vision, die dabei realisiert werden soll, ist eine utopisch rückwärtsgewandte Vorstellung eines glorreichen „Ur-Islam“. Diesen gilt es als homogenisierendes, integrierendes und mobilisierendes Moment von Gesellschaft und als Richtschnur für alle gesellschaftlichen Subsysteme, inklusive Recht und Wirtschaft, „wieder“ durchzusetzen. Dass der revolutionäre Kampf insoweit mit einem reaktionären Radikalismus verknüpft wird, ändert nichts daran, dass das politisch revolutionäre, insofern „moderne“, in gewisser Weise also „unislamische“ Element entscheidend ist, um den Islamismus zu bestimmen. Folgerichtig scheuen sich Islamisten auch nicht vor der Nutzung moderner technischer Mittel, Propaganda und Tatpropaganda. Am Ende gehorchen sie wie alle modernen Revolutionäre einem weltimmanenten politischen Missionsbewusstsein, das durch radikale Systemwechsel hin zu neuen (hier: islamischen) Ordnungen befriedigt gehört.

Revolutionär meint dabei nicht direkt im physischen Sinne „gewalttätig“, sondern ist als Sammelbegriff für systemumwälzende Absichten zu verstehen, die hier das Ziel verfolgen, islamische Herrschafts-, Rechts- und Ordnungsprinzipien zumindest „staatlich“ (womöglich auch „global“) zu institutionalisieren. Dies kann auch „legalistisch“, das heißt unter subversiver Ausnutzung demokratischer Institutionen (Wahlen, Parlamente) oder karitativer, medialer, sozialer, kultureller oder gesellschaftlicher Engagements verfolgt werden. Im Falle der sunnitischen „Urform“ des Islamismus im 19. Jahrhundert, der Salafiya – einer Reformbewegung, die den Islam nach der puristischen Lehre Abd al-Wahhabs (1703–1792) in der Moderne zu erneuern versuchte – wurde das revolutionäre Element sogar rein „geistig“ ausbuchstabiert; am Ende freilich auch hier mit dem Ziel, den „wahren“ globalen Überlegenheitsanspruch des Islam unter Beweis zu stellen.

Intellektuell wurde der sunnitische Islamismus im 20. Jahrhundert von Sayyid Abul Ala Maududi, Begründer der pakistanischen Jamaat-e-Islami, Hasan Al-Banna, Gründungsfigur der antikolonialistisch und sozialrevolutionär durchwirkten ägyptischen Muslimbrüderschaft sowie Sayyid Qutb, der dem Islamismus eine globale Dimension verlieh und deutlich Gewalt als Mittel des ideologischen Kampfes propagierte, weiterentwickelt. Vom dschihadistischen Islamismus ist im Unterschied zum legalistischen die Rede, wenn staatliche oder terroristische Gewalt gegen innere wie äußere Feinde angewandt wird. Ganz in dieser dschihadistischen Logik bewegt sich der IS, der in seinem Gründungsmanifest (2007) stärker an einem regional fokussierten, kriegerischen Kalifats- und Staatsmythos anknüpft. Auf schiitischer Seite wiederum hat die Konfrontation Persiens mit dem westlichen Konstitutionalismus am Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer theokratisch-klerikalen Gegenbewegung geführt (Maschrueh-Bewegung). In deren Tradition lassen sich ein „antiimperialistisch“ betonter pan-schiitischer Islamismus in Person des asketischen Ajatollahs Ruhollah Musawi Chomeini sowie die  iranische Revolution von 1979 verorten.

Das revolutionäre Moment des Islamismus kommt indes am deutlichsten in den Schriften von Qutb zum Tragen, der den Koranbegriff der jahiliyya (Welt der „Ungläubigen“) de-historisiert und universalisiert, indem er die „wahren“ Muslime in einem „erlösenden“ globalen Kampf mit dem Satan wähnt, in welchem letztlich der Islam als überlegenes und glorifiziertes Kampfkollektiv gewinnt. Die Aufhebung der Transzendenz wird in der nicht hinterfragten Reduktion der menschlichen Geschichte auf den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse deutlich, in dessen Verlauf das Böse, welches Qutb in der jahiliyya verortet, notwendigerweise vernichtet werden muss. Die Überzeugung der Selbstmordattentäter ist zudem, durch die „Opferung“ ihres eigenen Lebens an der apokalyptischen Einleitung der Errichtung der islamischen Weltherrschaft selbst teilzuhaben, wobei sie als „Heilige Kämpfer“ folgerichtig materiell entlohnt werden. Jede Symbolik eines Spannungsverhältnisses zwischen Zeit und Ewigkeit wird so aufgelöst. Radikal zu Ende gedacht kann der Islamismus insofern als neototalitäre Ersatzreligion gelten.

Dies kommt auch beim IS ziemlich unverdeckt zum Vorschein. Zwar lässt er im Unterschied zu Qutb und al-Qaida keine weltrevolutionäre Agenda erkennen, doch verlegt auch er die höchste Wirklichkeitsform implizit ins Diesseits beziehungsweise vermischt weltliche und religiöse Vorstellungen bis zur völligen Unkenntlichkeit miteinander. Zum Beispiel, indem er die vermeintliche Überlegenheit des Islam bei gleichzeitiger Legitimation staatlicher Diskriminierung oder gar Vernichtung all derjenigen, die nicht muslimischen (sunnitischen) Glaubens sind, betont oder die Errichtung des Gottesstaates zur primären Berufung der Muslime und Musliminnen macht oder ein legitimes Recht des waffenstärksten Bewerbers auf die Führungsposition im Falle des angestrebten sunnitischen Kalifats vertritt oder einem extrem agonalen und brutalen Verständnis von (Staats-)Terrorismus anhängt.

All dies wirft die Frage nach der Relevanz des transzendenten Gottesbezugs im Islamismus auf, denn schließlich wird der spirituelle Kampf des einzelnen Gläubigen und der einzelnen Gläubigen um Gottgefälligkeit zu einem rein irdischen Kampf zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen degradiert, was den Islam auf die Stufe eines Materialismus herabsinken lässt, indem die physische Stärke als entscheidendes Merkmal der eigenen – bewusst martialisch und brutal demonstrierten – Überlegenheit inszeniert wird. Der Kampf wird mittelbar „vergottet“. Dies tritt im Falle des IS sogar noch brutaler zutage als bei al-Qaida. Zusammenfassend lässt sich von einer Entleerung traditionaler Religionsinhalte sprechen, zumindest wie wir sie im christlichen Kontext kennen.

Eine entscheidende Frage am Ende lautet, ob die Immunität des Christentums als „Geistreligion“ gegen totalitäre Ideologien auch auf einen traditional zu verstehenden Islam übertragbar ist. Nach islamistischer Lesart lassen sich Politik und Religion nie auch nur ansatzweise dissoziieren, was wiederum aus dem Anspruch des Korans, Anleitung auch für das politische Leben zu sein, gefolgert wird. Entscheidend für die Zukunft des Islam wird sein, ob er sich von solchen Vorstellungen wird lösen können.

 

PD Dr. Lazaros Miliopoulos

 

Lesetipps:

  • Erik Fritzsche/Sebastian Lange, Das Politische System des Islamischen Staates, in: Totalitarismus und Demokratie, 14 (2), 2017, S. 201–232.
  • Hendrik Hansen/Peter Kainz, Radical Islamism and Totalitarian Ideology, in: Totalitarian Movements and Political Religions Bd. 8 (1), 2007, S. 55–76.
  • Armin Pfahl-Traughber, Ist der Islamismus bzw. Salafismus eine Form des totalitären Denkens? Eine ideologiekritische Analyse von Klassikerpositionen, in: Totalitarismus und Demokratie Bd. 11 (1), 2014, S. 49–71.
  • Barbara Zehnpfennig, Das Weltbild von Sayyid Qutb, in: Gerhard Hirscher/Eckhard Jesse (Hrsg.), Extremismus in Deutschland, Baden-Baden 2013, S. 327–345.

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